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Der Zauberkünstler ist der ehrlichste von allen Künstlern
ROBERTO GIOBBI
DER ZAUBERKÜNSTLER IST DER EHRLICHSTE VON ALLEN KÜNSTLERN, DENN ER SAGT, DASS ER UNS TÄUSCHT, UND TUT ES DANN AUCH.
WIE?
WIR TÄUSCHEN UNS SELBST!
«Jede Erkenntnis beginnt mit den Sinnen» – Leonardo da Vinci
Als 14-Jähriger nahm ich in der GGGBibliothek ein Zauberbuch aus dem Regal, und es öffnete mir die Tür zu meiner Zukunft. Obwohl ich dies damals noch nicht wusste, war es der Anfang einer bis heute andauernden passionierten Auseinandersetzung mit der Zauberkunst.
Ich zaubere seit genau fünfzig Jahren. 1988 habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Man könnte also sagen, ich sei im «Show-Business» tätig. Dabei habe ich weder zu «Show» noch zu «Business» eine Affinität. Was hat mich dann an der Zauberkunst so fasziniert, dass ich entschied, ihr mein Leben zu widmen?
Die Chinesen sagen treffend: «In jeder kleinen Welt befindet sich eine grosse Welt.» Für mich gleicht die Zauberkunst einem geschliffenen Diamanten: Jede Facette hat eine Verbindung zu einer Disziplin des Lebens. Die Zauberkunst hat eine reiche Geschichte und originelle Biografien, und sie schlägt Brücken zu praktisch allen Themen des Lebens, zu Theater und Film, Präsentation und Kommunikation, Natur- und Geisteswissenschaften, Philosophie und Psychologie, Kreation und Interpretation. In meiner Arbeitsbibliothek stehen über 3 500 Zauberbücher in siebzehn Sprachen, die ein Zeugnis davon ablegen.
Aus der unendlichen Komplexität, welche die Zauberkunst auszeichnet, interessiert mich eine Frage ganz besonders: Wie ist es möglich, dass sich ein intelligenter, gut ausgebildeter Mensch von einem einfachen Zauberkunststück täuschen lässt? (wohlverstanden: einfach, nicht leicht). Es ist ja nicht so, dass man sein Gehirn an der Garderobe abgibt, wenn man meine Zaubervorstellung besucht, und deswegen getäuscht wird. Nein, man benutzt genau dasselbe Gehirn wie im Privat- und Berufsleben draussen. Aber wenn es mir als Zauberkünstler gelingt, das komplexeste Gebilde im bekannten Universum zu täuschen, das menschliche Gehirn, liegt es dann nicht nahe anzunehmen, dass man sich im Alltag öfter irrt, als es einem lieb wäre?
Oft sagt man zu mir: «Das ist alles Geschwindigkeit.» Worauf ich antworte: «Die schnellste Bewegung, zu der der menschliche Körper fähig ist, ist das Blinzeln, das 1/100-Sekunde dauert. Damit eine Bewegung jedoch vom Auge nicht gesehen werden kann, muss sie schneller als 1/250-Sekunde sein, zweieinhalb Mal schneller, als wir uns bewegen können. Ergo gibt es keine Bewegung, die ich so schnell machen könnte, dass man sie nicht sehen könnte.» Ich begleite diese Antwort mit wiederholtem Blinzeln.
Das Problem liegt nicht darin, dass der Zuschauer nicht sieht, was der Zauberkünstler macht, sondern dass er das, was er sieht, falsch interpretiert, etwa so wie bei den Statistiken oder den Wahlversprechen. Picasso meinte: «Wir schauen, aber wir sehen nicht.» Und Sherlock Holmes pflegte seinen besten Freund zu ermahnen: «Watson, you look, but you don’t observe.»
Täuschung – durchaus auch im Magrittschen Sinn der Pfeife, die keine ist –entsteht, wenn die subjektive Wirklichkeit von der Tatsache abweicht. Dazu benutzen wir drei Instrumente: unsere fünf Sinne, unsere Intelligenz und unser Gedächtnis. Allesamt sind sie beim Menschen mehr als nur mangelhaft, bei den einen mehr als bei den anderen.
Der Zauberkünstler, als Architekt des erweiterten Bewusstseins, hilft den Zuschauern eine Wirklichkeit in ihren Köpfen zu erschaffen, die sie schliesslich, in Ermangelung von Ursachen für das Gesehene, den Boden der Logik unter den Füssen verlieren lässt, und sie fallen wie Alice ins Wunderland. Dies auf schöne Art und Weise zu erreichen ist das Ziel der Zauberei, die in der Performance eines inspirierten Zauberers zur Kunst wird. Der Zauberkünstler ist in der Tat der Surrealist unter den darstellenden Künstlern, und sein Werk die Ästhetik des Wunders.
ROBERTO GIOBBI zaubert seit 1973 und ist seit 1988 von Beruf Zauberkünstler, Fachschriftsteller und Seminarleiter mit Auftritten rund um die Welt. Er ist Mitglied der Escuela Magica de Madrid, einer modernen Denkschule der Zauberkunst, der weltweit vierzig Mitglieder angehören. Aus seiner Feder stammen über achtzig Fachbücher einschliesslich Übersetzungen in acht Sprachen. International errungene Titel und Preise als Performer und Autor runden sein Profil ab.