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Mit Gleitsicht zur Weitsicht
MARC KREBS
MIT GLEITSICHT ZUR WEITSICHT
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt. So lautet das Bonmot, das Helmut Schmidt einst in die Welt gesetzt hat. Bei mir war’s umgekehrt: Ich ging zum Arzt. Danach kamen die Visionen.
Doch der Reihe nach: Ich habe mein Leben lang meine Berufung zum Beruf gemacht. Das ist ein Privileg, ich weiss. Ich liebte die Musik, spielte sie, hörte sie, lebte sie. Ich konnte auf Konzertreisen gehen, neue Orte, neue Menschen kennenlernen. Gerne schrieb ich auch darüber, über die Musik, die Kultur – in Zeitungen, in Büchern. Ich reiste viel und gern, blieb in Bewegung, wach, neugierig. Ein Traumberuf.
Bis, ja, bis mich plötzlich ein Alptraum heimsuchte. Unverhofft, in Form einer Panikattacke. Gefolgt von einer zweiten. Hinzu kamen Schlafstörungen, die Angst vor allem – und vor allem die Angst vor der Angst: Was geschah da mit mir, was riss mir da den Teppich unter den Füssen weg? Ich ging zum Arzt, zur Psychologin, erzählte von der Stimmung in mir, wie gedrückt diese war und auch, dass ich mich schämte, da es mir doch eigentlich gut zu gehen hatte.
Wohin geht man in einer solchen Situation mit sich selber, in der Hälfte des Lebens?
Keine einfache Frage, erst recht nicht, wenn man Familie hat und nicht nur für sich selber verantwortlich ist.
Zu dieser Zeit kaufte ich mir ein Brille – das Alter! –, sie half mir, den Alltag klarer zu sehen. Doch in meinem Unterbewussten fischte ich weiterhin im Trüben. Wie befreit man sich aus einem Hamsterrad? Lange Gespräche später (ein Hoch auf meine Frau und Freunde!) entschloss ich mich zum Befreiungsschlag. Ich verabschiedete mich aus den Medien und wurde paradoxerweise in fortgeschrittenem Alter Jungunternehmer.
Zum gleichen Zeitpunkt hatte mein Schwager die weitsichtige Idee, einem globalen Problem mit einer Lösung zu begegnen: den Meeresmüll zu reduzieren, indem man Kunststoffabfall einsammelt und wieder aufbereitet. Für das ambitionierte Projekt hatte er einen Namen, Tide Ocean, aber noch keinen Bruder im Geiste.
Ich war völlig begeistert von seiner Idee, auch von der Möglichkeit, mich neu zu erfinden und etwas Neues aufzubauen, etwas Fremdes. Das schien mir der Befreiungsschlag, den ich brauchte – und kein geringeres Risiko als die Alternative, Stillstand.
Das ist nun fünf Jahre her, seither haben bereits sechzig Marken aus unserem Material Produkte auf den Markt gebracht, von Uhren bis Brillen (Planctons heissen diese – und ja, Sie können sie bei Ramstein anprobieren).
Noch immer haben wir das Ziel vor Augen, dem Abfall einen Wert zu geben und so einem Umwelt- und Gesellschaftsproblem unserer Zeit eine Lösung entgegenzustellen. In der Schweiz entwickelt, in Südostasien umgesetzt, möchten wir den Einwegplastikmüll aus der Welt schaffen. Wir geben ihm Wert, indem wir Fischer und Küstenbewohnerinnen schulen und sie für ihre Arbeit entschädigen. Das kommt allen zugute: den Menschen und der Umwelt.
Wohin uns diese Reise führen wird, ist ungewiss – das liegt ebenso in der Natur von Start-ups wie manche schlaflose Nacht (zum Glück hilft die Brille auch dabei, Augenringe zu kaschieren). Was sicher ist: Den Perspektivenwechsel bereue ich nicht, egal was kommt. Wie sang doch einer meiner Helden, David Bowie, vor langer Zeit: Chchchanges Time may change me but I can’t trace time.
MARC KREBS lebt seit 25 Jahren in Basel. Als Musiker spielte er in diversen Bands Schlagzeug, aktuell etwa 4th Time Around, zudem trat er als musikalischer Sidekick mit Autor*innen wie Sibylle Berg oder Gabriel Vetter auf. Als Kulturredaktor arbeitete er bei der BaZ, TagesWoche und bz und veröffentlichte Bücher über die Popkultur. 2019 gründete er das Schweizer Start-up Tide Ocean SA mit. Dieses sammelt und rezykliert Plastikmüll aus Küstenregionen.