Das Kundenmagazin von Ramstein Optik — 2024

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Wir feiern125 Jahre!

Sichtbar

Das Jubiläumsmagazin von Ramstein Optik

Persönliches und Unerwartetes von 25 Persönlichkeiten

Christoph R. Ramstein  Hanna Girard  Marc Krebs

Stefan von Bartha  Norina  Pierre de Meuron  Viviane Chassot

Daniel Fernandes 

Elena Filipovic 

Lukas Stäuble 

Jacqueline Loekito 

Roberto Giobbi

Barbara Jenzer  Sonja Schöpfer 

Renée Levi

Hendrik P. N. Scholl  La Nefera Niels Fischer Demuth

Franz-Xaver Leonhardt  Sven Götti  Maike Cruse 

Danielle Bürgin

Harald Hammel  Stephan Werthmüller  Massimo Rocchi

Ramstein Optik #15 2024
25 CARTES BLANCHES IMPRESSUM COPYRIGHTS Herausgeberin Ramstein Optik Sattelgasse 4 4051 Basel ramstein-optik.ch Sämtliche Inhalte (Texte, Bilder etc.) stehen im Eigentum von Ramstein Optik in Basel oder im Eigentum seiner Lizenzgeber. Es ist nicht erlaubt, diese ohne ausdrückliche Zustimmung von RamAndreas Bichweiler 3 Christoph R. Ramstein 4 Hanna Girard 4 Marc Krebs 5 Stefan von Bartha 6 Norina 7 PIERRE DE MEURON 8 Viviane Chassot 12 Daniel Fernandes 13 Jacqueline Loekito 14 Roberto Giobbi 15 ELENA FILIPOVIC 16 Barbara Jenzer 20 Auflage 51 000 Exemplare Druck und Produktion Steudler Press, Basel Illustrationen Patrizia Stalder, Basel patriziastalder.ch Korrektorat Rosmarie Anzenberger, Basel Konzeption und Realisation Ramstein Optik 2024 stein Optik zu nutzen oder Dritten Rechte an der Nutzung derselben einzuräumen. Als Nutzungen gelten insbesondere das Ändern, Anbieten, Lizenzieren, Veräussern, Verbreiten,
Herstellen, Übertragen
Hand. Sonja Schöpfer 21 Renée Levi 22 Lukas Stäuble 23 HENDRIK P. N. SCHOLL 24 La Nefera 26 Niels Fischer Demuth 27 Franz-Xaver Leonhardt 28 Sven Götti 29 MAIKE CRUSE 30 Danielle Bürgin 32 Harald Hammel 33 Stephan Werthmüller 34 Massimo Rocchi 35
Veröffentlichen, Vervielfältigen, Vermieten, Versenden und Wahrnehmbarmachen derselben, sowie das
und Verkaufen von Werken zweiter

DER MENSCH IM FOKUS

In der aktuellen Ausgabe von «Sichtbar» brechen wir mit Traditionen und rücken das Wesentliche in den Fokus: die Menschen. Dieses Jahr wird die Firma Ramstein Optik 125 Jahre alt. Zur Feier dieses aussergewöhnlichen Jubiläums präsentieren wir hier zwei Dutzend individuelle Geschichten von Bekannten und weniger Bekannten. Entdecken Sie Persönliches, Erstaunliches – und Unerwartetes.

Unsere neueste Ausgabe der Kundenzeitschrift «Sichtbar» ist dieses Mal eher ein «Lesbar». Ein augenfälliger Unterschied zu denjenigen der vergangenen Jahre, in denen Geschichten und Fotoreportagen über Ramstein den Inhalt dominierten.

Dieses Jahr haben wir etwas Seltenes zu feiern: Seit 125 Jahren sind wir das grosse Basler Optikergeschäft, immer da, engagiert, motiviert. Darauf sind wir stolz.

125 Jahre für unsere Kundinnen und Kunden! In all dieser langen Zeit haben wir optimale Beratung, tolle Produkte und perfekten Service angestrebt – und Sie dürfen darauf zählen, dass wir dies auch in Zukunft tun werden.

ANDREAS BICHWEILER

Für die Mitarbeitenden von Ramstein ist dieses Jubiläum von zusätzlicher Bedeutung: Jede und jeder hat dazu beigetragen, das Unternehmen zu dem zu machen, was es heute ist – selbst in schwierigen Zeiten. Dank ihrem Einsatz ist Ramstein zu einem Synonym für Qualität, Engagement und Innovation in der Welt der Augenoptik geworden. Daher feiern wir nicht nur 125 Jahre, sondern die Menschen, die mit Leidenschaft und Einsatz dieses Jubiläum erst möglich gemacht haben.

Persönlich empfinde ich tiefe Dankbarkeit, dass ich über viele Jahre an der Geschichte von Ramstein mitwirken durfte. Für mich war und ist Augenoptiker mein Traumberuf. Der tägliche Kontakt mit faszinierenden Menschen, das Kennenlernen verschiedenster Persönlichkeiten – aus vielen anfänglich fachlichen Beziehungen sind wahre Freundschaften entstanden. Dies inspirierte mich dazu, einige von ihnen um Beiträge für die aktuelle Ausgabe von «Sichtbar» zu bitten.

Im Jubiläumsjahr rücken die unterschiedlichsten Menschen ins Zentrum unseres Magazins, Menschen, die Geschichten erzählen und ihre Gedanken beitragen. Daher haben wir 25 Persönlichkeiten eingeladen, für uns etwas zu schreiben: mit Carte blanche, ohne übergeordnetes Motiv und ohne zwingenden Bezug zu Ramstein Optik oder zum Thema Sehen. «Schreiben Sie uns, was Sie bewegt, Ihre Einsichten, Ansichten oder Aussichten», so lautete die Einladung.

Das Ergebnis sind 25 facettenreiche Texte von Bekannten und weniger Bekannten, jeder mit persönlichen Aspekten, manche überraschend. Erleben Sie es selbst!

Immer stärker empfinde ich solche menschlichen Interaktionen als die Essenz einer lebenswerten Zukunft.

ANDREAS BICHWEILER ist 1975 als Lehrling bei Ramstein eingetreten. Nach der Meisterprüfung und etlichen Wanderjahren kehrte er 1987 zu Ramstein zurück und hat 1989 die Firma übernommen.

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R.

GESCHICHTE UND GESCHICHTEN ZU RAMSTEIN OPTIK

Andi Bichweiler lässt Ramstein Optik jubilieren. Als Spross in vierter Generation der Optiker-Familie Ramstein freut es mich, auch wenn das Geschäft nicht mehr in unserer Familie ist. Es wurde 1989 von Rolf und Walter Ramstein, meinem Vater und Onkel, dem ehemaligen Lehrling Andi Bichweiler anvertraut. Andi hat das Traditionshaus zu neuen Ufern geführt und in Basels Alltag verankert.

Carl Ramstein aus Muttenz lernte in den 1880er-Jahren beim Optiker Heinrich Strübin & Cie. an der Gerbergasse Präzisionsoptik und Brillenglasschleiferei. 1899 gründete er mit Wilhelm Schultheiss an der Greifengasse 10 das optische Institut Ramstein & Schultheiss. 1909 eröffnete er ein Fachgeschäft für Brillen an der Eisengasse 34, in das Sohn Max nach erfolgter Weiterbildung in London 1913 eintrat. 1919 konnte Max mit seiner Frau Emilia und Louis Iberg das Geschäft an der Eisengasse übernehmen. Es entstand Ramstein Iberg & Cie. Mithilfe ihres Vaters, eines Direktors in der Textilindustrie, brachte Emilia Kapital ein, wurde Kommanditärin und übernahm die kaufmännische Leitung. 1940 konnte ein grosszügiges Ladenlokal mit breitem Schaufenster neben dem Rathaus am Marktplatz 11 gemietet werden. Der Kundenstamm wuchs, das Geschäft florierte.

Der gesellige Max betreute im Laden die Kundschaft, pflegte das Vereinsleben und warb Neukunden. Louis Iberg führte die Werkstatt. Die gewissenhafte Emilia hatte Administration sowie Finanzen im Griff und besorgte den Haushalt am Gemsberg, später an der Stadthausgasse. In der Regel schloss Max abends die Ladentür und ging zum Apéro an einen Stammtisch oder an eine Vereinsversammlung, während Emilia «die Kasse machte» und anschliessend der Familie mit den zwei Buben Walter und Rolf das Abendessen zubereitete. Eines Abends klagte Max seiner Emilia, dass ihm die Basler Optiker an der Jahresversammlung wegen der vielen Vereinsmitgliedschaften unlauteren Wettbewerb vorwarfen; schmunzelnd fügte er an, dass er vor zwei Tagen dem Feuerbestattungsverein beigetreten sei.

1948 werden Walter und Rolf, Optiker in dritter Generation, Kommanditisten. In den Fünfzigerjahren betrat ein junger Mann den Laden am Marktplatz, verlangte den Chef und meinte: «Das Schaufenster gefällt mir; ich will es dekorieren.» Auf die Argumente, man habe einen Dekorateur und benötige keine Hilfe, sowie auf die Frage nach den Kosten kam die Antwort: «Ich kann eine Zahl nennen, die haut Sie um, oder auch nichts verlangen. Lassen Sie mich machen!» Jean Tinguely gestaltete für einige Jahre viel beachtete, grandiose Schaufenster.

Mein Grossvater Max hatte im Geschäft sein «Chef»-Pult und einen in der Höhe verstellbaren Coiffeurstuhl. Besuchte ich als Kind den Laden, winkte er mich zu sich, zog die unterste Schublade seines Pults auf – dabei rutschte der Hemdsärmel hoch und am Handgelenk blitzte seine Uhr mit Goldarmband – und gab mir ein Caramel-Bouchée. Dann ging’s auf dem Coiffeurstuhl rauf und runter. Erinnerungen, die präsent sind, wenn ich heute Max’ Golduhr trage.

1966 zog Ramstein Optik in die eigene Liegenschaft mit modernem Laden an der Sattelgasse 4. Die ganze Familie half beim Umzug. 1987 wurde die Kollektiv- in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Nachdem mein Bruder Gaudenz, Optiker in vierter Generation, das Geschäft nicht übernahm, verkauften Walter und Rolf Ramstein 1989 an Andi Bichweiler. Sein Engagement als Unternehmer, seine Zuversicht, seine sprudelnden Ideen, die viel beachtete Wer-

bung und der gute Service liessen Ramstein Optik weiterwachsen und zum festen Bestandteil der Stadt Basel werden. Das bereitet Freude und verdient Anerkennung.

Nun blickt Andi auf seine eigene Geschichte mit Ramstein Optik und übergibt der nächsten Generation. Herzliche Gratulation, und weiter so mit viel Spass und Erfolg!

CHRISTOPH R. RAMSTEIN Nachkomme der Optikerfamilie Ramstein, Wirtschaftsanwalt in Zürich, lebt in Lenzburg.

HANNA GIRARD EINE LIEBESERKLÄRUNG

Wenn ich am Morgen notfallmässig in Arnolds Avia-Tankstelle Milch kaufe, trinkt Hans-Jörg schon seinen Kaffee. Er sitzt am liebsten draussen: blickt über den Kannenfeldplatz, liest Zeitung, hat die Gehstöcke an die Scheibe gelehnt. Meistens spricht er mit einem der türkischen Grossväter, die dort Schach spielen. Manchmal spricht er aber auch mit dem ehemaligen Wirt des Sommerecks. 2011 hat meine Schulklasse in seinem

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Restaurant einen Krimi gedreht. Einen schlechten. Hans-Jörg schreibt richtig gute. Dass er ein berühmter Schriftsteller ist, interessiert hier niemanden. Und auch Arnolds frühere Boxkarriere interessiert nur dann, wenn das Kamerateam des Lokalsenders ihn besucht, um das neue Leben der früher stadtbekannten «Kobra»festzuhalten.

Vor der Avia-Tankstelle ist die letzten Jahre immer eine junge Frau gesessen. Sie hat sehr blaue Augen und sehr dunkles Haar, sass jeweils auf einem Paket aus Jacken, Pullovern und Schlafsäcken da, einen Papierbecher vor sich. Sie kommt aus Rumänien. Hat einen Mann mit dunklen Augen und schnellem Schritt. Wir verstehen uns zwar nicht recht, aber das spielt keine Rolle. Manchmal winken wir uns von Weitem, um Worte auszutauschen, die die andere nicht versteht. Manchmal vermisse ich sie.

Und Anna vermisse ich auch. Sie betrieb den kleinen Kiosk im Rhybadhüsli. Heute nicht mehr. «Esse isch fertig!», ruft da jetzt jemand anderes. Annas Stimme höre ich nur noch, wenn sie am Radio gespielt wird. Das ist oft.

Celal tröstet ein wenig darüber hinweg, dass Anna fort ist. Feigenbäume und Rosmarin wachsen vor seinem Café. Dort, wo früher im «Pumuckl» Männer zusammensassen, die gern Bier haben, bis sie sich wankend auf den Heimweg gemacht haben, gibt es heute Limonaden in Pastellfarben. Als Kind fuhr Herr Huber hier mit dem Schlitten vorbei. Als Erwachsener hat er ein kleines Schuhimperium in der Stadt aufgebaut. Die Geschäfte im Quartier gibt es heute nicht mehr. Den Schlitten meines Grossvaters gibt es aber vielleicht noch irgendwo. Auch er raste im Winter jauchzend den Mülhauserberg hinunter. Damals, als die Strasse wegen des Zweiten Weltkriegs mit Panzersperren abgesperrt war – ein Kinderparadies.

Am selben Ort wie ich heute hat auch mein Grossvater Milch eingekauft. Ganz frische, in einem Kessel aus Alu, vom Milchmann. Der kam damals mit einem Pferdewagen.

Meine älteste Freundin, Erika, fährt zwar keinen Pferdewagen, aber ein winzig kleines, knallgelbes Auto. Wenn sie an der Avia-Tankstelle tankt, winkt sie mir fröhlich aus den kleinen Fenstern zu. Früher stand Erika für lokale Modemarken Modell, hat in einem kleinen Laden Wein verkauft, ging im Hotel Basel ein und aus. Heute beobachtet sie gern Schiffe, die am Quartierpark vorbeiziehen. Im Sommer sitzt sie unter einem gelben Schirm am Wasser.

Am Flussufer arbeiten Elsässer, vertäuen die grossen Schiffe, die von Rotterdam her kommen. Die Elsässer zählen gern weisse Enten. Das Wort für «Schwan» kennen sie nicht mehr, haben sie mir erzählt. Die Vögel sitzen am liebsten unterhalb der Dreirosenbrücke. Am braunen Ufer unterhalb der mittlerweile nicht mehr ganz so «verbotenen Stadt». In «Vasellas Vorgarten»,wie wir manchmal sagen. Die Schwäne strecken die Hälse gern Richtung Frankreich. Mir scheint, die Wolken ziehen dort irgendwie schneller über den Himmel. Ein Hauch Abenteuer weht über die Grenze. Es ist immer genau so viel, dass mein Fernweh abklingt, ich zufrieden die Nase in den Wind strecke und denke: «Schön, bin i do dehei.»

HANNA GIRARD (*1998) ist freie Journalistin und Reporterin. In Basel arbeitete sie fürs Regionaljournal Basel auf SRF 1 und für den Jugend- und Kultursender Radio X. 2019 gründete Hanna Girard das Jugendkulturmagazin «Viral» und schloss 2020 an der Schweizer Journalistenschule MAZ mit Fachrichtung Radio ab. Hanna Girard ist Stiftungsrätin der Stiftung Radio Basel, welche jährlich den Audioförderpreis «KatalysatOHR» vergibt, und ist leidenschaftliche Hörbuchhörerin und Hobbygärtnerin.

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt. So lautet das Bonmot, das Helmut Schmidt einst in die Welt gesetzt hat. Bei mir war’s umgekehrt: Ich ging zum Arzt. Danach kamen die Visionen.

Doch der Reihe nach: Ich habe mein Leben lang meine Berufung zum Beruf gemacht. Das ist ein Privileg, ich weiss. Ich liebte die Musik, spielte sie, hörte sie, lebte sie. Ich konnte auf Konzertreisen gehen, neue Orte, neue Menschen kennenlernen. Gerne schrieb ich auch darüber, über die Musik, die Kultur – in Zeitungen, in Büchern. Ich reiste viel und gern, blieb in Bewegung, wach, neugierig. Ein Traumberuf.

Bis, ja, bis mich plötzlich ein Alptraum heimsuchte. Unverhofft, in Form einer Panikattacke. Gefolgt von einer zweiten. Hinzu kamen Schlafstörungen, die Angst vor allem – und vor allem die Angst vor der Angst: Was geschah da mit mir, was riss mir da den Teppich unter den Füssen weg? Ich ging zum Arzt, zur Psychologin, erzählte von der Stimmung in mir, wie gedrückt diese war und auch, dass ich mich schämte, da es mir doch eigentlich gut zu gehen hatte.

Wohin geht man in einer solchen Situation mit sich selber, in der Hälfte des Lebens?

Keine einfache Frage, erst recht nicht, wenn man Familie hat und nicht nur für sich selber verantwortlich ist.

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MARC KREBS MIT GLEITSICHT ZUR WEITSICHT

Zu dieser Zeit kaufte ich mir ein Brille – das Alter! –, sie half mir, den Alltag klarer zu sehen. Doch in meinem Unterbewussten fischte ich weiterhin im Trüben. Wie befreit man sich aus einem Hamsterrad? Lange Gespräche später (ein Hoch auf meine Frau und Freunde!) entschloss ich mich zum Befreiungsschlag. Ich verabschiedete mich aus den Medien und wurde paradoxerweise in fortgeschrittenem Alter Jungunternehmer.

Zum gleichen Zeitpunkt hatte mein Schwager die weitsichtige Idee, einem globalen Problem mit einer Lösung zu begegnen: den Meeresmüll zu reduzieren, indem man Kunststoffabfall einsammelt und wieder aufbereitet. Für das ambitionierte Projekt hatte er einen Namen, Tide Ocean, aber noch keinen Bruder im Geiste.

Ich war völlig begeistert von seiner Idee, auch von der Möglichkeit, mich neu zu erfinden und etwas Neues aufzubauen, etwas Fremdes. Das schien mir der Befreiungsschlag, den ich brauchte – und kein geringeres Risiko als die Alternative, Stillstand.

Das ist nun fünf Jahre her, seither haben bereits sechzig Marken aus unserem Material Produkte auf den Markt gebracht, von Uhren bis Brillen (Planctons heissen diese – und ja, Sie können sie bei Ramstein anprobieren).

Noch immer haben wir das Ziel vor Augen, dem Abfall einen Wert zu geben und so einem Umwelt- und Gesellschaftsproblem unserer Zeit eine Lösung entgegenzustellen. In der Schweiz entwickelt, in Südostasien umgesetzt, möchten wir den Einwegplastikmüll aus der Welt schaffen. Wir geben ihm Wert, indem wir Fischer und Küstenbewohnerinnen schulen und sie für ihre Arbeit entschädigen. Das kommt allen zugute: den Menschen und der Umwelt.

Wohin uns diese Reise führen wird, ist ungewiss – das liegt ebenso in der Natur von Start-ups wie manche schlaflose Nacht (zum Glück hilft die Brille auch dabei, Augenringe zu kaschieren). Was sicher ist: Den Perspektivenwechsel bereue ich nicht, egal was kommt. Wie sang doch einer meiner Helden, David Bowie, vor langer Zeit: Ch­ch­changes Time may change me but I can’t trace time.

MARC KREBS lebt seit 25 Jahren in Basel. Als Musiker spielte er in diversen Bands Schlagzeug, aktuell etwa 4th Time Around, zudem trat er als musikalischer Sidekick mit Autor*innen wie Sibylle Berg oder Gabriel Vetter auf. Als Kulturredaktor arbeitete er bei der BaZ, TagesWoche und bz und veröffentlichte Bücher über die Popkultur. 2019 gründete er das Schweizer Start-up Tide Ocean SA mit. Dieses sammelt und rezykliert Plastikmüll aus Küstenregionen.

STEFAN VON BARTHA THE ELEPHANT IN THE ROOM

Wer kennt sie nicht, die Kindheitserinnerungen, die einen nie wieder loslassen. Einen dieser prägenden Momente mit Kunst, an der Art Basel im Jahr 1986, möchte ich mit Euch teilen. Meine Eltern luden vor unserem Wohnhaus, das damals zugleich die Galerie war, Kunstwerke fein säuberlich in ihren weissen Volvo. Anschliessend fuhren wir zur Art Basel, immer früh genug, um noch einen guten Parkplatz un-

ter der grossen Uhr der Halle 2 zu sichern. Schliesslich durfte man damals die Werke noch selbst direkt auf die Messe tragen.

Während meine Eltern, Margareta und Miklos von Bartha, den Stand aufbauten, war ich tief in meine Spielsachen versunken. Einmal blickte ich hoch, hinüber zum kleinen Clubtisch, auf dem Objekte diverser Künstler*innen ihren Platz fanden. Mich traf der Blitz. Plötzlich stand er da, mein Elefant, den ich so sehr liebgewonnen hatte, weil er immer bei uns zu Hause auf dem Fenstersims sass. Als Kind ergibt sich natürlich schnell eine Bindung zu einem Tier, in meinem Fall war es eben ein Elefant im Art-Déco-Stil. Man könnte fast meinen, ich sei in einer Galerie aufgewachsen.

Bis zu diesem besagten Moment muss der Aufbau an unserem Stand wohl eher entspannt und ruhig abgelaufen sein. Dies war schlagartig vorbei, als ich den Elefanten erblickte und meinen Vater, der gerade ein Bild an die Wand hängte, fragte, wieso dieser nun hier sei und nicht mehr bei uns zu Hause? Der stehe nun zum Verkauf, schliesslich sei dies eine Messe, wurde mir beiläufig mitgeteilt, und dass er den Weg zurück auf den Fenstersims wohl nicht mehr antreten werde.

Noch heute, wenn ich daran zurückdenke, schiessen mir Tränen in die Augen. Wer also meint, dass ich diesen Schrecken mit mittlerweile 42 Jahren überwunden hätte, liegt falsch.

Ich fing sofort an zu heulen, hab geschrien wie am Spiess und mich theatralisch zu «meinem» Elefanten gelegt. Die Situation wurde auch nicht besser, als benachbarte Galerist*innen einen Blick in unseren Stand warfen, wo sich ein Kind im totalen Auflösungszustand am Boden drehte. Jegliche Versuche meiner Eltern, die Situation zu entschärfen, schlugen fehl. Der Elefant und ich, wir waren doch Freunde!

Eigentlich wollten meine Eltern in Ruhe weiterarbeiten, also mussten sie handeln. Die folgenden Worte werde ich nie vergessen: «Dann nimm den Elefanten, aber sei jetzt bitte ruhig!» Um ganz sicher zu gehen, dass dieser Deal in trockenen Tüchern war, wurde mir die Skulptur, die zu meinem Erstaunen ziemlich schwer war, sogleich in die Arme gelegt. Ich hielt den Elefanten mit aller Kraft fest und trug ihn zurück in den Volvo. Er war gerettet.

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Dieser Moment, und dieses Werk, markieren wohl den Start meiner privaten Sammlung. Weder heute, und auch nicht in der Zukunft, wird es je die Möglichkeit geben, «meinen Freund» zu erwerben. Dank den Eltern, die so wundervoll grosszügig auf diese Situation reagiert haben, erfreue ich mich heute noch jeden Tag an der Skulptur. Wenn Sie also Lust haben, den Elefanten zu besuchen, dann kommen Sie in der Galerie am Kannenfeldplatz vorbei, da begrüsst er mich jeden Tag in meinem Büro.

STEFAN VON BARTHA (*1981) ist in einem Haus voller Kunst, in dem sich auch die Galerie Minimax seiner Eltern befand, aufgewachsen. Mit Stationen bei Christie’s Education New York, Sotheby’s in Zürich und Nordenhake in Berlin übernahm er die Galerie von Bartha 2008 und war massgeblich für die Neuausrichtung und die Erweiterung nach Kopenhagen verantwortlich. Das Sammeln von Kunst und Design-Objekten ist für Stefan ebenso eine Leidenschaft wie sein Engagement für diverse Kunstinstitutionen und -vereine.

NORINA COVERGIRL

Ein Porträt von Dieter Bopp

Das ist Norina mit ihrem Plüschtier Jim. Es ist nicht ihr Lieblingsplüschtier. Ihr Liebling ist ein namenloser roter Vari, der keinen Namen braucht, weil er weit und breit der einzige Vari in ihrer grossen Plüschtierherde ist. Tiere findet sie ohnehin schampar toll, und wenn sie etwas grösser ist, will sie auf einem Bauernhof leben oder in einem Tierheim arbeiten. In den Kinderzolli möchte Norina auch gehen, am liebsten zu den Wildhunden und mit ihnen in den Höhlen wohnen. Wenn eine Fee kommen und sie nach drei Wünschen fragen würde, dann wären ihre Wünsche erstens ein Hund (Dackel), zweitens eine Katze und drittens ein Hund (egal was, einfach etwas grösser als der Dackel). Erwachsene findet sie hingegen eher langweilig. Wahrscheinlich, weil sie keine Tiere sind. Die müssen immer kochen, putzen, arbeiten und die dürfen sonst gar nichts anderes machen. Gut, Spätzli an einer feinen Sauce und dazu Geschnetzeltes findet sie schon sehr gut. Oder Gurkensalat! Erwachsene haben auch etwas Gutes an sich.

In der Wohnung der Familie Wick hängt ein ziemlich grosses Bild im Weltformat von Norina. Lächelnd, mit einer schönen Brille und die Zeigefinger nach oben gestreckt. Bei Besuchen fotografiert sich davor (mit den Zeigefingern nach oben) die ganze Verwandtschaft aus dem Bündnerland und der Ostschweiz. Auch bei Nani und Neni im

fernen Chur hängt das Plakat an der Wand, und wenn die Nani daran vorbeigeht, hält sie manchmal kurz inne und redet mit ihrer Enkelin. Es ist auch schon vorgekommen, dass Norina von fremden Menschen erkannt wird. Auf eine Fährifahrt über den Rhein wurde sie schon um ihre Adresse gebeten, um dann ein paar Tage später eine Postkarte mit ihrem Bild und lieben Grüssen aus dem Briefkasten zu fischen. Auch in der Schule im St. Johann hat das Bild und die Geste von Norina Kultstatus. Apropos Schule: Norina geht gerne zur Schule. Sie sagt, sie sei nicht die Beste, aber Klassensprecherin. Hallo! Mit ihrem Schalk ist sie sehr beliebt und bringt mit ihrem Humor Freundinnen und Freunde zum Lachen.

Nach der Schule und den Hausaufgaben liegt sie in ihrem Zimmer in ihrer Chill-Plüschtier-Ecke, liest gerne Ponygeschichten oder die Schlümpfe, und wenn sie fernsieht, sind es Tierfilme. Der Fernseher ist dabei auch ein Trainingsgerät für ihre Augen. Anstatt Trainer anziehen heisst es dann: Augenklappe aufsetzen und mit einem Auge die Wildhund-Dokumentation im Fernseher ansehen! Piratenmässig. Norina hat eine Amblyopie, eine häufige Sehschwäche bei Kindern. Das gute Auge wird zur Behandlung abgedeckt, damit die Sehentwicklung am schlechter sehenden Auge aktiviert wird. Das Ziel ist eine seitengleiche Sehschärfe für nah und fern. Langweilt sich Norina vor dem Fernseher, reisst sie ihre bunte Piratenklappe ab, legt sich in ihre Plüschtierherde und spielt Geschichten mit ihnen. Fragt man sie dann, ob sie glücklich sei, schaut sie kurz auf, «Dängg scho!», und spielt weiter.

NORINA (*2015) ist Schülerin und Model auf einem Ramstein Plakat. Wahrscheinlich spielt sie gerade im Hof mit dem Pudel der Nachbarn.

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«MENSCHEN UND BÄUME INS ZENTRUM»

PIERRE DE MEURON IM GESPRÄCH MIT DIETER KOHLER

Trotz Welterfolg blieb er mit seiner Heimatstadt Basel immer eng verbunden. Ungeduldig fordert Pierre de Meuron mehr Stadtgrün und mit dem Herzstück endlich eine S-Bahn, die diesen Namen verdient. Er vergleicht die Klimajugend mit seiner aufmüpfigen 68er-Generation und hat kürzlich die Gitarre wiederentdeckt.

Aus dem Sitzungszimmer von Herzog & de Meuron an der Rheinschanze im St. Johann hat man einen direkten Blick auf den Rhein. Zum Interview gibt es selbstgebrauten Tee, Pierre de Meuron schenkt ein und erzählt von der Gitarrenstunde, die nach dem Interview folgen wird. Als Knabe war er Tambour bei der Fasnachtsclique Alti Richtig, später versuchte er sich im Übungskeller mit einer Rockgitarre und Popmusik. Seit drei Jahren nun der regelmässige Unterricht quer durch alle Stilrichtungen, von Rock, Pop, Latin bis Bach. Elektrisch oder akustisch, Saiten aus Stahl, Darm, Seide oder Nylon. Pierre de Meuron ist gut gelaunt und strahlt.

Sind Sie ein guter Musiker?

Ob gut oder schlecht, wer will das schon wissen. Ich denke, ich bin der wache Lehrling und muss viel üben. Dafür bleibt mir nicht immer Zeit, aber die Stunde Musik mit dem Profimusiker ist jede Woche fix in meinem Kalender eingetragen. Anders geht es nicht, sonst kommt schnell ein beruflicher Termin dazwischen.

Wieso haben Sie wieder mit Unterricht begonnen?

Bei der Musik fasziniert mich das Zeitgefühl. Man ist nicht in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft, sondern man ist immer im Fluss. Wenn man den einen Ton gespielt hat, denkt man schon an den nächsten, wobei der erste Ton noch nachklingt. Das Vorher, Jetzt und Nachher kommt bei der Musik unglaublich intensiv zusammen. Dabei ist das Musikmachen am innigsten, wenn man sich dessen nicht bewusst ist, dass dem so sein könnte.

Das Wort «Lehrling» haben Sie auch schon bei öffentlichen Auftritten benutzt. Sie sagten, Sie seien permanent in der Lehre. Der erfolgreiche Architekt als Lehrling?

Man hat nie ausgelernt, man weiss nie alles. Jeder kreativ aktive Mensch lernt tagtäglich. Und dann kommt noch dazu, dass ich jetzt lerne, mit dem Alter umzugehen. Mit 30 ist man anders unterwegs als mit 73.

Welche Veränderungen haben Sie bei sich im Alter festgestellt?

Ich bin ein umtriebiger und ungeduldiger Mensch. Mit dem Alter geht es darum zu entscheiden, was man nicht mehr machen soll. Nicht «können», sondern «sollen». Lieber sich ab und zu etwas zurücknehmen und nur beobachten.

Und, gelingt es Ihnen?

(lacht) Nein, es ist nicht immer einfach. Ich habe Spannungen und auch Energien in mir, die mich antreiben.

Auch die Klimajugend ist ungeduldig. Verstehen Sie deren Anliegen?

Ja, sehr. Dass wir dringend etwas unternehmen müssen, ist noch nicht beim Grossteil der Gemeinschaft angekommen. Meine Generation lehnte sich nach 1968 als Protest- und Popkultur gegen vorgegebene Institutionen auf, heute ist es das Klima, wo wir ernsthaft etwas anpacken müssen.

Die Klimajugend klebt sich auf die Strasse. Wurden Sie auch schon blockiert?

Direkt blockiert nicht, aber ich hab Verständnis für solche Aktionen. Da reagiere ich nicht so aufgebracht wie andere. Es ist ein Protest, der sichtbar wird und auch unangenehm werden kann, wenn man angehalten und gehindert wird. Aber ich finde es legitim, solange er gewaltfrei und ohne Sachbeschädigun -

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gen bleibt. Als eindringlicher Protest darf das durchaus so stattfinden.

Und der blockierte Handwerker, der nicht zur Arbeit kann, was sagen Sie dazu?

Ja, das ist störend. Gesellschaften, Städte sind generell konfliktbeladen. Unsere Welt ist keine rosarote Wolke. Spannungen innerhalb der Gesellschaft sind völlig normal, und um mit der Situation umgehen zu können, muss es darum gehen, Verständnis für den anderen aufzubringen. Dass der direkt Betroffene sich in einer solchen Situation vielleicht überlegt, was er zur eigenen Reduktion der CO2-Emissionen beitragen kann – und die Aktivisten im Gegenzug Verständnis dafür aufbringen, dass sie dem anderen auf die Füsse treten und der das nicht toll findet.

Etwa ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen stammen von der Bauwirtschaft. Was tragen Sie als Architekt zur Senkung dieser Emissionen bei?

Unser Architekturbüro hat schon sehr früh nachhaltige Projekte geplant und realisiert. Aber das reicht bei Weitem nicht, wir müssen für den Klimaschutz noch viel mehr machen.

Würden Sie denn heute die RocheTürme weiterhin ohne Photovoltaik und ohne Aussenbegrünung planen?

Durch den Entscheid der Roche, in die Höhe zu bauen, wird am Boden Fläche frei für eine Grünfläche, die es bis jetzt nicht gab, und auf dem Areal und rundum werden Dutzende Bäume gepflanzt. Zudem bedeutet die Konzentration der Roche-Mitarbeitenden am Kleinbasler Hauptsitz, dass kürzere Wege für alle entstehen. Das sind wesentliche Elemente, die sich bei der Nachhaltigkeit positiv auswirken.

Klimakleber würden hier argumentieren, dass diese Einzelmassnahmen nicht ausreichen, dass noch mehr gemacht werden muss –notfalls auch über schärfere politische Vorgaben. Wie dramatisch

schätzen Sie die Klimasituation ein? Soll der Staat von privaten Bauherren mehr fordern?

Ein «Hoppla» entrutscht Pierre de Meuron und es entsteht eine Pause. Er schaut konzentriert auf den Rhein, sammelt seine Gedanken – er springt nun von der lokalen Ebene, wo er der Roche ein grosses Nachhaltigkeitsengagement zugesteht, direkt auf die Ebene der Weltpolitik und beschreibt die globalen Herausforderungen: Höhere Temperaturen, anhaltende Dürreperioden und Flutkatastrophen würden zu grossen Migrationsströmen führen. Krieg und Gewalt seien nicht ausgeschlossen, die wiederum Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Mit diesen Problemen müssten sich die Gesellschaft und auch die Politik auseinandersetzen. Vielleicht mehr als uns recht sei, fügt Pierre de Meuron noch an und lässt eine Pause entstehen. Der ungeduldige, energische Architekt im nachdenklichen, besorgten Modus. Nicht das letzte Mal in diesem Interview. Die Prognosen für unser Klima sind sehr beunruhigend. Das südpazifische Tuvalu mit seinen elftausend Einwohnern soll nach Australien übersiedeln können, aber was passiert, wenn Millionen klimabedingt gezwungen werden, zu migrieren?

Kehren wir zurück auf die lokale Ebene. Reagiert die Stadt Basel genügend auf die aktuelle Klimasituation?

Basel trägt mit Recht den Titel «Grünstadt Schweiz». Gut so. Basel pflegt und schützt die Vielfalt seiner Lebewesen und Lebensräume. Sehr gut. Aber man könnte einiges mehr machen. Pflanzt mehr Bäume, und entsiegelt den Boden. Es ist so einfach, die Bäume wachsen von alleine. Eigentlich müsste man jetzt Bäume, Bäume, Bäume und Bäume pflanzen … Duftalleen mit Linden, Rosaalleen mit Zierkirschen … Pharmaalleen mit Ginkgos

Dann sagt das Tiefbauamt, das geht nicht, weil hier eine Leitung im Boden liegt.

ja, genau! Da bestehen leider immer noch zahlreiche behördliche Hürden. Es gibt viele Möglichkeiten, Bäume zu pflanzen. Wo Leitungen verlegt sind, kann man auf Bodenniveau Erde aufschütten und Flachwurzler pflanzen. Es

müssen ja nicht unbedingt Mammutbäume sein, es können auch kleinwüchsige Bäume oder Gebüsche sein!

Bäume in Pflanzkübeln?

Wieso nicht? Und wenn gegen unten der Platz fehlt, muss man gegen oben Erde aufschütten, alles zusammengehalten mit einem Mäuerchen, was dann vielleicht noch eine Sitzgelegenheit ergibt. Am meisten Vergnügen habe ich, wenn so etwas sogar ungeplant entsteht. Spontanvegetation zeigt, dass die Natur klüger und geübter ist als wir. Kürzlich habe ich im Bahnhof SBB auf Gleis 9 einen kleinen Götterbaum gesehen –in der Zwischenzeit haben sie ihn sicher ausgerissen. Wir müssen lernen, Wildpflanzen vermehrt zuzulassen – Wildpflanzen, die aus allen Belagsritzen spriessen, umgeben von Asphalt, zertreten, überfahren. Es sind gewiefte Überlebenskünstler, die vielerorts ein neues, zu besiedelndes Terrain bilden, in dem sie bislang ausgeschlossen waren – gedanklich, aber auch physisch. Die Natur in der Stadt kann so vielfältig sein, wie das Urbane in seiner Diversität sein kann. Aber es gibt auch gesellschaftliche Blockaden, zum Beispiel: Parkplatz versus Baum.

Neue Pflanzen auch auf Kosten von Parkplätzen?

Wieso nicht? An einzelnen Stellen würde das sicher Sinn machen. Wobei man bei der Planung immer flexibel bleiben soll, um sich den jeweiligen Gegebenheiten anpassen zu können. Natürlich geht es nicht überall, aber es wäre viel mehr möglich. So wie man ganz allgemein die Allmend an vielen Orten anders nutzen könnte. Mehr Priorität für die Fussgängerinnen und Fussgänger mit neuen Formen von Fussgängerstreifen, die auf gleicher Ebene sind wie die Trottoirs. Für den motorisierten Verkehr entsteht so ein liegender Polizist und zwingt zum Abbremsen. Auch rote Streifen für die Velos sind ideal, alles einfache Massnahmen, die schnell eingeführt werden können.

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Mehr Grün, Bevorzugung des Langsamverkehrs. Es tönt wie aus dem Parteiprogramm der Grünen!

Einen Baum pflanzen, zu Fuss gehen, Fahrrad fahren, selbst etwas Nachhaltiges tun – eigentlich ganz einfach, unparteilich, unabhängig, oder?

Pierre de Meuron ist aber nicht nur der Architekt, der sich spitzbübisch über die anarchistische Pflanzenwelt freut und jede Kleinstinitiative unterstützt. Er ist auch Fürsprecher grosser Infrastrukturprojekte wie des Tunnelsystems «cargo sous terrain» für einen unterirdischen Güterverkehr quer durch die Schweiz. Besonders aber engagiert er sich für das Basler Herzstück, die direkte S­Bahn­Verbindung zwischen den Bahnhöfen SBB und Badischer Bahnhof mit Haltestellen in der Innenstadt und im neuen Quartier Klybeck. Es ist ein Milliardenprojekt mit einem Realisierungshorizont von 20 bis 30 Jahren.

Wieso engagieren Sie sich für das Herzstück?

Basel braucht dringend eine funktionierende S-Bahn. Mit Basel meine ich nicht nur den Kanton Basel-Stadt mit seinen gut 200 000 Einwohnern und Einwohnerinnen, sondern sein ganzes Einzugsgebiet, die sogenannte trinationale Metropolitanregion. Hier lebt gemäss Bundesamt für Statistik eine Gesamtbevölkerung von rund 1 300 000 Menschen. Dieses gesamte Einzugsgebiet gilt es nun endlich miteinander zu verbinden – und zwar mit einem überregionalen ÖV.

Das Herzstück mit dem Tunnel vom Bahnhof SBB bis zum Badischen Bahnhof ist ein Generationenprojekt und frühestens in 20 oder 25 Jahren fertiggestellt. Ist das Projekt in seiner Dimension nicht aus der Zeit gefallen?

Überhaupt nicht. Im Gegenteil, wir brauchen die unterirdische Verbindung vom Bahnhof SBB zum Badischen Bahnhof als Durchmesserlinie mehr denn je. Da werde ich wieder ungeduldig. Städte mit funktionierenden S-Bahnen sind besser für die Zukunft vorbereitet. Die Lebensqualität in Basel ist besser mit einer lückenlosen S-Bahn!

Aber es kommt doch zu spät?

Basel hat sich das Klimaziel 2037 gegeben, wir können nicht auf die Fertigstellung des Herzstücks warten, oder?

Klar, es kommt viel zu spät. Die beiden Basel haben geschlafen. Es war unser Fehler, und dazu müssen wir stehen –und ich finde, Selbstkritik muss immer zuerst sein, bevor man auf andere in Bundesbern zeigt. Umso mehr müssen wir das ganze Projekt jetzt richtig anpacken, wie das Parlamentarierinnen und Parlamentarier kürzlich bestimmt und deutlich öffentlich kundgetan haben.

Und das Klimaziel, das schon bis 2037 erreicht werden muss?

Es gibt nicht nur das Herzstück, es gibt auch kleinere Projekte mit grosser Wirkung. Das eine ist die Zielsetzung im grossen Massstab mit dem zentralen Projekt «Herzstück Basel-Mitte», das andere sind pragmatische, kleinere und mittlere Teilprojekte. Es braucht beispielsweise schnell die S-Bahn-Haltestellen am Morgartenring und an der Solitude bei der Roche – und wenn die Kritik kommt, dass die Solitude-Haltestelle zu nahe beim Badischen Bahnhof liegt, so wäre vielleicht ein Rolltrottoir wie auf Flughäfen vom Badischen Bahnhof bis zum Tinguely-Museum eine Möglichkeit. Wir sollten alles, auch Unkonventionelles prüfen und nichts unversucht lassen.

Für das Herzstück ist eine Haltestelle in der Basler Innenstadt geplant. Reicht die innenstädtische Anbindung mit dem Tram nicht?

Das historische Zentrum der Stadt muss direkt erschlossen werden, und zwar ohne Umsteigen. Direkte Verbindungen aus den regionalen Zentren wie Liestal, Laufen, Lörrach und Mulhouse in die Basler Innenstadt: So wird diese belebt, aktiviert, stärker frequentiert, wortwörtlich durchblutet. Mit Haltestellen in der ehemaligen Hauptpost und in der ehemaligen Börse. Und um den Bogen wieder zur Klimajugend zu schlagen: Die Innenstadt muss grüner werden, auch dort müssen Bäume gepflanzt werden. Nach dem Motto «Weniger Tramgrün – mehr Stadtgrün!» Zur Abkühlung beitragen könnte auch die Freilegung des Birsig, und

wieso nicht einen grösseren Brunnen am Barfüsserplatz? Am Rüdenplatz? Am Marktplatz? Ausserhalb der Marktzeiten ist dieser Platz ziemlich unbelebt. Neue Impulse in der ganzen Talstadt verdienen mehr Aufmerksamkeit und Enthusiasmus – von der Schifflände bis zur Heuwaage, bis und mit Zolli. In diesem Zusammenhang nennenswert: Durch die Umgestaltung der heute unwirtlichen Wärmeinsel im Birsig-Parkplatz soll die Aufenthaltsqualität des Ortes umfassend verbessert werden. Es ist jedoch bedauernswert, dass das Wasser des Birsig dort nicht sichtbar erlebt werden soll.

Pierre de Meuron kommt richtig in Fahrt, er sieht überall Potenziale und Verbesserungsmöglichkeiten, ist voller Tatendrang. Jetzt sitzt er ruhig im Büro und erklärt seine Ideen, aber man kann ihn sich sehr gut vor Ort vorstellen, wie er Plätze abschreitet, neue Ecken der Stadt entdeckt und am liebsten gleich selber Hand anlegen würde. Mit dieser Energie hat sich das ganze Architekturbüro Herzog & de Meuron weltweite Anerkennung geschaffen und Erfolge gefeiert. Und jetzt die aktuelle Weltlage! Nach dem Überfallkrieg Russlands auf die Ukraine hat sich Herzog & de Meuron von allen Russland­Projekten zurückgezogen. In Jerusalem stand das jüngste Bauwerk, die «National Library of Israel», im Oktober 2023 kurz vor der Eröffnung. Der Hamas­Terror hat alles verändert.

Wie erleben Sie die aktuelle Zeit?

Es nimmt eine besorgniserregende Entwicklung, es wird für immer mehr Menschen dramatisch. Ich mache mir Sorgen wegen der zunehmenden Polarisierung, wobei wir wahrscheinlich noch nicht das Ende der gewaltsamen Umwälzungen erreicht haben.

Wie reagieren Sie als Architekt auf diese Situation?

Als Grenzstadt und als Stadt am Rhein hat Basel einen Spirit, um Brücken zu bauen. Das pflegen wir auch mit unserem Architekturbüro: Herzog & de Meuron sucht das Bindende und nicht das Trennende. Gerade bei unseren öffentlichen Bauten war dies immer wichtig. Die Tate Modern in London ist mehr als ein Ort für die Kunst, es ist ein Ort der Begegnung. So auch das M+ in Hongkong. Beeindruckend, wie das Gebäude als Begegnungsort in einer der dichtest

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besiedelten Städte der Welt funktioniert, wo ganz viele Menschen an akuter Platznot leiden und spartanisch wenige Quadratmeter zum Leben kriegen. Der Garten auf dem Dach des Museums, die Wiese davor dienen quasi als ihr Garten. Hier wird getanzt, Musik und Picknick gemacht – ein echter Mehrwert für die Stadtbevölkerung. Die «National Library of Israel» soll eine eigenständige staatliche Institution für den ganzen Nahen Osten sein. Die Beschilderung ist dreisprachig: Hebräisch, Arabisch und Englisch. Die drei Sprachen sind gleichwertig, es soll ein Begegnungsort für ganz viele Menschen werden – für Israeli und Araber, für Juden, Muslime und Christen, für religiöse und weltliche Gemeinschaften. Fatalerweise musste die offizielle Eröffnung auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Stattdessen öffnete die Bibliothek inoffiziell in begrenztem Umfang für Leser und Wissenschaftler und wurde von glücklichen Besuchern in Besitz genommen.

Sind Sie zuversichtlich für die Zukunft, sind Sie ein optimistischer Mensch?

Optimistisch eher weniger, vielmehr hoffnungsvoll würde ich mich identifizieren wollen. Denn Hoffnung enthält Wünsche und Erwartungen, lässt sich aber auch auf Leid und Elend ein. Hoffnung paart sich mit Zuversicht in die Zukunft, die nicht nur individuell, sondern insbesondere auch kollektiv einiges bewirken kann, was wir uns in Zeiten von Leid und Elend nicht immer vorstellen können.

Und es gelingt Ihnen, nicht aufzu geben?

Ich habe die Körperkräfte, nicht aufzugeben, und das ureigene Befinden, rational und emotional die Realitäten mit ihren inneren und äusseren Spannungsherden aushalten zu können.

Bei diesem letzten Satz schaut Pierre de Meuron aus dem Fenster, und in diesem Moment fährt ein Schiff rheinabwärts.

PIERRE DE MEURON hat von 1970 bis 1975 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) bei Lucius Burckhardt, Aldo Rossi und Dolf Schnebli Architektur studiert. Er gründete 1978 zusammen mit Jacques Herzog das Büro Herzog & de Meuron in Basel. Von 1999 bis 2018 war er Professor an der ETH Zürich und Mitbegründer des ETH Studio Basel – Institut Stadt der Gegenwart. Pierre de Meuron und Jacques Herzog wurden mit dem PritzkerArchitekturpreis (2001), der RIBA Royal Gold Medal (UK, 2007), dem Praemium Imperiale (Japan, 2007) und dem Mies Crown Hall Americas Prize (USA, 2014) ausgezeichnet.

DIETER KOHLER ist selbstständiger Journalist und Moderator. Bis 2021 leitete er das SRF- Regionaljournal Basel Baselland, davor war er u. a. Westschweiz- und Bundeshauskorrespondent und Interviewer der Sendung Samstagsrundschau. Er hat an der Uni Basel Geografie, Soziologie und Jus studiert, gefolgt von einer ETH-Weiterbildung in Raumplanung.

Liebe auf den ersten Blick 2005, kurz vor meinem Studienabschluss in Bern – die Stellenausschreibung für Akkordeon an der Musikakademie führt mich nach Basel. Ich entschied bald darauf, meinen Lebensmittelpunkt in die lebendige, inspirierende Stadt am Rhein zu verlegen.

Eine Stadt, der ich viel verdanke, die mich von Anfang an mit offenen Armen aufnahm. Lebendigkeit, Inspiration, Überschaubarkeit. Kulturelle Vielfalt – eine pulsierende Kunst- und Musikszene, wegweisende Begegnungen und tiefe Freundschaften.

Diskretion und Zurückhaltung einflussreicher Persönlichkeiten beeindrucken. Offener Geist, Sinn und Bewusstsein für Stil und Kultur. Ernsthaftes Interesse an Qualität und Inhalt immer im Vordergrund. Ein Mäzenatentum, das Kunst und Musik fördert – wie ich es noch nirgends gesehen habe.

Auf dem hellen Hügel, die langen Spaziergänge zum Wasserturm und über die Felder, der ideale Ausgleich zur intensiven Probenarbeit für die Einspielung meiner CDs Mozart Concertos und Haydn Concertos bei Sony Classical.

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VIVIANE CHASSOT IN BASEL VERANKERT, INTERNATIONAL UNTERWEGS

Tagelang in meiner kleinen Dachwohnung unter Schweiss, mancher Träne und schlaflosen Nächten entstanden diese Welt-Ersteinspielungen auf dem Akkordeon. Einfrau-Firma mit viel Büroarbeit und Überstunden unter dem heissen Dach.

Dann folgte der Umzug in die AlbanVorstadt. Wie ein Dorf ist das Leben in der Dalbe. So nah am Rhein, mitten in der Stadt und doch eine Oase mit singenden Vögeln und den Eichhörnchen im Hof. Die Gebäude atmen Geschichte. Dalbeziit mit dunklen Seiten – neuen Dimensionen – und so erlebte ich auch schwere Zeiten in dieser Stadt.

Doch Tiefpunkte stärken Beziehungen. Ich lernte die Spitäler mit ihren hochkarätigen Fachkräften kennen und überstand die schwierigste Zeit meines Lebens. J. S. Bach und das Fliessen des Rheins – es ging und geht weiter.

Fluss des Lebens – Kraft der Musik –des Schönen und Guten – das sich immer wieder durchsetzt. Die Verbundenheit mit Basel hat sich nochmals verstärkt.

Seit September 2023 bin ich Basler Bürgerin.

VIVIANE CHASSOT Mutig, zart und höchst musikalisch: Viviane Chassot, in Zürich geboren, zählt weltweit zu den herausragenden Interpretinnen auf dem Akkordeon. Sie taucht Akkordeonklänge in ein verblüffend sinnliches Licht. Mit ihren Interpretationen setzt Viviane Chassot immer wieder neue Massstäbe. Sie tritt als Solistin und Kammermusikerin weltweit in renommierten Konzerthäusern auf, wie Philharmonie Berlin, Gewandhaus Leipzig, Guggenheim Museum New York, Wigmore Hall London, Konzerthaus Wien, Ton halle Zürich. Als vielseitige Musikerin überschreitet sie stilistische Grenzen, mutig und innovativ verbindet sie Klassik, Jazz, neue Musik und Improvisation. Als Künstlerpersönlichkeit mit internationaler Ausstrahlung und Pionierin ihres Fachs erhielt Viviane Chassot den Schweizer Musikpreis 2021. Ihre CD «Pure Bach» wurde in Berlin mit dem OPUS KLASSIK 22 ausgezeichnet.

DANIEL FERNANDES SEX EDUCATION

Ein Porträt von Dieter Bopp

Daniel Fernandes ist Sexological Bodyworker. Das heisst, er berät und arbeitet mit Menschen, die auf der Suche nach einem erfüllten Sexualleben sind. Am Anfang einer Beratung stehen häufig die vordergründigen Themen, die vielleicht auch Ihnen in den Sinn gekommen sind, als Sie den Begriff Sexological Bodyworker lasen: Verlangen, Erektion, Orgasmen. Doch meistens –Sie ahnen es bereits – liegen die wahren Hürden zu einer gesunden Sexualität nicht in der Performance, sondern woanders, tiefer.

Daniel Fernandes arbeitet in seiner Sexualberatung mit einem somatischen Ansatz. Dieser ist eine kreative, körperorientierte Form der Sexualberatung. Dabei werden die Klient:innen ermutigt, die Verantwortung für sich zu übernehmen, um ein grösseres Körperbewusstsein und ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit mit dem eigenen Körper zu erreichen. Konzepte und Prinzipien der Körperwahrnehmung, Körperarbeit und Achtsamkeit werden in der somatischen Sexualberatung integriert. Ein ganzheitlicher Ansatz unter Einbeziehung körperzentrierter Übungen ist für das Erreichen nachhaltiger Verän-

derungen notwendig. Durch diesen somatischen Ansatz können bestehende Prägungen und Gewohnheiten in einem persönlichen Wachstumsprozess verändert werden. Gewohnheitsmuster werden so durch Achtsamkeit in die Realität der Klient:in gebracht. Berührung spielt dabei eine wichtige Rolle. Mit einer Art «Mapping» arbeitet Daniel Fernandez durch Berührungen an der Schärfung der Sinne. Welche Berührung wird wo verspürt, was löst sie aus, wo liegt das Gefühl? Beklemmung? Angst? Vertrautheit? Freude? Was viele Klient:innen an der Beratung durch Daniel schätzen, ist die Wertfreiheit, nicht nach ihrem Äusseren eingeschätzt zu werden. Denn Daniel Fernandes fehlt etwas, was Sie (als Leser:in) haben.

VOI! VOI! VOI!*

Wenn er draussen in der Stadt unterwegs ist, ist ihm in letzter Zeit aufgefallen, dass viele Menschen mit ihrem Alltag überfordert und gestresst sind. Immer häufiger muss er auf dem Trottoir den Leuten ausweichen, Menschen hören auf zu reden, wenn sie sich ihm nähern, oder er wird angerempelt. Zum Glück hat er ein sehr gutes Stehvermögen und einen hervorragenden Gleichgewichtssinn. Eigenschaften, die er auch beim Fussball gut gebrauchen kann. Beim Fussballspiel vergisst er sich, lebt die Emotionen eines Spiels, das Zusammensein mit seinem Team und den sportlichen Vergleich mit anderen Mannschaften. Wohlgemerkt auf ungewohntem Terrain, mit einer Rassel im Ball und bei unserem grossen FC Basel. Denn Daniel Fernandes fehlt etwas, was Sie haben.

«MEGA COOL, MEGA NICE, BISCH DU DO.»

«NICE, BISCH DU DO!»

Nach dem Training kann es sein, dass es mit seinen Freunden in den Ausgang geht. Daniel liebt Menschen, den Jazz und den Jazzcampus mit seinen Sessions. Im Club freuen sich die Clubber:innen an ihm. Obwohl er als Schlagzeuger nicht so der Tänzer ist. Oder kennen Sie einen Schlagzeuger, der tanzen kann? Da er dazu noch Klavier und Tenorsaxophon spielt, geht ohne Musik nichts in seinem Leben. Bis spät in die Nacht kann er mit seinem Logic Pro Programm an Sounds experimentieren und seine Lyrics dazu schreiben. Häufig beginnt

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der Abend jedoch mit Kochen. Das Erkunden von neuen Aromen und Geschmacksrichtungen, verschiedenster Gewürze und Düfte ist eine Leidenschaft, die er gerne auch in seinen Praxisalltag einbaut. Denn Daniel Fernandes hat etwas, was bei Ihnen nicht so ausgeprägt ist: geschärfte Sinne.

Daniel sagt von sich, dass er «nicht so gut sieht, auf jeden Fall nicht hundert Prozent». Medizinisch gesehen hat er einen Zentralausfall und ein Sehvermögen von drei Prozent.

DANIEL FERNANDES ist ausgebildeter Masseur. Eine Frozen Shoulder zwang ihn vor ein paar Jahren, sich einer neuen beruflichen Herausforderung zu stellen. Da er seinem Wunsch treu bleiben wollte, mit Menschen zu arbeiten, und ihn Themen wie Beziehungen, Psychologie und Sexualität interessieren, bildete er sich zum sexologischen Körpertherapeuten aus. Für einmal sind seine Sehbehinderung, sein Tastsinn und sein Gespür von Vorteil. Daniel ist in Basel geboren und spielt im «IRIS Blindsoccer» FCB-DreamTeam Fussball.

*«VOI!» Jeder gegnerische Spieler, der sich im Fussballspiel dem ballführenden Spieler nähert, muss sich mit «voi»-Rufen (spanisch für: «ich komme») bemerkbar machen, was auch der Orientierung dient und Zusammenstössen vorbeugen soll.

Letztes Jahr war für mich speziell, weil es den fünften Geburtstag meines «brands» brachte und genau die Mitte meiner Lebenszeit in Asien und Europa markiert. Im November 2023 zeigte ich meine Kollektion namens «Earthlings» in der Kunsthalle Basel.

Als @piscoandco und ich vor einiger Zeit über unsere Herkunft sprachen, war meine Antwort kurz und bündig: «Geboren und aufgewachsen bis zur Matur in Jakarta, in meinen Zwanzigern in London und Paris, im Moment in Basel.»

Spielt es eine Rolle, woher wir kommen? Wir sind alle «earthlings» – Kinder dieser Erde. Dieses Wort war die Inspiration für meine neueste Kollektion.

«Earthlings» steht für die Mischung von Kulturen, die ich in mir trage: indonesisch (javanisch), niederländisch, chinesisch, britisch (schottisch und englisch), plus meine Beschäftigung mit indonesischen und britischen Textil- und Handwerkstraditionen, aber mit einem zeitgenössischen Twist, der meine globale Identität spiegelt. Im Zeitalter der Globalisierung und der offenen Grenzen ist es für viele Menschen selbstverständlich, von unterschiedlichen Kulturen und Herkünften geprägt zu sein.

«Earthlings» verkörpert diese Verwebungen und betont die Schönheit kultureller Konvergenzen. Es illustriert, dass wir von unseren Herkünften zwar geformt, aber nicht eingeschränkt wer-

den. Wir haben die Freiheit und die Fähigkeit, alle möglichen Teile unseres Erbes anzunehmen, ins helle Licht zu rücken und neu zu mischen. Auch wenn heutzutage die Unterschiede häufig stärker betont werden als die Gemeinsamkeiten, ist die Message unseres «brands», dass wir alle «earthlings» sind, Bewohner:innen desselben Planeten, die dasselbe suchen: Beziehungen, Bedeutungen und einen Ort, der ein Zuhause ist.

WAS BEDEUTET «HEIMAT» FÜR DICH?

«Heimat» ist etwa sehr Persönliches, das kann für jede:n etwas anderes sein, je nach individuellen Erfahrungen und Perspektiven. Der Begriff hat für viele Menschen überall eine riesige emotionale und kulturelle Bedeutung.

Vielleicht schaffe ich hier gerade eine Utopie, aber ich fände es wunderbar, wenn wir uns alle aus ganzem Herzen akzeptieren könnten, trotz Unterschieden.

JACQUELINE LOEKITO ist in Jakarta, Indonesien geboren und au fgewachsen, bis sie mit 19 nach London zog. Dort machte sie ihren Art-Bachelor mit Auszeichnung, arbeitete als Stilistin und stieg als Gastassistenin an der University of the Creative Arts (UCA) ein. 2012 war sie eine von 12 Designer:innen für Rihannas Show «Styled to Rock UK» auf Sky Living. In der Folge stylte sie Popstars und arbeitete weiter im Design, bis sie ihre eigene Marke lancierte, die bis heute existiert. In ihren Entwürfen stellt sie der klassischen Heteronormativität der Mode die Freiheit des Denkens, der Sprache und der Kleidung für die Menschen entgegen. Der rote Faden in ihren Kollektionen ist Pink, für Jacqueline Loekito die Farbe für alle GenderIdentitäten. Im Jahr 2015 zog sie nach Basel und schloss sich dem Institut für Mode-Design der HGK Basel FHNW an, mit Abschluss Master in Fashion Design. Seit 2019 unterrichtet sie BA und MA Studierende, im September 2022 wurde sie in die Leitung des Master Studio Fashion Design berufen.

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JACQUELINE LOEKITO EARTHLINGS

DER ZAUBERKÜNSTLER IST

DER EHRLICHSTE VON ALLEN KÜNSTLERN, DENN ER SAGT, DASS ER UNS TÄUSCHT, UND TUT ES DANN AUCH.

WIE?

WIR TÄUSCHEN UNS SELBST!

«Jede Erkenntnis beginnt mit den Sinnen» – Leonardo da Vinci

Als 14-Jähriger nahm ich in der GGGBibliothek ein Zauberbuch aus dem Regal, und es öffnete mir die Tür zu meiner Zukunft. Obwohl ich dies damals noch nicht wusste, war es der Anfang einer bis heute andauernden passionierten Auseinandersetzung mit der Zauberkunst.

Ich zaubere seit genau fünfzig Jahren. 1988 habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Man könnte also sagen, ich sei im «Show-Business» tätig. Dabei habe ich weder zu «Show» noch zu «Business» eine Affinität. Was hat mich dann an der Zauberkunst so fasziniert, dass ich entschied, ihr mein Leben zu widmen?

Die Chinesen sagen treffend: «In jeder kleinen Welt befindet sich eine grosse Welt.» Für mich gleicht die Zauberkunst einem geschliffenen Diamanten: Jede Facette hat eine Verbindung zu einer Disziplin des Lebens. Die Zauberkunst hat eine reiche Geschichte und originelle Biografien, und sie schlägt Brücken zu praktisch allen Themen des Lebens, zu Theater und Film, Präsentation und Kommunikation, Natur- und Geisteswissenschaften, Philosophie und Psychologie, Kreation und Interpretation. In meiner Arbeitsbibliothek stehen über 3 500 Zauberbücher in siebzehn Sprachen, die ein Zeugnis davon ablegen.

Aus der unendlichen Komplexität, welche die Zauberkunst auszeichnet, interessiert mich eine Frage ganz besonders: Wie ist es möglich, dass sich ein intelligenter, gut ausgebildeter Mensch von einem einfachen Zauberkunststück täuschen lässt? (wohlverstanden: einfach, nicht leicht). Es ist ja nicht so, dass man sein Gehirn an der Garderobe abgibt, wenn man meine Zaubervorstellung besucht, und deswegen getäuscht wird. Nein, man benutzt genau dasselbe Gehirn wie im Privat- und Berufsleben draussen. Aber wenn es mir als Zauberkünstler gelingt, das komplexeste Gebilde im bekannten Universum zu täuschen, das menschliche Gehirn, liegt es dann nicht nahe anzunehmen, dass man sich im Alltag öfter irrt, als es einem lieb wäre?

Oft sagt man zu mir: «Das ist alles Geschwindigkeit.» Worauf ich antworte: «Die schnellste Bewegung, zu der der menschliche Körper fähig ist, ist das Blinzeln, das 1/100-Sekunde dauert. Damit eine Bewegung jedoch vom Auge nicht gesehen werden kann, muss sie schneller als 1/250-Sekunde sein, zweieinhalb Mal schneller, als wir uns bewegen können. Ergo gibt es keine Bewegung, die ich so schnell machen könnte, dass man sie nicht sehen könnte.» Ich begleite diese Antwort mit wiederholtem Blinzeln.

Das Problem liegt nicht darin, dass der Zuschauer nicht sieht, was der Zauberkünstler macht, sondern dass er das, was er sieht, falsch interpretiert, etwa so wie bei den Statistiken oder den Wahlversprechen. Picasso meinte: «Wir schauen, aber wir sehen nicht.» Und Sherlock Holmes pflegte seinen besten Freund zu ermahnen: «Watson, you look, but you don’t observe.»

Täuschung – durchaus auch im Magrittschen Sinn der Pfeife, die keine ist –entsteht, wenn die subjektive Wirklichkeit von der Tatsache abweicht. Dazu benutzen wir drei Instrumente: unsere fünf Sinne, unsere Intelligenz und unser Gedächtnis. Allesamt sind sie beim Menschen mehr als nur mangelhaft, bei den einen mehr als bei den anderen.

Der Zauberkünstler, als Architekt des erweiterten Bewusstseins, hilft den Zuschauern eine Wirklichkeit in ihren Köpfen zu erschaffen, die sie schliesslich, in Ermangelung von Ursachen für das Gesehene, den Boden der Logik unter den Füssen verlieren lässt, und sie fallen wie Alice ins Wunderland. Dies auf schöne Art und Weise zu erreichen ist das Ziel der Zauberei, die in der Performance eines inspirierten Zauberers zur Kunst wird. Der Zauberkünstler ist in der Tat der Surrealist unter den darstellenden Künstlern, und sein Werk die Ästhetik des Wunders.

ROBERTO GIOBBI zaubert seit 1973 und ist seit 1988 von Beruf Zauberkünstler, Fachschriftsteller und Seminarleiter mit Auftritten rund um die Welt. Er ist Mitglied der Escuela Magica de Madrid, einer modernen Denkschule der Zauberkunst, der weltweit vierzig Mitglieder angehören. Aus seiner Feder stammen über achtzig Fachbücher einschliesslich Übersetzungen in acht Sprachen. International errungene Titel und Preise als Performer und Autor runden sein Profil ab.

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DAS IST EINE SCHÖNE AUSSICHT

ELENA FILIPOVIC IM GESPRÄCH MIT HANNES NÜSSELER

Nach neun Jahren als Leiterin der Kunsthalle Basel wechselt Elena Filipovic an das Kunstmuseum Basel. Die promovierte Kunsthistorikerin wurde im vergangenen Sommer zur neuen Direktorin ernannt. Im Gespräch erzählt die 51-Jährige, wie sie das Kunst museum fit machen will für die Zukunft und warum sie als gebürtige Amerikanerin eine echte Baslerin ist.

Elena Filipovic, schon bald neh men Sie Ihre Arbeit als neue Direktorin des Kunstmuseums Basel auf. Wie fühlt sich das an?

Wie ein unglaublich tolles Geschenk! Aber es ist zugleich sehr aufregend und ehrfurchteinflössend. Als ich vor neun Jahren Direktorin der Kunsthalle Basel wurde, hätte ich mir in meinen wildesten Träumen nicht ausmalen können, dass ich jemals dem Kunstmuseum Basel vorstehen würde. Ich könnte nicht glücklicher sein über das neue Kapitel, das ich nun aufschlage. Die Ernennung zur Direktorin des Kunstmuseums Basel ist die bisherige Krönung meiner Laufbahn.

Diese Laufbahn begann in den USA. Was hat Sie hierhergebracht?

Wie viele Kunstinteressierte kam ich zunächst wegen der Mischung aus Art Basel und den grossartigen Ausstellungen, die während der Kunstmesse gezeigt werden. 2005 war ich zum ersten Mal hier und kam in einem kleinen Zimmer unter. Ich besuchte die Kunsthalle Basel, das Museum Tinguely, das Kunsthaus

Baselland, die Fondation Beyeler und natürlich auch das Kunstmuseum Basel. In den Jahren 2007/08 kuratierte ich die Berlin Biennale zusammen mit meinem Kunsthalle-Vorgänger Adam Szymczyk. Für unsere Besprechungen trafen wir uns regelmässig in Basel.

Was hat Sie gereizt, 2014 die Leitung der Kunsthalle Basel zu übernehmen?

Die Institution beeindruckte mich durch die einzigartige Freiheit, die sie ihren Direktorinnen und Direktoren einräumt. Und durch ihre Ausrichtung: Die Kunsthalle Basel zeigt die Kunst von morgen. Ich wollte unbedingt hier arbeiten, auch wegen dem Basler Geschichtsbewusstsein und tiefen Respekt für Kultur. Dabei wird die historische Bedeutung der Kunsthalle Basel oft unterschätzt. Viele Baslerinnen und Basler halten sie vor allem für ein Restaurant, ohne sich ihrer Geschichte und ihres Vermächtnisses bewusst zu sein. Monet, Picasso, Pollock, Taeuber-Arp, Tinguely … So viele waren hier schon mit richtungweisenden Ausstellungen zu sehen.

Und wie nahmen Sie das Kunstmuseum Basel wahr?

Mir wurde klar, dass es die Kunsthalle und das Kunstmuseum Basel ohne die Unterstützung der Stadt so nicht geben würde. Seit Jahrhunderten setzen sich Basler Bürgerinnen und Bürger für eine zentrale Rolle der Kunst in der Öffentlichkeit ein. Ich habe das Kunstmuseum Basel deshalb stets eifrig besucht, seine Sammlung ist weltweit einzigartig. Ich habe ihre Geschichte im Zusammenhang mit der Kunsthalle Basel genauer studiert und erkannt, wie wichtig der Austausch zwischen den Institutionen war und ist. Immer wieder fand ich im Archiv der Kunsthalle Basel Briefwechsel in der Art von «Wir haben eine tolle Ausstellung zu Jackson Pollock, wäre das nichts für eure Sammlung?» Und jetzt habe ich das Privileg, dieser Sammlung und dem Kunstmuseum selbst vorzustehen. Es ist ein Ort, an dem ich wichtige Arbeit leisten möchte, um neue Generationen anzusprechen. Das ist ohne Zweifel eine Lebensaufgabe. Sie fühlen sich also gut vorbereitet?

Ja, aber lassen Sie mich dazu folgende Geschichte erzählen: Als ich 2014 zur Direktorin der Kunsthalle Basel ernannt wurde, ging ich vor der Pressekonferenz noch einmal durch die Ausstellungsräume – die mir plötzlich viel grösser erschienen! Ich war fest davon überzeugt, dass es mehr Räume waren als vorher, deshalb fragte ich allen Ernstes: «Warum hat mir niemand gesagt, dass ange-

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baut wurde?» Es macht eben einen Unterschied, ob man eine Institution kennt oder sie wirklich leitet, denn sie wächst mit der Verantwortung. So ergeht es mir auch jetzt wieder.

Sie werden das Kunstmuseum Basel als Grossbaustelle übernehmen. In den nächsten Jahren soll der Hauptbau saniert werden. Eine Herausforderung?

Ja, aber auch eine Chance. Was mich am Kunstmuseum Basel und seiner Sammlung mit am meisten beeindruckt, ist seine historische Bedeutung. Und dass eine jüngere Generation von Baslerinnen und Baslern sich dessen weniger bewusst ist. Ich glaube sogar, dass das Kunstmuseum Basel weltweit unterschätzt wird. Expertinnen und Experten wissen selbstverständlich, dass es sich bei der Basler Sammlung um eine der fünf wichtigsten überhaupt handelt. Aber fragt man Menschen, die nicht direkt mit Kunst zu haben, nach den wichtigsten Kunstmuseen, werden das Museum of Modern Art, der Prado, die Uffizien, die Tate Modern oder das Centre Pompidou genannt. Es dauert, bis das Kunstmuseum Basel erwähnt wird –falls überhaupt. Es ist mir deshalb wirklich eine Herzensangelegenheit, diesem Museum international zu grösserer Anerkennung zu verhelfen.

Indem Sie einen Teil seiner Schätze auf Welttournee schicken?

Das ist eine Option, auch wenn einzigartige Werke wie beispielsweise Holbeins «Der Leichnam Christi im Grabe» das Museum nie verlassen werden. Selbstverständlich können wir uns überlegen, einzelne Schmuckstücke der Sammlung und damit auch Basel in die Welt zu schicken. Aber es gibt vielleicht auch andere Möglichkeiten, um ein wenig über den Tellerrand hinauszuschauen.

Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Direktorin des Kunstmuseums Basel?

Im Zeitalter von Instagram und Internet fragen sich viele, was die Rolle eines Museums sein soll, manche halten es vielleicht sogar für eine Art Friedhof für überalterte Kunst. Ich möchte diese Sichtweise ändern und zeigen, dass das Kunstmuseum Basel schon immer in der Gegenwart verankert war, um die Zukunft mitzugestalten. Ausserdem werden wir als Gesellschaft von Bildern förmlich bombardiert – in den sozialen Medien, in den Nachrichten, in der Werbung und im Aussenraum. Wir müssen fähig sein, diese Bilder zu lesen und zu entziffern.

Wie kann Kunst dabei helfen?

Sie ermöglicht uns, alles, was wir sehen, wissen oder zu wissen glauben, infrage zu stellen. Wir leben in komplizierten Zeiten: Kriege, Klimakrise, grosse Ungerechtigkeiten, gesellschaftlicher Wandel. Künstlerinnen und Künstler haben den Menschen schon immer klar vor Augen geführt, dass sie nicht in Selbstgenügsamkeit verharren können. Aus diesem Grund brauchen wir die Kunst, damit sie die richtigen Fragen stellt: Wie reagieren wir als Gesellschaft auf die drängenden Probleme unserer Zeit? Geben wir uns mit unser eigenen, relativen Sicherheit zufrieden, oder wollen wir politisch aktiv werden und Verantwortung übernehmen?

Und welchen Beitrag leistet das Museum?

Wie bereits in der Kunsthalle möchte ich die Öffentlichkeit als Direktorin des Kunstmuseums Basel immer wieder daran erinnern, dass das Auge ein Muskel ist. So wie wir uns im Fitnessstudio um unsere Körper kümmern, sollten wir auch unser Auge und den Verstand trainieren. Was wäre da besser, als in ein Museum zu gehen? Ein Ort, der Bilder, Ideen und Geschichten über so lange Zeit aufbewahrt hat, ist dafür der beste Trainer. Nicht alle mögen oder verstehen jedes Kunstwerk, auch ich nicht. Doch dieses Nicht-Verstehen treibt uns an.

Ohne Vergangenheit keine Zukunft?

Richtig. Das hat Basel schon im 17. Jahrhundert begriffen, als die Stadt sich für den Erhalt der Holbein-Gemälde und des Amerbach-Kabinetts starkmachte. Damals setzte die Diskussion ein, warum diese «zeitgenössischen» Werke für künftige Generationen erhalten bleiben sollen. Basel hat also schon immer begriffen, dass es die Kunstgeschichte von morgen schreiben muss, indem es aktuelle Kunst für die Zukunft bewahrt.

Wie geht Basel mit diesem Vermächtnis um?

Der Kanton Basel-Stadt hat das Privileg, dass viele seiner Bürgerinnen und Bürger stolz auf ihre Museen sind. Dahinter steckt eine grosse Liebe, man nehme nur den Ankauf der Picasso-Werke 1967 als Beispiel. Alt und Jung, Arm und Reich, Hippies und CEOs setzten sich gemeinsam für Kunst ein. Sogar Schulkinder spendeten ihr Sackgeld – eine wunderschöne Geschichte! Jetzt sind diese ehemaligen Kinder selber Grosseltern, und ich möchte sicherstellen, dass ihre Kinder und Enkelkinder sich auf dieselbe Weise für ihre Museen einsetzen.

Wie wollen Sie das angehen?

Bei allem Respekt für die Institution kann ich mit dem Blick der Aussenseiterin auch Veränderungen anstossen – keine Revolution, wohlgemerkt, das ist weder meine Absicht noch mein Stil. Aber ich habe mit der Findungskommission über eine veränderte Ausrichtung gesprochen, um das Kunstmuseum Basel mit sorgfältigen Eingriffen in das 21. und 22. Jahrhundert zu führen. Zudem habe ich das grosse Glück, dass ich auf Josef Helfenstein folgen und dessen schönes Vermächtnis fortsetzen darf. Ich glaube fest daran, dass das Kunstmuseum Basel eine entscheidende Rolle spielen kann, eben weil es potenziell immer zeitgenössisch ist.

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Spricht da die Vorliebe für Gegenwartskunst?

Im Gegenteil. Ich bin eine leidenschaftliche Kunsthistorikerin, und wenn ich an der Kunsthalle Basel Erfolg hatte, dann gerade deshalb. Ich habe immer Kunstschaffende ausgewählt, die ich für zukunftsträchtig hielt, und dafür die Kunstgeschichte als Referenzgrösse benutzt. Ich möchte, dass das Kunstmuseum Basel als lebendige Institution der Gegenwart begriffen wird. Aber nicht, indem ich Gegenwartskunst ausstelle, sondern indem ich das Museum als einen Ort behandle, an dem uns Holbeins «Leichnam Christi» und andere Werke etwas über unsere Gegenwart erzählen: über Krieg, Hunger, Ungerechtigkeit, uns selbst und unsere Vorstellung davon, wer wir einmal sein wollen.

Wann wurde Ihnen erstmals bewusst, wer Sie sein wollten?

Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen, meine Familie umgab sich nicht mit Büchern und Kultur. Aber als Fünfjährige nahm ich an einem Schulausflug teil, der mein Leben grundlegend verändert hat. Wir besuchten das Los Angeles County Museum of Art, und die Ausstellungsführerin erzählte uns Geschichten zu einzelnenWerken. Da wurde mir plötzlich bewusst, dass Bilder über Generationen hinweg sprechen können! Ich war tief bewegt. So keimte früh in mir die Überzeugung, dass Museen wichtige Orte sind, die allen Bürgerinnen und Bürgern ungeachtet ihrer Herkunft zugänglich sein sollten.

Ausgerechnet in der Filmstadt

Los Angeles wollten Sie Museumsdirektorin werden?

Als Mädchen hatte ich keine Ahnung, dass es den Beruf der Kuratorin oder Museumsdirektorin überhaupt gibt. Aber ich drängte meine alleinerziehende Mutter, mit mir weitere Museen zu besuchen. Und da ich mich so brennend für Kultur interessierte, nahm sie einen dritten Job an und sparte das nötige Geld zusammen, um mit mir dahin zu reisen, wo ihrem Verständnis nach Kunst zu finden war. So flogen wir nach Paris und besuchten den Louvre – ich erinnere mich an jede Einzelheit, als wäre es erst gestern gewesen.

Vermissen Sie die USA?

Familie, Freundinnen und Freunde sicher. Es ist nicht immer leicht, so weit weg von Zuhause zu sein. Andererseits ist meine Familie auch sehr stolz darauf, was ich alles erreicht habe. Meine Mutter wird mich besuchen, sobald ich die neue Stelle angetreten habe, um sich das Kunstmuseum Basel anzuschauen. Mir fehlt auch das Essen, vor allem mexikanisches Essen. In Los Angeles kann man für wenig Geld die ganze Welt erkunden, kulinarisch gesprochen.

Fühlen Sie sich in Basel heimisch?

Ich bin nun seit über 25 Jahren in Europa. Als ich mein Heimatland verliess, wählte ich das Leben einer Fremden, auch hier in Basel. Ursprünglich ging ich davon aus, dass ich nur eine begrenzte Zeit an der Kunsthalle bleiben würde. In meinen neun Jahren habe ich Basel mit diesem klaren Zeithorizont kennengelernt, doch jetzt hat sich diese Perspektive geändert. Ich habe mich dazu verpflichtet, die Geschichte des Kunstmuseums Basel weiterzuschreiben. Ich kann das Ende meines Aufenthaltes in Basel nicht mehr absehen, und das ist eine schöne Aussicht.

Wie verbringen Sie Ihre freie Zeit in Basel?

Ich schätze die Basler Kunstszene sehr und habe vor allem Kultur- und Kunstschaffende sowie Architektinnen und Architekten in meinem Freundeskreis. In Basel mischen sich die verschiedenen Bevölkerungsschichten nicht so leicht. Als künftige Botschafterin für Basel ist es aber auch meine Aufgabe, die Welt zu bereisen, um mich mit Kolleginnen und Kollegen zu treffen, Leihgaben und Wanderausstellungen zu ermöglichen und das Kunstmuseum Basel zu repräsentieren. Das ist weit mehr als eine Vollzeitstelle.

Trotzdem dürfte Ihr Gesicht vielen bekannt sein: 2022 hat Ramstein Optik Sie für eine Plakataktion porträtiert.

Was sich bei meiner Nominierung durchaus bemerkbar machte. Viele Leute sprachen mich auf offener Strasse oder in Geschäften an und sagten, wie stolz sie seien, dass ich mich nun um ihr Kunstmuseum kümmern würde. Ich bin überwältigt und sehr bewegt von diesen Reaktionen. Dass die Basler Bevölkerung mich jetzt schon kennt, ist ein schönes Gefühl.

Wird Ihr Eindruck von Fremdsein also irgendwann verschwinden –oder kultivieren Sie es absichtlich?

Ich kultiviere es. So grossartig ich hier empfangen wurde und so leicht mir das Leben als Expat gemacht wird, werde ich mich trotzdem immer als Amerikanerin in Basel fühlen. Das ist bei meinen Besuchen in den USA nicht anders: Weil ich schon so lange in Europa lebe, fühle ich mich auch dort als Fremde. Aber dieses Gefühl möchte ich auch gar nicht verlieren, weil das wahrscheinlich mit ein Grund ist, warum ich mit der Leitung des Kunstmuseums Basel betraut wurde. Ich verstehe seine bedeutende Geschichte, kann diese aber dank einer gewissen Distanz auch kritisch reflektieren. Dazu gehört, dass ich zwar intensiv Deutsch lerne, ab und zu aber trotzdem Englisch sprechen werde, weil ich meine Leidenschaft für Kunst so am intensivsten mit dem Publikum teilen kann. Ein Museum der Zukunft muss in vielen Sprachen – auch bildlichen –kommunizieren können und sich für Basels diverse Bevölkerung weiter öffnen.

Warum haben Sie sich gegen eine Karriere in Ihrer Heimat entschieden?

Wie Kulturinstitutionen auf beiden Seiten des Atlantiks betrieben werden, ist komplett verschieden. In den USA sind Museen privat finanziert und nicht öffentlich, sie haben weder eine demokratische Basis noch geniessen sie politische Unterstützung. Das Kunstmuseum Basel wird dagegen vom Kanton und von der Politik getragen, weil seine gesellschaftliche Bedeutung unbestritten

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ist. Das gibt es in dieser Form nicht in den USA, wo Institutionen und ihre Sammlungen immer Privatinteressen und den Launen ihrer Gönnerinnen und Gönner unterliegen. Natürlich sind auch Museen in Europa auf Drittmittel angewiesen. Doch ohne die Unterstützung der Regierung könnte sich kein europäisches Museum so konzentriert seiner Forschung widmen und Ausstellungen aufs Programm setzen, die keine Blockbuster sind.

Welche Zukunft hat die Kunst in Zeiten von Künstlicher Intelligenz?

Das ist eine grosse Frage. Jede neue Generation hat zu einem gewissen Grad Angst vor dem technologischen Fortschritt. Das war schon mit dem Aufkommen der Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts so, stets wurde das Ende der Kunst heraufbeschworen. Trotzdem wird heute immer noch gemalt, plastisch gearbeitet, fotografiert oder auf Zelluloid Film gedreht. Das Bedürfnis nach alten Materialien, Medien und ihrer Geschichte wird fortbestehen.

Und was für eine Zukunft wünschen Sie Basel?

Ich halte Basel in jeder Hinsicht für aussergewöhnlich, und das sollte sich diese Stadt bewahren. Dazu gehört auch, dass sie sich demografisch verändert. Die Geschichte dieser Stadt war immer auch von äusseren Impulsen geprägt. Fremde kommen, lassen sich nieder, werden Teil der Gemeinschaft und verändern mit ihren Ideen die Institutionen, die Arbeitswelt und damit die Gesellschaft. In diesem Sinn bin eben auch ich eine echte Baslerin!

ELENA FILIPOVIC Seit 2014 war Elena Filipovic Leiterin der Kunsthalle Basel, 2024 tritt sie ihr neues Amt als Direktorin des Kunstmuseums Basel an. Die Kunsthistorikerin und Kuratorin war vor ihrem Wechsel nach Basel Senior Curator am WIELS Contemporary Art Center in Brüssel.

HANNES NÜSSELER (*1973) ist Kulturjournalist bei der bz – Zeitung für die Region Basel.

BARBARA JENZER WE ARE FAMILY

Ein Porträt von Dieter Bopp

Barbara Jenzer hat das Lehrer:innenseminar besucht, als Hauswirtschaftslehrerin gearbeitet und war vegetarisch unterwegs, bis ihr Christoph Jenzer vor über dreiunddreissig Jahren über den Weg lief. Ganz konfliktfrei scheint die erste Begegnung nicht gewesen zu sein. «Wie geht es Deinen Säuli?», war eine der ersten Fragen, die die damalige Vegetarierin an den Metzgersohn in vierter Metzgergeneration richtete. Wir wissen nicht, wie Christoph Jenzer darauf reagierte, verbrieft ist jedoch, dass diese Frage der Grundstein für das nachhaltige und regionale Konzept der Metzgerei aus Arlesheim war.

Wie kommt also eine vegetarisch lebende junge Frau, heute Flexitarierin, mit diesem Widerspruch zurecht? Der Mann ist nun mal Metzger. Die Liebe ist sicher eine Antwort. Eine weitere die Überzeugung, einen 126-jährigen Metzgereibetrieb erfolgreich, nachhaltig, verantwortungsbewusst und für Kund:innen transparent ins 21. Jahrhundert führen zu können.

Mit dem Fleischkonsum im Allgemeinen ist es ja so eine Sache – vor allem heute in moralisch aufgeladenen Zeiten. Hierzulande verkaufen die Grossverteiler siebzig Prozent des an zwei Standorten produzierten Schweizer Fleisches. Das bedeutet, dass die Tiere im Durchschnitt einhundert bis zweihundert Kilometer zum Schlachtort trans-

portiert werden müssen. Die Verteilung in die Filialen der Konzerne packt nochmals bis zu zweihundert Kilometer drauf. Bis Ihr Kotelett aus dem Grossverteiler auf Ihrem Teller liegt, kann es also gut und gerne ein viel gereistes Stück Fleisch sein – und diese Kilometer sind wohlgemerkt golden im Vergleich zur EU. Was ist die Antwort der Metzgerei Jenzer darauf? Sie beginnt bei der Auswahl von Partnern, die eine artgerechte, regionale Tierhaltung garantieren, geht über die Fütterung mit natürlichen Nahrungsmitteln zu kurzen Transportwegen und endet bei der Weiterverarbeitung in der eigenen Metzgerei. Schöne Absichten, denken Sie jetzt vielleicht. Die Gedanken zu unserem Konsum und zu uns als Gesellschaft hören bei Barbara und Christoph Jenzer jedoch nicht beim Tier auf: Die Rinder und Kälber stammen von Bauernhöfen in der Nordwestschweiz, Kälber aus dem Baselbiet, was für kurze Wege und wenig Transportbelastung sorgt. Auf betrieblicher Ebene hat sich in den letzten Jahren der Heizenergieverbrauch der Metzgerei und des Gasthofs auf einen Drittel reduziert, sechzig Prozent der Wärme wird durch Wärmerückgewinnung produziert, fünfundzwanzig Prozent an Strom eingespart und der Wasserverbrauch bei der Produktion der berühmten Goldwurst um fast sechzig Prozent gesenkt. Zusammen mit dem Metzgermeisterverband beider Basel, regionalen landwirtschaftlichen Betrieben und den Metzgereien Andrist, Zimmermann, Henz und Schaad entsteht in Füllinsdorf das energieautarke «Metzgerhuus Stadt & Land». Ein kleiner Schlachthof mit einer Fleischwerkstatt und einem Laden, 365 Tage geöffnet, mit Selbstbedienung und freitags und samstags bedient, an dem die Metzgerei Jenzer Mehrheitsaktionärin ist. Innovativ und risikofreudig waren sie schon immer, die Jenzers. Manchmal sind sie aber auch ihrer Zeit zu weit voraus. Anfang der Neunzigerjahre experimentierte Christoph Jenzer an Gemüseburgern herum. Die Produkte waren damals nicht so erfolgreich. Heute sind sie ein beliebter und fester Bestandteil des Angebotes, zu dem auch vegane Produkte gehören. Eine gute Idee, wenn man davon ausgeht, dass der Fleischkonsum in den nächsten zwanzig Jahren vielleicht um fünfzig Prozent zurückgeht.

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Wenn wir schon in die Zukunft schauen: Eine Herzensangelegenheit ist für Barbara Jenzer die Berufs- und Weiterbildung junger Menschen. Dafür brennt sie. Zurzeit werden in der Metzgerei und im Gasthof sechzehn Lernende in fünf verschiedenen Berufen ausgebildet. Sie meint dazu nicht ganz uneigennützig: «Wir bilden unsere Zukunft selber aus, viele Ausgelernte kommen nach ihren Wanderjahren gerne zu uns zurück.» Neben ihren Aufgabengebieten im Metzgerei- und Gastronomiebetrieb wie Personal, Events, Aus- und Weiterbildung bikt sie gerne über die Hügel des Birstals oder streckt sich beim Yoga. Eine weitere Leidenschaft ist das Grillieren. Sie ist begeistert davon, bereitet vom Apéro bis zum Dessert alles auf dem Grill zu, denkt sich in ungezählten Versuchen neue Rezepte aus und gibt dazu Kurse auch nur für Frauen.

Überhaupt experimentieren alle in der fünfköpfigen Familie gern. Zentrum ist dabei die Kochinsel in der Küche der Wohnung über ihrem Gasthof zum Ochsen, der seit über hundert Jahren der Familie gehört. Dort wird kontrovers debattiert, gekocht, Rezepte werden diskutiert und ausprobiert. Insofern ist es naheliegend, dass die Maturarbeit der jüngsten Tochter ein Ratgeber zum Thema Food Waste ist, der Rezepte und Tipps im Umgang mit Abfall und Klimaschutz enthält. Vielleicht liegt es an diesem Austausch und der offenen Atmosphäre in der Familie, dass sich alle drei Kinder für einen Beruf in der Gastro-, Hotel- und Fleischwirtschaft entschieden haben. Ihnen gehört auch die Zukunft der beiden Familienbetriebe, in denen rund die Hälfte weiblich ist. Es sei denn, die Liebe macht einem von ihnen einen Strich durch die Pläne. Könnte ja sein. Für Barbara und Christoph Jenzer wäre das aber kein Weltuntergang, schliesslich kennen sie die Macht der Liebe. Love is the Key.

BARBARA JENZER ist in Muttenz geboren. Sie führt zusammen mit ihrem Mann die Metzgerei Jenzer und den Gasthof Ochsen in Arlesheim. Nebenbei ist sie im Vorstand HotellerieSuisse Basel und Region für Berufsbildung und Nachwuchs verantwortlich und im Gewerbeverein Arlesheim im OK Dorfmärkte.

SONJA SCHÖPFER BEGLEITEN SIE MICH AUF MEINER REISE

Guten Tag, darf ich mich vorstellen?

Mein Name ist Mira und ich habe grosses Glück, dass ich nicht einfach nach einer Nummer benannt bin, ist es doch viel persönlicher so. Stellen Sie sich vor, ich habe bereits einen weiten Weg hinter mir. Geboren wurde ich im Kopf einer wirklich coolen Designerin – diese Frau hat Stil. Es waren mehr als 200 Arbeitsschritte bis zu meiner Vollendung nötig. Dann der grosse Tag an der Messe in Paris. Ich, aber auch meine Schwestern wurden von vielen Menschen neugierig gemustert, in die Hände genommen, aufgesetzt und auf angenehme Haptik geprüft. Den beiden Einkäuferinnen bin ich sofort ins Auge gestochen – und das, obwohl sie an diesem Tag bestimmt schon über tausend Brillenfassungen angeschaut hatten. Ja, das spricht für mich, ich mache wirklich eine gute Falle! Flott verpackt, reise ich zusammen mit ein paar Freundinnen nach Basel.

Kaum ist der Karton geöffnet, schauen uns neugierige Augen an. Buh, endlich wieder Tageslicht. Was bin ich froh, frische Luft zu schnuppern. Nicht nur das, die freuen sich hier, dass wir nun zum Ramstein-Inventar gehören. Und schwuppdiwupp – ich bin noch nicht mal ausgezeichnet – werde ich zusammen mit zwei Konkurrentinnen auf ein Holztablar gelegt und einer jungen Baslerin präsentiert: «showtime»! Fällt mir leicht, denn meine Designerin hat mir

das in die Wiege gelegt. 1356, ein armes Ding mit Nummer statt Name auf dem Brettchen neben mir, tut sich da viel schwerer, besticht jedoch durch schlichte Eleganz. Wir beide sind sogenannte Unisexbrillen, was bedeutet, dass wir sowohl von einer Frau als auch von einem Mann getragen werden können. Wir sind also ganz zeitgemäss und passen in die Gender-fluid-Generation. Die dritte im Bunde ist die hochnäsige Caty mit Cateye-Form, fühlt sich zu Besserem berufen und ist überzeugt, das Rennen zu machen. Die Kundin setzt uns nacheinander auf ihre Nase und ist überrascht, wie gut wir drei ihr stehen. Sie wirkt mit jeder komplett anders. Ich lache mir ins Fäustchen, denn mit der Caty fühlt sie sich zu zickig und sortiert sie aus. Caty lässt beleidigt verlauten, dass sie sich eh lieber mit einer reiferen, eleganteren Frau einlasse. Es gibt noch weitere Casting-Runden und ich lerne andere eigenwillige und attraktive Kolleginnen kennen. Und doch bleiben 1356 und ich bis zum Schluss im Rennen. Erst vor dem grossen Spiegel entscheidet sich die Baslerin dann für mich – Liebe auf den ersten Blick! Natürlich fühle ich mich sehr geehrt, doch es heisst leider auch Abschied nehmen von meinen Liebsten. Mit dem Warenlift geht es hoch ins Atelier, wo ich von einem Computer abgetastet werde. Das kitzelt wie verrückt und ich muss mich beherrschen, dass ich die Contenance nicht verliere. Doch schon bald bin ich dank flinken Händen mit dünnen, leichten Kunststoffgläsern bestückt. Eigentlich bin ich erst jetzt wirklich erwachsen. Genau noch eine Nacht darf ich hier in diesem wunderbaren Geschäft verbringen. Sowas von schade, wir hätten noch etliche prima Partynächte zusammen feiern können. Doch meine Bestimmung ist, dass ich die junge Baslerin so richtig glücklich mache. Ich hoffe fest, dass sie mich mit dem gebührenden Respekt behandelt und wir beste Freundinnen werden, die zusammen durch dick und dünn gehen. Aber jetzt wird erst mal so richtig gefeiert!

SONJA SCHÖPFER gehört der Geschäftsleitung von Ramstein Optik an. Seit Jahren ist sie mit viel Herzblut verantwortlich für den innovativen Einkauf eines exklusiven Brillensortiments.

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RENÉE LEVI

SPINOZA, DIE OPTIK UND DIE ETHIK

Ein Gespräch mit Susanna Koeberle

Dass der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677) hauptberuflich Glasschleifer war, wissen in der Regel nur Eingeweihte. Dieses «Detail» hat Renée Levi dazu bewogen, mich zu gemeinsamen Gesprächen und zu diesem Text einzuladen. Die Wahrnehmung, präziser die Relativität unserer Wahrnehmung spielt für Spinozas Weltauffassung eine bedeutende Rolle. Was der in Amsterdam in eine jüdischesephardische Familie Geborene dachte und festhielt, schien damals so unerhört, dass er aus der jüdischen Gemeinde verbannt und mit einem Bannfluch belegt wurde. Er musste Amsterdam verlassen und führte fortan ein Leben als Aussenseiter. Eine Professur in Heidelberg lehnte er ab. Vielleicht lässt sich aus dieser Haltung die Radikalität und Verwegenheit seiner Gedankenwelt erklären. Sein religionskritisches Werk lässt nicht darauf schliessen, dass er Atheist war. Er sah das Göttliche einfach mit anderen Augen, mit einem 360-GradBlick gewissermassen.

Das Drehen und Schleifen von optischen Linsen erlernte der «Handwerker-Philosoph» 1 erst, nachdem er aufgrund der hohen Verschuldung des väterlichen Unternehmens die Erbschaft abgelehnt hatte. Materielle Unabhängigkeit durch das Werk seiner Hände war ihm wichtig. Vermutlich ist die Wahl des Berufs des Linsenschleifers dem Interesse an der Philosophie von Descartes geschuldet, mit der er in den späten 1650er-Jahren in Berührung kam. Philosophen verstanden sich zu jener Zeit als Wissenschaftler, weswegen die Beschäftigung mit der Optik oder der Mathematik gar nicht so abwegig war. Die handwerkliche Betätigung betrachtete der Glasschleifer Spinoza als Voraussetzung für das Denken und Bildungsdünkel erachtete er als gefährlich. Es hätte ihn vielleicht gefreut zu erfahren, dass die moderne Wissenschaft seine Thesen zum Verhältnis von körperlicher und geistiger Arbeit bestätigt. 2 Die in der abendländischen Philosophie jener Zeit etablierte Trennung von Geist und Körper oder Subjekt und Objekt lehnte er dezidiert ab; ebenso diejenige zwischen Natur und Gott. Spinoza verstand Gott als immanente und nicht als transzendente Ursache aller Dinge. Das macht deutlich, woran sich damals auch die christliche Kirche stiess. Diese Ansichten machten aus dem Monisten einen Pantheisten, der das dualistische Weltbild hinterfragte.

Dass seine eigenen Schriften angegriffen wurden, machte sein Leben wohl nicht einfacher, doch Spinoza übte sich in Demut und arbeitete weiter als philosophierender Handwerker und handwerkender Philosoph. Das Verbot seines «Theologisch-politischen Traktates» bedeutete zugleich, dass seine 1675 fertiggestellte «Ethik» nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht werden konnte. Auch nach seinem Tod wiesen nur seine Initialen B.D.S. auf den Autor der Schrift hin. Aber das war ganz im Sinne des bescheidenen Mannes. Er war der Ansicht, dass der Mensch nicht das autonome Wesen ist, für das er sich bis heute hält. Auf dem menschlichen Exzeptionalismus gründen viele Probleme – nicht zuletzt die Klimakrise. Genau diese Einsicht macht Spinozas Gedanken heute aktueller denn je. Es sind die Gedanken eines Menschen, der erkann-

te, dass wir unseren Affekten zwar ausgeliefert sind, doch zugleich die Freiheit besitzen, diese einzuordnen und zu reflektieren.

1 So nennt ihn der französische Denker Gilles Deleuze in seinem Buch «Spinoza. Praktische Philosophie» (1981).

2 Das hält auch Joachim Gerd Ulrich in seinem Buch «Baruch de Spinoza – Philosoph und Handwerker. Berufliche Bildung aus der Perspektive eines ungewöhnlichen Menschen» (2022) fest.

RENÉE LEVI ist in Istanbul geboren, 1964 in die Schweiz immigriert und lebt seit 1980 in Basel. Sie studierte erst Architektur in Muttenz und dann 1987–91 bildende Kunst an der ZHdK Zürich. Von 2001–22 hatte sie eine Professur für Bildende Kunst und Malerei an der FHNW/HGK in Basel inne. Sie ist Zeichnerin und Malerin und realisiert zusammen mit Marcel Schmid In-situ-Arbeiten wie zuletzt für den Swiss Innovation Park in Allschwil oder das Tympanon fürs Bundeshaus in Bern.

SUSANNA KOEBERLE ist freischaffende Journalistin, Autorin und Kuratorin. Sie studierte Germanistik, Komparatistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Sie schreibt für Schweizer Medien über Design, Kunst und Architektur und publiziert regel mässig Buchbeiträge. Sie ist Mitherausgeberin der Biografie der Galeristin und Schauspielerin Elisabeth Kübler, erschienen 2022 in der Edition Patrick Frey. Ihr spezielles Interesse gilt den Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Disziplinen.

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NACHTLEBEN –

PERFORMATIVER AKT UND KULTURELLE INNOVATION

Als junger Mensch in Basel bewege ich mich, neben meiner künstlerischen Tätigkeit, gerne auch im Nachtleben. Sei dies durch meine Arbeit an der Bar oder selber als Konsument.

Auch in meiner künstlerischen Arbeit widme ich mich oft verschiedenen Themen, auf die ich auch im Nachtleben stosse. Für mich haben das Nachtleben und die Bildende Kunst diverse gemeinsame Nenner. Die in den letzten Jahren immer grössere Rolle der kreativen Szene im Basler «Ausgang» bestätigt diese These. Junge Künstler*innen werden zunehmend spartenübergreifend, wodurch sich neue Formen der künstlerischen Ausdrucksweise entwickeln. Überall treten transdisziplinäre Konzepte und Veranstaltungen zu Tage – oder eben zu Nacht. Gleichzeitig wird das Nachtleben selbst immer performativer und bietet Raum für Diskussionen über eine breite Palette von Inhalten.

Auch die Performancekunst zeichnet sich oft durch eine bewusste Inszenierung aus, bei der Künstler*innen ihre

Körper, ihre Bewegungen und manchmal auch gesprochene Worte einsetzen, um eine emotionale oder intellektuelle Botschaft zu vermitteln. Analog dazu bildet das Ausgehen in Clubs eine Form der Selbstinszenierung.

«Was machen diese Nachtlebenleute eigentlich, wenn sie da jedes Wochenende irgendwo zum Feiern gehen? Sie hören Musik und tanzen. Sie gehen aus zum Abfeiern, Aufreissen und Ausrasten. Sie betreten finstere Löcher, da, wo über der Türe das Schild hängt: wissen, wer ich bin. – Wer bist du? – Sie reden und verstehen sich, ohne hören zu können, was der andere sagt. Die ausgetauschten Worte passen nicht so richtig zueinander. Es ist auch dauernd ziemlich laut und ziemlich voll. Wirr: der eine Typ. Dark: ein zweiter. Sie tanzen und vergessen, was sie denken.» Rainald Goetz

Für mich fungiert das Nachtleben als ein Ort der kulturellen Entfaltung. Es ist weit mehr als nur eine Gelegenheit, bis in die frühen Morgenstunden durchzufeiern. Es stellt eine kulturelle Arena dar, die einen unverzichtbaren Beitrag zum kulturellen Reichtum einer Gesellschaft leistet. Neben den pulsierenden Lichtern und der mitreissenden Musik öffnet sich eine Welt, die vielfältige Formen der Selbstexpression, soziale Interaktion und kulturelle Innovation ermöglicht.

Es treffen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Lebensstilen und unterschiedlichem sozialem Status aufeinander. Diese interkulturelle Begegnung trägt dazu bei, gesellschaftliche Grenzen zu überwinden und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen. In diesem Umfeld entstehen oft Freundschaften und Communities, die über den nächtlichen Ausnahmezustand hinaus Bestand haben.

Der Club ist auch dazu da, sich selbst von seinem konventionellen Dasein abzulenken. Man gönnt sich Urlaub von seinem zurechtgerückten Selbst. Mithilfe verschiedener Substanzen werden Hemmungen überwunden und die alltägliche Ernsthaftigkeit für eine Zeit beiseite gelegt. Dieser Rausch bietet die Möglichkeit, das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten – sich hemmungslos zu positionieren.

Das Clubbing bringt dabei körperliche Nähe, entfesselte Handlungen – und einen offenen sozialen Umgang, wie er auf der Strasse oft kaum denkbar wäre.

Wenn wir das Nachtleben als integralen Bestandteil unserer Kultur begreifen, erkennen wir seine Bedeutung für die Förderung von Kreativität, sozialer Integration und kultureller Evolution an und öffnen den Blick auf dieses Laboratorium für Innovation.

Diese Gedanken bilden die Ausgangslage zu meinem ersten abendfüllenden Programm «Tales of the Club», das ich im April 2024 mit einem interdisziplinären Team von Kunst- und Kulturschaffenden in der Kaserne Basel realisieren darf.

LUKAS STÄUBLE *1993, wohnhaft in Basel, absolvierte 2022 seinen Master im Fachbereich Fine Arts an der Hochschule für Gestaltung und Kunst. In seinen Soloperformances beschäftigt er sich mit den aktuellen Medien und versucht Bereiche wie Video, Sound, Fotografie, Performance und Theater auf eine installative und teils performative Weise zu verbinden. Er arbeitet als freischaffender Performer, Schauspieler, Musiker und Sounddesigner.

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LUKAS STÄUBLE

DAS AUGE: UNSER TOR ZUR WELT

HENDRIK P.N. SCHOLL

1. Dezember 2023, Kunstmuseum Basel, Hauptbau, 1. Obergeschoss, Raum 31:

Die Impressionisten haben es mir schon immer angetan … Ich betrete den Ausstellungsraum im Kunstmuseum mit zwei wunderbaren Monets. Rechts «Die Steilküste von Aval» aus dem Jahr 1884. Es dominieren Blau und Rot – also die ganz breite Palette der vom Menschen wahrnehmbaren Farben von geringen (violett bis blau) bis zu hohen Wellenlängen des Lichts (rot). Das Bild ist «hauchig» und frisch, für die impressionistische Malweise sind die Konturen relativ scharf.

Links davon hängt das Gemälde «Der Steg über den Seerosenteich» von 1919. Es ist ganz anders. Es dominieren «Erdfarben»: Gelb, Grün, Braun. Natürlich passen die Farben zum Sujet, dennoch spricht eine andere Seherfahrung aus dem Bild – und natürlich eine Meisterschaft, Objekte auf die Leinwand zu bannen, die gerade erst mit einigem Sehabstand besser erkennbar werden. Ein Meisterwerk, aber eben auch das «Ergebnis» einer Augenkrankheit.

Claude Monet litt in seinen späteren Jahren stark unter dem Fortschreiten des Grauen Stars (Katarakt). Bei der Katarakt trübt sich die Linse des Auges, was zu einer Sehbehinderung führt. Monets Kampf mit der Katarakt beeinflusste sowohl sein persönliches Leben als

auch sein künstlerisches Schaffen zutiefst. Mit dem Fortschreiten der Katarakt wurde Monets Wahrnehmung von Farben und Formen verzerrt. Die lebhaften Farbtöne, die seine früheren Werke auszeichneten, wurden zunehmend gedämpft, und er hatte Schwierigkeiten, zwischen den einzelnen Tönen zu unterscheiden. Diese Beeinträchtigung des Sehvermögens wirkte sich stark auf seine Fähigkeit aus, die lebendigen, lichtdurchfluteten Szenen wiederzugeben, für die er gefeiert wurde. Monets Briefe und Berichte von Freunden und Verwandten offenbaren das Ausmass seines Leidens. Er beklagte sich oft darüber, dass er alles «stumpf und blass» sah, und seine Frustration über die Einschränkungen, die ihm seine nachlassende Sehkraft auferlegte, ist deutlich spürbar. Die Verschlechterung seines Sehvermögens belastete seine Beziehungen und trug zu einem Gefühl der Isolation bei.

1912 unterzog sich Monet einer Katarakt-Operation an seinem rechten Auge, in der Hoffnung, die Sehschwäche zu lindern. Die Operation hatte jedoch gemischte Ergebnisse. Während sie seine Wahrnehmung vorübergehend verbesserte, verschlechterte sich Monets linkes Auge weiter. Trotz seiner eingeschränkten Sehkraft malte er weiter, ein Beweis für seine Hingabe und Leidenschaft.

Monets Erfahrung des nachlassenden Sehvermögens aufgrund der Katarakt verdeutlicht auch den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Kreativität. Seine Beharrlichkeit im Angesicht visueller Herausforderungen fügt seinem Vermächtnis eine ergreifende Ebene hinzu und zeigt die tiefe Verbindung zwischen dem körperlichen Wohlbefinden eines Künstlers und der Ausdruckskraft seiner Arbeit.

Tatsächlich ist die Katarakt-Operation die häufigste Operation in der Medizin überhaupt und hat für mich als Augenarzt diesen sofortigen Effekt aufs Wohlergehen: Eine viertelstündige ambulante Operation führt typischerweise unmittelbar zu einer sprunghaften Verbesserung des Sehvermögens – oft eine Wiederherstellung einer normalen Sehschärfe. Ich finde die Katarakt-Operation beispielhaft, wozu die moderne Medizin fähig ist, und die vielen Dutzend Patientinnen und Patienten, denen wir so jede Woche unmittelbar helfen können, machen meinen Beruf ganz einfach schön.

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2. DEZEMBER 2023, AUGENSPITAL BASEL:

Der erste Schnee des Jahres verzaubert den Samstagmorgen im Garten des Augenspitals. Vor dem Hörsaal sammeln sich langsam Dutzende Personen. Viele sehen schlecht, manche fast gar nichts. Die Retina Suisse, die Vereinigung von Patientinnen und Patienten mit Retinitis pigmentosa, Makuladegeneration, UsherSyndrom und anderen Erkrankungen des Augenhintergrundes, lädt zu einer Veranstaltung zum Stand der Therapieentwicklung bei Retinitis pigmentosa ein. Mit Stephan Hüsler, selbst von Retinitis pigmentosa betroffen, haben wir diese Veranstaltung geplant – zusammen mit dem Augenspital, dem Institut für klinische und molekulare Augenheilkunde Basel (IOB), dem European Vision Institute und dem europäischen Forschungsnetzwerk GET-READY.

Stephan beeindruckt mich: Er sieht nur noch sehr wenig, ist auf fremde Hilfe wie seinen Blindenhund oder seine Frau angewiesen, aber strahlt eine unglaubliche Positivität aus. Fast unglaublich aus heutiger Perspektive: Stephan war früher Mitglied der Päpstlichen Schweizergarde! Wenn man sich die Aufnahmebedingungen ansieht, bekommt man einen Eindruck, in was für einer grossartigen Verfassung er gewesen sein muss (und immer noch ist), aber eben auch, wie gut er damals noch gesehen haben muss.

Bei Retinitis pigmentosa gehen, aufgrund eines Erbdefekts, die Sehzellen am Augenhintergrund (in der Netzhaut) langsam zugrunde. Wir können als Augenärzte in den meisten Fällen nichts machen. Anders als die Katarakt, die nach möglichst perfekter Krankenversorgung verlangt, beleuchtet diese Netzhauterkrankung die andere Seite meiner Tätigkeit: die Erforschung und Entwicklung neuer Behandlungsmethoden. Hier stehen wir am Anfang: Zwar können wir den zugrunde liegenden Gendefekt meistens herausfinden und dank der Ophthalmogenetik-Gruppe von Prof. Carlo Rivolta auch bisher unbekannte Gendefekte finden, aber «reparieren» können wir diese Gendefekte im Menschen bisher nicht. Zusammen mit Prof. Bence György ist es uns zwar gelungen, im Tiermodell einen einzigen «Buchstaben» des menschlichen Genoms (mit 6,4 Milliarden Basen, als «Buchstaben») auszutauschen und damit den Gendefekt einer wichti-

gen Makuladegeneration zu reparieren, aber wir sind noch nicht «in der Klinik», also in einer Behandlungsstudie mit Patientinnen und Patienten.

Wir haben an jenem Samstag den Patientinnen und Patienten über viele spannende Entwicklungen berichten können und wir konnten ihnen Hoffnung geben. Für uns als Augenärzte war das Inspiration und Motivation, uns für die Heilung dieses bemerkenswerten Organs einzusetzen.

Das menschliche Auge ist unser erster Kontakt zur Welt. Es ist ein komplexes Sinnesorgan, welches uns erlaubt, die Welt mit Kontrast, Farben und Details wahrzunehmen. Die Anatomie des Auges ist ein Wunderwerk der Präzision. Hornhaut, Linse und Netzhaut arbeiten zusammen, um das Licht zu brechen und auf die Sehzellen der Netzhaut zu fokussieren. Gleichzeitig ist Sehen nicht nur die passive Aufnahme von Licht, sondern ein aktiver Interpretationsprozess. Die Augen scannen ständig, sodass wir uns auf bestimmte Details konzentrieren und ein kohärentes Gesichtsfeld wahrnehmen können. Über die Kommunikation hinaus tragen die Augen zum ästhetischen Empfinden bei. Sie ermöglichen es uns, die Schönheit der Welt zu sehen, von den filigranen Details einer Blume bis hin zu den Weiten einer sternenklaren Nacht.

Der Schutz und die Erhaltung der Augengesundheit sind für die Bewahrung dieser lebenswichtigen Verbindung zur Welt unerlässlich. Regelmässige Augenuntersuchungen und ein gesunder Lebensstil tragen alle dazu bei, eine optimale Sehkraft zu erhalten.

Im Grunde ist das menschliche Auge nicht nur ein biologisches Wunderwerk, sondern unser Tor zur Welt. Sein kompliziertes Design und seine Funktionalität prägen unsere Erfahrungen, beeinflussen unsere Gefühle und erleichtern unsere Beziehungen zu anderen. Die Anerkennung der tiefgreifenden Rolle der Augen in unserem täglichen Leben unterstreicht die Bedeutung der Augenheilkunde – das Sehen zu erhalten oder wiederherzustellen.

Was habe ich für einen wunderbaren Beruf!

HENDRIK SCHOLL ist Professor für Augenheilkunde und Chefarzt des Augenspitals Basel. Er ist einer der beiden Gründungsdirektoren des Instituts für Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB). Er studierte Medizin und Philosophie an der Universität Tübingen. Seine wissenschaftliche und klinische Laufbahn umfasste Stationen an der Universitäts-Augenklinik Tübingen, dem Moorfields Eye Hospital in London und der Universitäts-Augenklinik Bonn. Von 2010 bis 2016 war er Professor für Augenheilkunde am Wilmer Eye Institute der Johns Hopkins University in Baltimore (USA).

Umwege zu laufen gehört zu meinem Repertoire. Meiner Intuition folgend hinterlasse ich unauffällig kleine Spuren an Orten, die mehr Geschichte in sich bergen als die bekannten Sehenswürdigkeiten dieser Stadt.

Indem ich mich durch verschiedene kleine Gassen schlängle, gestalte ich meine eigenen Wege. Auf der Suche nach neuen Routen lasse ich mich von unterschiedlichen Reizen leiten, die erst

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LA NEFERA ZUM RHYTHMUS DES LEBENS GEHEN

entdeckt werden wollen. Mit neugierigem Blick erkunde ich die Umgebung, bis mich an einer Tramhaltestelle eine Dame nach dem Zweck meiner Suche fragt. Ohne zu zögern erkläre ich, dass ich den pulsierenden Rhythmus der Stadt erkunden möchte – mal in gemächlichem Tempo, dann wieder eilig, mal zögerlich, manchmal sogar tanzend. Diesmal begleitet mich der fröhliche Gesang einer Strassenmusikerin an der Ecke.

Ihr Gesang wird vom wütenden Rufen einer demonstrierenden Menschenmenge übertönt, die sich nähert. An vorderster Linie werden Flugblätter verteilt. Das Lied von JLo erklingt aus den Lautsprechern: «Let’s Get Loud». Die genaue Anzahl der Schritte ist mir entfallen, doch ich erinnere mich an die vielen, die ich auf den Strassen vom Barfi bis zum Dreirosenareal gegangen bin, getrieben von den Themen, die mich bewegen. Ohne die Menschen neben mir persönlich zu kennen, marschierte ich Schulter an Schulter mit Vertreter*innen unterschiedlichster Stimmen, die bisher kein Gehör gefunden haben. Uns vereinte der gemeinsame Wunsch nach Veränderung, obwohl die Furcht davor in uns allen schlummert. Doch so, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben! Das ist so klar wie das Wasser des Rheins an einem sommerlichen Tag. Ich begleite die Demonstration bis zur Mittleren Brücke und fühle mich dort wie magisch vom glitzernden Wasser angezogen.

Leicht schwebend lasse ich mich im Fluss vom rhythmischen Tanz des Wassers treiben. Meine Ohren verweilen im Lauschen der Unterwassergeräusche. Ich versuche mir vorzustellen, was die anderen Menschen im Wasser bewegt. So viele Lebenswelten auf engstem Raum, die nichts voneinander wissen. Doch sie alle suchen dasselbe – eine erfrischende Abkühlung, die Entspannung nach dem täglichen Kampf. Menschen mit prall gefüllten und eher schmalen Geldbörsen lassen den Tag am Ufer des Rheins ausklingen. Sie alle geniessen gleichermassen den atemberaubenden Sonnenuntergang. Die äusseren Umstände mögen verschieden sein, doch die Emotionen scheinen bei uns allen erstaunlich ähnlich. Worin liegen die Unterschiede, wenn wir das Materielle einmal beiseitelegen?

Eine kleine Gruppe musiziert, und die lateinamerikanischen Klänge üben eine magische Anziehungskraft auf die Menge aus. Die Tanzschritte aus dem Salsakurs werden mit Begeisterung präsen-

tiert, begleitet von fröhlichen Gesichtern. Jedoch scheinen die Mienen der Musiker*innen nicht so strahlend zu sein, wenn sie einen Blick in den Hut werfen. Ein Gefühl, das mir nur allzu bekannt ist, wenn ich die Gagen für meine eigenen Konzerte aushandle. Die Frage drängt sich auf: Inwieweit gelingt es den anwesenden Personen, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten?

Morgen früh wird die Sonne wieder aufgehen. In welchem Rhythmus wirst du dich bewegen?

LA NEFERA bürgerlich Jennifer Perez, leitet ihren Namen von Nefertiti, der ägyptischen Königin, ab. Geboren und aufgewachsen in der Dominikanischen Republik, hat die vielseitig engagierte Musikerin stets ein Stück ihrer Kultur bewahrt. In der Schweizer Musikszene ist sie längst durch ihren EmpowermentRap bekannt. Im Jahr 2020 erhielt sie den Förderpreis Musik des Kantons Basel-Landschaft 2022 den Basler Pop-Preis.

Aus dem Blickwinkel und mit der Brille des Gleichgewichts betrachtet, ist Vitalität eine Frage des Gleichgewichts, sowohl von aussen nach innen als auch von innen nach aussen.

Geht man davon aus – und davon kann man ausgehen –, dass der Mensch eine individuelle, aber in sich verbundene Einheit bildet, so wird einem bewusst, dass Ausgewogenheit, Balance einen wichtigen Faktor für Vitalität darstellt. Ausgewogenheit bedeutet in dem Fall, dass sich alles die Waage hält.

Das Bestreben des Menschen ist es stets, ein gewisses Gleichgewicht zu erlangen, und das in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Somit lassen sich äussere Lebensumstände und inneres Befinden nicht voneinander trennen bzw. sie bedingen sich gegenseitig. Die essenziellen Körperetagen, wenn es um Gleichgewicht und Balance geht, sind die Füsse, das Becken, die oberen Halswirbel sowie die Ohren und die Augen. Wenn sich die Gleichgewichtsorgane Augen und Ohren in der Horizontalen ausgerichtet befinden, so schafft dies Sicherheit. Somit sind Sicherheit und Vitalität eng miteinander verbunden, und durch die Brille des Gleichgewichts betrachtet ist eine gute, individuelle Funktionalität dieser Körperetagen sehr wichtig.

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NIELS FISCHER DEMUTH VITALITÄT DURCH DIE BRILLE DES GLEICHGEWICHTS

In unsere Praxis kommen viele Menschen, denen das fehlende Gleichgewicht Beschwerden bereitet. Sie sind sehr vielfältig: Kopfschmerzen, Nackenverspannungen, Kreuzbeschwerden, Hüft- und Knieprobleme oder Schulter-Arm-Beschwerden, um nur die häufigsten zu nennen. In der Therapie ist es daher wichtig, nicht nur das Symptom zu behandeln, sondern nach der Ursache des Ungleichgewichts zu suchen. Sie kann oftmals fern der eigentlichen Schmerzregion liegen. So gibt es aufsteigende Ursache-Folge-Ketten, zum Beispiel kann bei Kopfschmerzen ein Fussproblem zugrunde liegen, oder bei absteigenden wie bei chronischen Hüftbeschwerden nicht selten die oberen Halswirbel, oder es kann eine Hornhautverkrümmung der Augen ursächlich sein. Als Therapeuten sind wir bestrebt, die Beschwerden immer aus der Warte des Menschen zu betrachten, der zu uns kommt.

Die FOI (Funktionelle Orthonomie und Integration) hat sich dem Ansatz des Gleichgewichts und der individuellen Kompensation verschrieben. Somit stehen der Mensch in seiner Individualität und die Ehrlichkeit in der Therapie immer im Mittelpunkt.

Wie bei einer herkömmlichen Balkenwaage entsteht Gleichgewicht, wenn die Gewichte, die in der Waagschale liegen, ausgeglichen sind und sich der Waagebalken in der Horizontalen befindet. Die Kräfte, die auf die Waage wirken, sind somit gleichmässig verteilt. Auf den Menschen bezogen bedeutet dies, dass alle Strukturen, wie zum Beispiel die Muskulatur, die Gelenke oder die Bandscheiben, eine normale Spannung aufweisen und gleichmässig belastet werden, wenn der Körperschwerpunkt in die Unterstützungsfläche der Füsse fällt.

Ziel der FOI-Therapie ist es, dieses individuelle Gleichgewicht durch sanfte Techniken wiederherzustellen und so dem Menschen wieder die Möglichkeit zu geben, sich in einem körperlich ausgeglichenen Zustand zu befinden.

NIELS FISCHER DEMUTH wurde 1974 in Deutschland geboren und lebt seit 2007 in Basel. 2012 gründete er im Herzen Basels das erste FOI-Kompetenzzentrum in der Schweiz. Er hat sich mit seinem Team auf chronische Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen spezialisiert. Neben seiner Praxisarbeit ist er seit 2008 Dozent im Ausbildungsinstitut für Funktionelle Orthonomie und Integration FOI und Autor dreier Bücher. foi­praxis.com

FRANZ-XAVER LEONHARDT FRANZ-XAVER BRAUCHT EINE NEUE BRILLE – IMMER WIEDER

«Ich bin im Klassenzimmer gerne hinten gesessen, habe aber wegen meiner Sehschwäche nicht nach vorne gesehen.» Franz-Xaver, der Dreikäsehoch, braucht eine neue Brille.

Mit der Brille sieht er endlich nach vorne, im doppelten Sinn: im Klassenzimmer und im Leben. «Ich möchte ein Hotel am Wasser besitzen», schreibt er in einem Schulaufsätzli zum Thema «Was ich einmal werden möchte». Ein kleiner Bub mit grossen Ideen.

Sein erstes Hotel hat Franz-Xaver, der Macher, mit 33 Jahren. Das Datum, an dem die Kaufverhandlungen ihre entscheidende Wendung nehmen, feiert er seither als «zweiten Geburtstag». Davor arbeitet er zehn Jahre auf diesen Traum hin, wird nach der Matur fast Koch, besucht die Hotelfachschule, macht sich selbstständig, wird Unternehmer. Mit der Übernahme des Krafft ist es wieder einmal so weit.

Franz-Xaver, der Visionär, braucht eine neue Brille.

Andi Bichweiler macht sie für ihn parat. Franz-Xaver, der Mutige, möchte seine erste Ramstein-Brille beim ersten Betreten des neuen Hotels – seines Krafft – zum ersten Mal tragen. Die beiden Unternehmer, Andi und Franz-Xaver, verbindet seither eine Freundschaft.

Dass der Schritt zum Hotelier mit einer Trennung im Privaten einhergeht, ist aus heutiger Sicht vielleicht logisch, damals aber nicht nur einfach. Veränderungen im Leben werden rückblickend zu Meilensteinen. «Zu Brillenmeilensteinen werden aber nur die positiven, die selbstbestimmten Wendungen», sagt Franz-Xaver, der Optimist. «Es sind am Ende oft Bauchentscheide.» Der kleine Bub mit den grossen Ideen ist jetzt ein grosser Bub mit grossen Ideen.

DIE MITTE SEIN

Private und berufliche Entwicklungsschritte von Franz-Xaver, dem Glückskind, gehen öfters Hand in Hand: die Liaison mit Catherine, damals Chef de Service, heute Direktorin im Krafft, die Geburten der beiden Kinder, der Ausbau des Unternehmens zu einem Betrieb mit mehreren Häusern und familiärer Arbeitsatmosphäre.

Liaisons, Allianzen, Verbindungen: Sie ermöglichen Neues. Und sie gelingen Franz-Xaver, dem Entwickler. Er ist von allen Seiten ansprechbar, schon bevor er sich in die Politik wagt. Er bewahrt sich den Blick für alle, richtet seinen Blick auf Neues, oft auch auf noch nicht Existierendes, Visionäres.

Der Einstieg in die aktive Politik gelingt denkbar knapp: «Eine einzige Stimme war ausschlaggebend.» Franz-Xaver zieht 2020 auf der Liste der Mitte in den Grossen Rat ein. Da ist es natürlich wieder so weit.

Franz-Xaver, der Zusammenbringer, braucht eine neue Brille. Wann kommt die nächste?

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«Meine Ideen reifen als Bilder zu Entscheidungen», sagt Franz-Xaver, der Offene. Mit der neuen Brille werden sie jeweils auch für seine Mitmenschen sichtbar. «Ich denke, es könnte bald wieder so weit sein.»

FRANZ-XAVER LEONHARDT

Hotellerie, Politik, Familie: In allen seinen drei grossen Lebensthemen bringt Franz-Xaver Menschen zusammen. Und er bringt alle drei Bereiche unter einen Hut. Er bildet die Mitte, denkt über Ränder hinweg, damit Neues entsteht. Sein Output ist beachtlich, obschon er von sich selber sagt: «Ich bin ein Träumer». Er ist CEO der Krafft Gruppe, Präsident von HotellerieSuisse Basel und Region und sitzt für Die Mitte im Grossen Rat.

Wunschgedanke – doch oft sind wir uns der Macht unserer Gedanken gar nicht bewusst.

Ist das Leben nicht ein einziger Traum? Wir denken uns etwas aus, und früher oder später ist es hier: materialisiert. Mir ist das in meiner ganzen Laufbahn so ergangen, und Ihnen wohl auch. So bin ich zu meinem ersten Optikergeschäft in Luzern gekommen. Ich wünschte mir so sehr die berufliche Selbstständigkeit, und etwas in mir war sich sicher und wartete geduldig darauf, dass es eines Tages eintreffen würde. Solche Sachen brauchen Zeit zum Reifen. Es ist wie bei einem Apfel, den man erst pflücken sollte, wenn er reif ist. Das war im März 1993.

Götti + Niederer Optik wurde schnell zum Inbegriff eines Geschäfts mit einer schönen Innenarchitektur und einer modernen Auswahl an Brillen. Mir hat das die Sicherheit gegeben, dass etwas grundsätzlich richtig ist, wenn es aus dem Herzen heraus geschieht, wenn wir auf diese leise Stimme der Intuition in uns hören. Das Vertrauen in meine Intuition wurde zu meinem Leitfaden. Auch wenn ich die Arbeit mit den Kunden liebte, wurde der Wunsch immer stärker, selbst Brillen zu kreieren, selbst etwas Schönes zu erschaffen.

So begann ich zu lernen, wie man eine Brille zeichnet, wie sie hergestellt wird und vor allem, wie «meine» Brillen aussehen sollten. Zuerst liess ich in Österreich für unser eigenes Geschäft eine kleine Kollektion in Naturhorn produzieren. Danach eine grössere Serie in Titanium und Acetat für befreundete Optiker. Das war im März 1998. Die erste Götti-Kollektion war geboren. Ins Leben gerufen von einem Wunsch und realisiert durch Gedanken und Taten.

Seit dieser Zeit lanciere ich zweimal im Jahr eine neue Kollektion. Meine Arbeit ist die gleiche geblieben, nur mein Umfeld hat sich geändert. «Meine» Brillen verkaufen wir heute an die schönsten Optiker-Geschäfte in der ganzen Welt.

bei uns in der Schweiz eine Manufaktur aufzubauen.

Nach wie vor fasziniert mich, wie aus einer Idee oder einem Wunsch Produkte oder auch ganze Häuser entstehen können. Manchmal habe ich das Gefühl, dass alles schon da ist und aus einem grossen Ganzen geschöpft werden kann. Oder wie ein grosser Marmorblock, der schon in sich alle Kunstwerke enthält, die man daraus erschaffen kann.

SVEN GÖTTI ist 1964 in Stockholm geboren und lebt in Zürich. Seine Eltern sind beide in Zürich aufgewachsen und kehrten nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Schweden mit den beiden Söhnen in die Schweiz zurück. Nach der Ausbildung zum Augenoptiker folgten die Meisterschule und diverse Auslandsaufenthalte sowie die Tätigkeit als Augenoptiker in Saint-Tropez und in Wien.

Seit 1993 arbeitet Sven Götti als selbstständiger Augenoptiker und Brillendesigner. Er ist der kreative Kopf der Götti Switzerland GmbH, welche rund 40 Personen in Wädenswil und rund 30 Aussendienst Mitarbeiter*innen in diversen Ländern beschäftigt.

Wir leben in einer faszinierenden Welt von Materie und können durch Gedanken und Handlungen Dinge materialisieren. Manchmal sind es kleine Dinge wie ein Kuchen, den wir backen, oder wir lassen ganze Häuser aus dem Boden wachsen. Am Anfang steht immer ein

Natürlich gibt es auf diesem Weg viele Herausforderungen, aber es gibt auch viele Dinge, die mich unglaublich freuen. So arbeiten wir seit 1998 erfolgreich mit denselben Produzenten in Deutschland, Österreich und Japan zusammen. Seit 2015 produzieren wir mit wachsendem Erfolg Brillen in unserer Firma in Wädenswil. Mittels 3D-Druck und innovativer Ideen wurde es möglich, auch

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SVEN GÖTTI IST DAS LEBEN NICHT EIN EINZIGER TRAUM?

EINE MAGISCHE WOCHE

MAIKE CRUSE IM INTERVIEW MIT DIETER BOPP

Die Art Basel und Ramstein, das ist eine Liebesgeschichte. Wir von Ramstein finden es wunderbar, wenn sich Basel Jahr für Jahr Anfang Juni mit vielen bunten Menschen füllt und unsere kleine Stadt mit internationalem Flair durchflutet wird. Umso glücklicher sind wir über das kurze Interview mit Maike Cruse, der Direktorin der Art Basel in Basel. Neun Jahre leitete sie das Gallery Weekend Berlin, nun ist sie als Direktorin der bedeutendsten Kunstmesse der Welt in unsere Stadt zurückgekehrt.

Im Juni 2024 werden Sie zum ersten Mal für die grösste Kunstmesse der Welt verantwortlich sein. Auf was freuen Sie sich besonders?

Wie jedes Jahr freue ich mich auf die ganze Art-Basel-Woche, doch dieses Jahr wird es besonders und aufregend zugleich für mich, denn es wird die erste Art Basel, die ich aktiv mitgestalten werde. Seit fast 20 Jahren besuche ich die Art Basel und habe ja auch ein paar Jahre selbst in der Kommunikation mitgearbeitet. Für mich ist es eine magische Woche, da man in diesem Museum auf Zeit die beste aktuelle Kunst sieht und die gesamte internationale Kunstwelt trifft, kennenlernt, mit ihr feiert und über Kunst spricht.

Wie sehen Sie die Beziehung der beiden europäischen Messen Art Basel in Basel und Paris + par Art Basel?

Es war ein grosser Coup der Art Basel, eine neue Messe in Paris zu eröffnen. Der europäische Kunstmarkt ist gross und wächst und es gibt genug Platz für zwei Messen. Paris ist in den letzten Jahren sehr attraktiv geworden, mit einer wachsenden Zahl von Sammlerinnen, Sammlern und Kunstschaffenden, einer lebendigen kreativen Szene sowie ambitionierten öffentlichen und privaten Kultureinrichtungen

Die französische Galeriengemeinschaft hat aktiv zur Gestaltung dieses dynamischen Umfelds beigetragen, und der Erfolg schlägt sich auch auf unsere Messe hier in Basel nieder. So sahen wir 2023 deutlich mehr Sammlerinnen und Sammler aus Frankreich in Basel. Es ist ein gegenseitiges Befruchten des Netzwerks.

Gleichzeitig sind unsere vier Messen einzigartig und sehr individuell verschieden. Die Art Basel ist nach wie vor die wichtigste Messe, hier hat die Art Basel ihre Wurzeln, an keinem anderen Ort ist sie so breit aufgestellt, mit Sektoren wie Unlimited, Parcours und dem Messeplatz. Wir freuen uns sehr, dass wir mit allen Basler Kunstorten, den hochkarätigen Institutionen, der Liste und dem Basel Social Club so eng kooperieren. Die Liste ist die einzige Kunstmesse weltweit, die sich ganz und ausschliesslich auf die besten jungen Galerien fokussiert, mit dem Basel Social Club gibt es einen flexiblen Underground Club, der aus der Basler Szene entstanden ist. Beide Veranstaltungen ergänzen unser Programm perfekt. Die Magie der Art Basel ist auch in der Stadtstruktur begründet. In keiner anderen Stadt steht die ganze Stadt im Zeichen der Kunst. Die hervorragenden Kunstinstitutionen, wie die Fondation Beyeler, das Kunstmuseum und die Kunsthalle Basel, sind fast alle fussläufig oder mit ein paar Tramstationen erreichbar, überall trifft man auf Kunstliebhaberinnen und Kunstliebhaber. Nirgends sonst ist das Kunsterlebnis so konzentriert und gleichzeitig hochkarätig wie zur Art Basel in Basel.

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Wir leben in turbulenten Zeiten. Wo sehen Sie die Gefahren für unsere Gesellschaft und die Kunst?

Die Gefahr ist, dass die Leute nicht mehr miteinander sprechen, dass nuancierte Diskussionen und einander zuhören nicht mehr möglich sind. Gerade in der Kunst, aber auch für eine weltoffene, freiheitsliebende Gesellschaft ist es wichtig, dass wir keine Gräben ausheben, aus denen wir nicht mehr rausschauen können, sondern Gespräche auf Augenhöhe und mit Respekt führen. Nur so können wir voneinander lernen und nur so kann Frieden einkehren.

Sie haben in London Kunst studiert, lebten die letzten Jahre in Berlin und kehrten im Sommer in das beschauliche Basel zurück. Was sind Ihre Eindrücke der Stadt Basel?

Basel macht grossen Spass. Ich bin sehr herzlich aufgenommen worden und habe gleich viele Gespräche mit Baslerinnen und Baslern geführt. Ich bin beeindruckt davon, wie wichtig den Menschen hier die Kunst ist und mit welchem Stolz und Engagement die Institutionen und Künstlerinnen und Künstler unterstützt werden. Ausserdem habe ich in diesem heissen ersten Sommer das Rheinschwimmen für mich entdeckt.

Wenn Sie die Augen schliessen –wie sehen Sie die Art Basel im Jahr 2030?

Die Kunst wird sich weiterentwickelt haben. Viele Künstlerinnen und Künstler, die wir heute sehen, werden auch 2030 zu sehen sein, natürlich gibt es viele neue Namen, vor allem im Nachwuchsbereich, den wir heute als den Statement Sektor bezeichnen. Wohin sich die Kunst entwickeln wird, kann man leider noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erahnen. Ein grosser Traum von mir wäre es aber, bis dahin klimaneutral zu sein, weite Teile der Stadt, so auch der versiegelte Messeplatz, sind aufgebrochen und weichen einem Wald und Blumenwiesen, auf dem Dach der Messehallen gibt es Platz für Bienenvölker und nistende Vögel. Ich bin mir sicher, dass dies ein guter Ort wäre, um die Kunst der Zukunft zu gestalten.

MAIKE CRUSE war von 2013 bis 2023 Direktorin des Gallery Weekend Berlin, dem jährlichen Schaufenster der dynamischen Galerienszene der Stadt Berlin. Sie bringt umfangreiche Erfahrung im Bereich von Kunstmessen mit, da sie zuvor die art berlin contemporary (2012–2016) und anschliessend die art berlin (2016–2019) geleitet hat. Sie ist mit der Art Basel und der Kulturlandschaft der Stadt Basel bestens vertraut, da sie bereits von 2008 bis 2011 als Communications Manager für die Messe tätig war. Ausserdem war sie für das KW Institute of Contemporary Art in Berlin und die Berlin Biennale tätig und hat 2008 das bahnbrechende Projekt «Forgotten Bar» mitinitiiert. Cruse hat einen Hintergrund in Bildender Kunst, ein weitreichendes Netzwerk in der Kunstwelt und eine umfangreiche Erfolgsbilanz bei der Förderung sinnvoller Partnerschaften und kollaborativer Formate, die zeitgenössische Kunstschaffende und Galerien in den Mittelpunkt stellen.

DANIELLE BÜRGIN KULTUR IN BASEL BEDEUTET MEHR ALS MUSEEN UND FASNACHT

Basel ist Museumsstadt – aber das ist längst nicht alles, was unsere Stadt kulturell interessant macht. Und auch wenn Basel im Vergleich zu Marseille, Berlin oder Athen manchen wie ein Dorf vorkommt, gibt es vieles, was andernorts in der Schweiz kaum möglich wäre und was an grosse Städte erinnert. Gerade auch, was die junge Kultur betrifft – die Festivals, die Clubkultur und deren Protagonist:innen. Eine Ode an die tollste Stadt am Rhein.

Der ICE-Zug fährt mit rund fünfzehn Minuten Verspätung von Köln weiter nach Hamburg Altona. Es ist wieder mal Zeit, meine Heimatstadt für ein paar Tage zu verlassen, um mit dem Aussenblick besser wahrnehmen zu können, wie grossartig mein Zuhause eigentlich ist. Sie kennen das bestimmt: Es gibt Dinge, die man erst dann richtig sieht, wenn man sie zu vermissen beginnt. Nicht dass ich Basel bereits vermisse. Ich bin ja erst heute Morgen weggefahren. Aber auf der Zugfahrt, mit 300 km/h auf regennassen Schienen und den Blick auf fremde Landschaften gerichtet fällt es mir leicht, die Worte zu finden für meine Stadt, die nicht nur schön ist, sondern auch richtig etwas kann.

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Die letzten Monate und Wochen im 2023 haben mir gleich mehrere bewegende Momente beschert, von denen ich hier erzählen möchte. Radio X, der Basler Kultur- und Kontrastsender, bei dem ich für den Musik- und Kulturanteil im Programm verantwortlich bin, feierte dieses Jahr seinen 25. Geburtstag. Abgeschlossen wurde das Jubiläumsjahr im Oktober mit einem multidisziplinären Kunst- und Soundfestival in einer leerstehenden Logistikhalle auf dem Dreispitz, welches ich mitkuratieren durfte. Das X_ARTS Festival beinhaltete eine Kunstausstellung mit Video-, KIund 3D-Arbeiten sowie ein Performanceund Konzertprogramm. Zu den Partnerinstitutionen des Festivals zählten das HEK, die HGK Basel, das Kunsthaus Baselland oder auch iart. Denn Radio X wollte den Geburtstag unbedingt als Anreiz nehmen, um in die Zukunft zu schauen, Neues zu schaffen. Neu darum, weil Radio X als Medium vorher noch nie eine Kunstausstellung kuratiert und organisiert hatte und die Plattform für regionales Kulturschaffen vom Äther in den physischen Raum erweitern wollte. Einzigartig auch darum, weil die TransBona-Halle mit ihrem kargen Industriecharme zu einem Ort für Träume und Utopie wurde – wenn auch nur für das zwei Tage dauernde Festival. Da war Magie, Zusammenhalt und Wärme – trotz garstigem Herbstwetter draussen. Alle, die beim X_ARTS Festival dabei waren und mitwirkten, von den Musiker:innen und Kunstschaffenden über die Techniker:innen bis zu den Besucher:innen, alle wollten ihren Beitrag leisten, damit dieser Traum von Utopie, Community und von gegenseitigem Support erfüllt wird. Das hat mich berührt und glücklich gemacht. So etwas funktioniert in Basel also tatsächlich, dachte ich mir, in Basel kannst du Raum für positive Veränderung schaffen. Du musst dich nur trauen, anderen von deinem Traum zu erzählen, damit sie dir helfen, ihn zu verwirklichen.

Wenige Wochen später wurde ich vom jungen Okra Collective gebeten, bei der Verleihung des Förderkulturpreises im Basler Rathaus die Laudatio zu halten. Das Kollektiv ist sowohl regional wie auch national oder international aktiv und besteht aus jungen Schwarzen DJs, Kulturveranstalter:innen und Kreativschaffenden. Mich hat das mit einem grossen Stolz auf unsere Stadt erfüllt.

Toll, dass sich junge PoC zusammentun, um sich in einer vornehmlich weissen Umgebung Gehör zu verschaffen. Toll auch, dass sich die kantonale Kulturabteilung bewusst dafür entschieden hat, junge Menschen aus der Underground-Kulturszene zu fördern, welche für mehr Sichtbarkeit und «safer spaces» für ihre Community kämpfen. Das ist ein wichtiges Zeichen für mehr Toleranz, Offenheit und gegenseitigen Respekt. Alles Werte, die heute wichtiger sind denn je.

Dass Basel nun auch die erste Stadt in der Schweiz ist, die voraussichtlich ab 2024 (aus einem eigens für Jugendund Alternativkultur geschaffenen Fördertopf) Clubkultur mit Staatsbeiträgen fördert, ist für mich als Veranstalterin, DJ und Musikfan nur ein weiterer Grund zu sagen: Basel, du bist vielleicht kleiner als andere Städte, aber du leistest ganz Grossartiges.

DANIELLE BÜRGIN (Madagaskar/ Schweiz) lebt und arbeitet in Basel. Als Kulturjournalistin und Veranstalterin kennt sie die Ba sler Kunst-, Kultur- und Musikszene gut. Seit 2015 arbeitet sie beim Basler Kulturund Kontrastsender Radio X. Gerade in Kultur und Musik abseits vom Mainstream ist sie eine wahre Kennerin. Für Recherchen und Inspiration reist sie regelmässig auch in andere europäische Städte wie Hamburg, Berlin oder Marseille. Danielle Bürgin organisiert nicht nur Festival- und Partyreihen, sondern legt auch nach über zwanzig Jahren selbst noch als DJ regelmässig in Clubs und Bars auf.

Es begann mit sechzehn im Schulzimmer. Die Lateinvokabeln und physikalischen Formeln an der Wandtafel verloren die Konturen (und mitunter vollends ihren Sinn). Der Test bestätigte die vermutete Kurzsichtigkeit. Seither sind Sehhilfen meine ständigen Begleiter. Auf das anfängliche Hadern folgte bald die Versöhnung. «Die Brille macht dich reifer», flötete in jüngeren Jahren manche Kollegin, und das kam dem pickligen Schlaks gerade recht. Kontaktlinsen wiederum bescheren uns Sehschwachen im wahrsten Sinn des Wortes unbeschwerte Stunden beim Joggen und Skifahren; den Erfindern ist ein Ehrenplatz im Himmel sicher.

Ungetrübte Erlebnisse bleiben indes auch ohne optometrische Unterstützung möglich: wenn wir ein- und abtauchen in die grosse Welt des Lesens. Was immer einem an Texten unterkommt, es ist glasklar, und wo der Inhalt zu unbestimmt ist, springt die Phantasie ein und schärft das Bild. Peter Stamm vergleicht in seinem Roman «An einem Tag wie diesem» die Schönheit von Fabienne, der Freundin des Helden, mit der «Makellosigkeit einer Statue». Keinem Leser erscheint vor dem inneren Auge die gleiche Frau – aber jeder sieht sie präzis auf seine Weise. Gleiches gilt für diesen Satz zur Schilderung eines Parks in «Panischer Frühling» von Gertrud Leutenegger: «Wie

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HARALD HAMMEL KRUMME HORNHAUT –KLARER BLICK

Falter mit vom Wind geblähten Flügeln warteten die noch unbesetzten Liegestühle.»

Als ich in einer meiner Reportagen aus Irland schroffe Felsen im Meer als Zacken eines Krokodils beschrieb, die selbst für geübte Bergsteiger zu steil seien, sagte mein Kollege Dani nach der Lektüre: «Ich kann mir die Landschaft deutlich vorstellen – ich war dort.» Auch er übrigens ein Brillenträger. Im «Grünen Heinrich» von Gottfried Keller sind die Alpen «noch tief herunter mit Schnee bedeckt, ( … ) und über ihnen lagerte ein wunderschönes mächtiges Wolkengebirge im gleichen Glanze, Licht und Schatten ganz von gleicher Farbe wie die Berge, ein Meer von leuchtendem Weiss und tiefem Blau» – wir lassen diese Worte wirken, und schon sind wir mittendrin in der Natur und erfreuen uns auch mit Fehlsichtigkeit an dieser Szenerie.

Kurzum: Durchblick ohne Ende. Man kann nicht genug davon kriegen. Doch wenn das Buch beiseitegelegt ist, zeigt mir die gekrümmte Hornhaut schlagartig wieder die verschwommenen Grenzen der realen Welt auf und verlangt unerbittlich nach der Brille. Manchmal besonders dringlich. Dann ist einmal mehr der Moment gekommen für die kompetente Beratung durch die Optikerinnen und Optiker von Ramstein. Weiter so! Nochmals 125 Jahre, und ein Viertel des Millenniums ist geschafft!

HARALD HAMMEL Germanist und Historiker. Einst Politjournalist bei der Basler Zeitung und der Aargauer Zeitung, seit 2006 Mediensprecher im Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK). Familienvater, Literaturfreund, Theaterbesucher, Koch, Jogger. Arbeitet an einem Buch über irische Inseln. Instagram: @haraldhammel

STEPHAN WERTHMÜLLER VOM HÖREN UND SEHEN

Schon Aristoteles hat sich vor rund 2 400 Jahren mit den Sinnen des Menschen auseinandergesetzt.

Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten. Dies sind die klassischen Sinne, die den Menschen, nein, jedes Lebewesen auszeichnen. Aber schon Aristoteles kam zum Schluss, dass es mindestens einen weiteren Sinn (den sprichwörtlichen 6. Sinn) geben könnte, der alles zusammenfügt und der der Seele etwas Gesamtheitliches «übermittelt». Meine Überlegungen beschränken sich im Folgenden auf die für uns Menschen im Alltag wichtigsten Sinne, das Hören und Sehen.

Wohl jeder hat sich in seinem Leben schon mal die Frage gestellt, worauf er denn – wenn es sein müsste und wenn er wählen müsste – verzichten würde: auf das Hören oder das Sehen. Sucht man in der Literatur und insbesondere bei den Medizinern nach der einen Antwort, findet man praktisch unisono die Auskunft, dass der Mensch sehr stark auf den Sehsinn ausgerichtet ist, ein eigentliches Sehtier sei, und dass deswegen das Sehen der wichtigste Sinn ist. Gute Neuigkeiten für Ramstein Schon unsere Urahnen hätten ja als Jäger und Sammler ohne Sehsinn nicht überleben können. Wie soll man denn das Mammut erlegen, ohne dass man es sieht, wie soll man die Himbeere finden? Auf der anderen Seite hätten unsere Urahnen aber nicht überlebt, hätten sie den Säbelzahntiger nicht

gehört, wenn er sich von hinten anschlich. Das Gehör hat den Vorteil, dass es uns rundherum zur Verfügung steht, die Augen hingegen «nur» zielgerichtet oder fokussiert zum Einsatz kommen. Wir sind ja keine Insekten.

Als Konzertveranstalter sehe und höre ich es natürlich etwas differenzierter. Sitzt man erst mal im Konzertsaal, geht nichts mehr ohne Hören. Bei blinden Musikern und Konzertbesuchern ist es wahrscheinlich so – ich kann es nur vermuten –, dass sie besser hören, auch mit dem Bauch, als alle anderen. Manchmal schliesse ich bewusst die Augen, um vielleicht etwas mehr vom Sound mitzukriegen, bewusster wahrnehmen zu können, Instrumente besser unterscheiden zu können, Zwischentöne zu hören. Es ist ein riesiges Geschenk, das so erleben zu dürfen und die Augen auch wieder öffnen zu können, wenn man dies möchte. In der Popszene gibt es einige Musiker, die, ohne sehen zu können, eine grosse Karriere gemacht haben, ich denke dabei insbesondere an Stevie Wonder oder an Ray Charles. Auch die Gospelgruppe «The Blind Boys of Alabama», die das Nichtsehenkönnen sogar zu einem Markenzeichen gemacht haben, gehört dazu.

Musik bestimmt einen grossen Teil meines Lebens, ob als Privatperson oder als Berufsmensch, weswegen ich sehr dankbar dafür bin, dass ich im Laufe des Lebens gelernt habe, besser zu hören. Immer mehr spielen aber auch Lichteffekte bei einem Konzertanlass eine bedeutende Rolle, und insbesondere bei elektronischer Musik gehören Ton und Licht zusammen und bilden ein einheitliches Ganzes. Also ist die Frage, ob Hören oder Sehen in der Popmusikkultur wichtiger ist, nicht eindeutig zu beantworten. Wie komplex und zusammenhängend die Sache ist, hat angeblich schon Friedrich Nietzsche auf den Punkt gebracht: «Die Tanzenden wurden für verrückt gehalten von denjenigen, die die Musik nicht hören konnten.» Treffender kann man es nicht sagen.

STEPHAN «STEFFI» WERTH MÜLLER Gründer & VR-Präsident Baloise Session, VR KKL Luzern, Stiftungsrat Kunstmuseum Basel, hat in diesem Beitrag aufs Gendern verzichtet.

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MASSIMO ROCCHI ANDI ALL’ARRABBIATA

Ich bin ein Homo Variluxer mit unzähligen Brillen – eine für den Urlaub, eine für den Computer, eine, um zu essen, eine, um zu fahren. Beim Sehtest bin ich weitsichtig, kurzsichtig, über-/unter-, durchsichtig, und wegen meiner Hornhautverkrümmung sehe ich so viele Pünktchen, aber so dermassen, wahrscheinlich die, die «mein» FC Basel irgendwo verloren hat. Item …

Im Jahr 2003 war ich frisch aus Bern in Grossbasel gelandet und betrat Ramstein Optik. Der Laden sah so aus wie die Höhle von Ali Baba. Es gab alles da drin, viele Mitarbeitende, super Espresso und sogar Brillen, aber so viele, dass ich den Eindruck hatte, sie vermehren sich vor meinen Augen.

Ist die Brillenfassung etwas Besonderes für Basel, und umgekehrt? Aber fangen wir beim Anfang an.

PRIMUM RAMSTEIN

Der Anfang von Ramstein Optik liegt angeblich im alten Rom. Ein Kaiser sass im Kolosseum und blickte in die Sonne. Das ganze Publikum sollte wissen, wer ihm Brot und Spiele schenkte. Aber der Tyrann war von der Sonne geblendet. So hielt er sich selber während der «Spiele» ein dickes, dunkles Glasstück vor die Augen, um die «Kämpfe» zu geniessen.

Im Publikum sass Saxa Craemum, ein Kaufmann auf der Suche nach dem Rezept für «Bucatini alla carbonara». Er im-

portierte die Idee des Glases (nicht der Carbonara) nach Helvetia und gründete ein Negotium in Grossbasel, das damals Basilikum hiess. Immerhin besser als Rucola, der ursprüngliche Name von Zürich. Saxa Craemum wurde helvetisiert in Stein-Rahm und schliesslich, da – entgegen eidgenössischen Meinungen – kein Rahm in die Carbonara gehört, zu RAMSTEIN. Aus OCULARES OCULORUM OCULARIBUS (Bus der Augen) wurde das Wort «Brille», nach Beryllium, einem Metall, das die Gläser polierte. Migros hatte zu dieser Zeit Miobrill noch nicht auf den Markt gebracht.

POSTEA ANDI

Das Brillengeschäft lief zwar sofort prima, doch es gab ein Problem. Genauso wie heute mit den Smartphones fehlte den Menschen die eine Hand, die mit dem Gläserhalten beschäftigt war. Jahrelang gab es keine Lösung, bis ein lachender junger Mann aus Baselland (ja, ja, ja) eines Nachmittags «Heureka!»rief (übersetzt: Hoppla Georges!). Sein Name war Andreas, was auf Altgriechisch «der Tapfere» bedeutet. Angesprochen wird er als Andi, denn je lieber man in der Schweiz jemanden hat, desto mehr wird der Vorname gekürzt. Warum? Man kann die Person dann deutlicher und schneller rufen. In Frankreich braucht man immer so viel Zeit: Jean-Jérôme, Jean Baptiste, Jean-François Duc de Navarra et Carcassonne Premier Cru de France. In der Schweiz: Dänu, Pesche. Und Andi eben, tapfer und immerzu aktiv.

Andi hatte schon immer eine gute Nase, auch offene Ohren. Alle waren bei ihm willkommen, er hörte zu, er diskutierte mit Enthusiasmus, er kombinierte und fügte dieses oder jenes hinzu, hett umedäääfelet, bis er zu einer Erleuchtung kam.

Was trägt man an der Basler Fasnacht? Eine Maske, pardon, die Larve. Er reduzierte sie und … Fiat conspicillum! Es wurde die Brillenfassung: ein Lärvchen. Ist das nicht ein genialer Streich? Eine BRILL …ante Zusammen-Fassung?

ULTIMUM

Brillenfassungen machen Menschen. Man versucht damit, die eigene Ausstrahlung zu verstärken. Ausserdem geben sie Mut, wie die Maske bei Arlecchino – ohne das Gesicht zu zeigen, ohne eine Meinung zu äussern … aber nüt für ungu-

et! Ich habe mehrere Brillen, nur beruflich trage ich keine, weil ich das Publikum unscharf wie die Milchstrasse im Nachthimmel sehen will. Oder wie schon der alte Saxa Craemum zu sagen pflegte: «Omnia non semper acuta esse debent. Nisi penne arrabbiata.» Es muss nicht immer alles scharf sein. Ausser Penne all’arrabbiata.

Auguri an alle Ramsteinerinnen und Ramsteiner, Massimo Rocchi

MASSIMO ROCCHI , Komiker, Schauspieler, Autor und Regisseur. Sein Repertoire umfasst Pantomime und Sprachakrobatik (Deutsch/Schweizerdeutsch, Französisch, Italienisch) und präsentiert Hintersinniges über das Leben, die Götter und andere Verrücktheiten, sowie die Absurditäten des menschlichen Daseins. In Basel und Bern ist er zuhause. Es isch eso u fertig. massimorocchi.ch

Sämtliche Illustrationen dieser Magazin-Ausgabe wurden von PATRIZIA STALDER gezeichnet. Sie verbrachte bereits im Alter von fünf Jahren ihre Freizeit mit Zeichnen, Malen und Modellieren. Schon damals faszinierten sie besonders Menschen-, Tierund Pflanzenformen. Nach ihrem Studium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel war sie neun Jahre lang in einer Basler Werbeagentur als Art Director tätig. Seit 2017 ist sie selbstständig erwerbende Künstlerin. patriziastalder.ch

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Illustrationen Patrizia Stalder
Optik Ramstein Optik Sattelgasse 4 4051 Basel 061 261 58 88 info@ramstein-optik.ch ramstein-optik.ch
Jahre schöner sehen
Ramstein
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Articles inside

Andi all'arrabiata

4min
page 35

Vom Hören und Sehen

3min
page 34

Das Kundenmagazin von Ramstein Optik — 2024

1min
pages 33-34

Kultur in Basel bedeutet mehr als Mueseen und Fasnacht

4min
pages 32-33

Eine magische Woche

5min
pages 30-32

Ist das Leben nicht ein einzigartiger Traum?

3min
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Franz-Xaver braucht eine neue Brille – Immer wieder

3min
pages 28-29

Vitalität durch die Brille des Gleichgewichts

3min
pages 27-28

Zum Rhytmus des Lebens gehen

3min
pages 26-27

Das Auge: unser Tor zur Welt

6min
pages 24-26

Nachtleben – Performativer Akt und kulturelle Innovation

3min
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Spinoza, die Optik und die Ethik

4min
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Begleiten Sie mich auf meiner Reise

3min
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We are Family

5min
pages 20-21

Das ist eins schöne Aussicht

12min
pages 16-20

Der Zauberkünstler ist der ehrlichste von allen Künstlern

4min
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Earthling

3min
pages 14, 16

Sex Education

4min
pages 13-14

In Basel verankert, international unterwegs

3min
pages 12-13

Menschen und Bäume ins Zentrum

13min
pages 8-12

Covergirl

3min
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The Elephant in the Room

3min
pages 6-7

Mit Gleitsicht zur Weitsicht

3min
pages 5-6

Eine Liebeserklärung

3min
pages 4-5

Geschichte und Geschichten zu Ramstein Optik

3min
page 4

Das Kundenmagazin von Ramstein Optik — 2024

1min
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Der Mensch im Fokus

2min
pages 3-36
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