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Spinoza, die Optik und die Ethik
RENÉE LEVI
SPINOZA, DIE OPTIK UND DIE ETHIK
Ein Gespräch mit Susanna Koeberle
Dass der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677) hauptberuflich Glasschleifer war, wissen in der Regel nur Eingeweihte. Dieses «Detail» hat Renée Levi dazu bewogen, mich zu gemeinsamen Gesprächen und zu diesem Text einzuladen. Die Wahrnehmung, präziser die Relativität unserer Wahrnehmung spielt für Spinozas Weltauffassung eine bedeutende Rolle. Was der in Amsterdam in eine jüdischesephardische Familie Geborene dachte und festhielt, schien damals so unerhört, dass er aus der jüdischen Gemeinde verbannt und mit einem Bannfluch belegt wurde. Er musste Amsterdam verlassen und führte fortan ein Leben als Aussenseiter. Eine Professur in Heidelberg lehnte er ab. Vielleicht lässt sich aus dieser Haltung die Radikalität und Verwegenheit seiner Gedankenwelt erklären. Sein religionskritisches Werk lässt nicht darauf schliessen, dass er Atheist war. Er sah das Göttliche einfach mit anderen Augen, mit einem 360-GradBlick gewissermassen.
Das Drehen und Schleifen von optischen Linsen erlernte der «Handwerker-Philosoph» 1 erst, nachdem er aufgrund der hohen Verschuldung des väterlichen Unternehmens die Erbschaft abgelehnt hatte. Materielle Unabhängigkeit durch das Werk seiner Hände war ihm wichtig. Vermutlich ist die Wahl des Berufs des Linsenschleifers dem Interesse an der Philosophie von Descartes geschuldet, mit der er in den späten 1650er-Jahren in Berührung kam. Philosophen verstanden sich zu jener Zeit als Wissenschaftler, weswegen die Beschäftigung mit der Optik oder der Mathematik gar nicht so abwegig war. Die handwerkliche Betätigung betrachtete der Glasschleifer Spinoza als Voraussetzung für das Denken und Bildungsdünkel erachtete er als gefährlich. Es hätte ihn vielleicht gefreut zu erfahren, dass die moderne Wissenschaft seine Thesen zum Verhältnis von körperlicher und geistiger Arbeit bestätigt. 2 Die in der abendländischen Philosophie jener Zeit etablierte Trennung von Geist und Körper oder Subjekt und Objekt lehnte er dezidiert ab; ebenso diejenige zwischen Natur und Gott. Spinoza verstand Gott als immanente und nicht als transzendente Ursache aller Dinge. Das macht deutlich, woran sich damals auch die christliche Kirche stiess. Diese Ansichten machten aus dem Monisten einen Pantheisten, der das dualistische Weltbild hinterfragte.
Dass seine eigenen Schriften angegriffen wurden, machte sein Leben wohl nicht einfacher, doch Spinoza übte sich in Demut und arbeitete weiter als philosophierender Handwerker und handwerkender Philosoph. Das Verbot seines «Theologisch-politischen Traktates» bedeutete zugleich, dass seine 1675 fertiggestellte «Ethik» nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht werden konnte. Auch nach seinem Tod wiesen nur seine Initialen B.D.S. auf den Autor der Schrift hin. Aber das war ganz im Sinne des bescheidenen Mannes. Er war der Ansicht, dass der Mensch nicht das autonome Wesen ist, für das er sich bis heute hält. Auf dem menschlichen Exzeptionalismus gründen viele Probleme – nicht zuletzt die Klimakrise. Genau diese Einsicht macht Spinozas Gedanken heute aktueller denn je. Es sind die Gedanken eines Menschen, der erkannte, dass wir unseren Affekten zwar ausgeliefert sind, doch zugleich die Freiheit besitzen, diese einzuordnen und zu reflektieren.
1 So nennt ihn der französische Denker Gilles Deleuze in seinem Buch «Spinoza. Praktische Philosophie» (1981).
2 Das hält auch Joachim Gerd Ulrich in seinem Buch «Baruch de Spinoza – Philosoph und Handwerker. Berufliche Bildung aus der Perspektive eines ungewöhnlichen Menschen» (2022) fest.
RENÉE LEVI ist in Istanbul geboren, 1964 in die Schweiz immigriert und lebt seit 1980 in Basel. Sie studierte erst Architektur in Muttenz und dann 1987–91 bildende Kunst an der ZHdK Zürich. Von 2001–22 hatte sie eine Professur für Bildende Kunst und Malerei an der FHNW/HGK in Basel inne. Sie ist Zeichnerin und Malerin und realisiert zusammen mit Marcel Schmid In-situ-Arbeiten wie zuletzt für den Swiss Innovation Park in Allschwil oder das Tympanon fürs Bundeshaus in Bern.
SUSANNA KOEBERLE ist freischaffende Journalistin, Autorin und Kuratorin. Sie studierte Germanistik, Komparatistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Sie schreibt für Schweizer Medien über Design, Kunst und Architektur und publiziert regel mässig Buchbeiträge. Sie ist Mitherausgeberin der Biografie der Galeristin und Schauspielerin Elisabeth Kübler, erschienen 2022 in der Edition Patrick Frey. Ihr spezielles Interesse gilt den Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Disziplinen.