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Das Auge: unser Tor zur Welt

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Andi all'arrabiata

Andi all'arrabiata

HENDRIK P.N. SCHOLL

DAS AUGE: UNSER TOR ZUR WELT

1. Dezember 2023, Kunstmuseum Basel, Hauptbau, 1. Obergeschoss, Raum 31:

Die Impressionisten haben es mir schon immer angetan … Ich betrete den Ausstellungsraum im Kunstmuseum mit zwei wunderbaren Monets. Rechts «Die Steilküste von Aval» aus dem Jahr 1884. Es dominieren Blau und Rot – also die ganz breite Palette der vom Menschen wahrnehmbaren Farben von geringen (violett bis blau) bis zu hohen Wellenlängen des Lichts (rot). Das Bild ist «hauchig» und frisch, für die impressionistische Malweise sind die Konturen relativ scharf.

Links davon hängt das Gemälde «Der Steg über den Seerosenteich» von 1919. Es ist ganz anders. Es dominieren «Erdfarben»: Gelb, Grün, Braun. Natürlich passen die Farben zum Sujet, dennoch spricht eine andere Seherfahrung aus dem Bild – und natürlich eine Meisterschaft, Objekte auf die Leinwand zu bannen, die gerade erst mit einigem Sehabstand besser erkennbar werden. Ein Meisterwerk, aber eben auch das «Ergebnis» einer Augenkrankheit.

Claude Monet litt in seinen späteren Jahren stark unter dem Fortschreiten des Grauen Stars (Katarakt). Bei der Katarakt trübt sich die Linse des Auges, was zu einer Sehbehinderung führt. Monets Kampf mit der Katarakt beeinflusste sowohl sein persönliches Leben als auch sein künstlerisches Schaffen zutiefst. Mit dem Fortschreiten der Katarakt wurde Monets Wahrnehmung von Farben und Formen verzerrt. Die lebhaften Farbtöne, die seine früheren Werke auszeichneten, wurden zunehmend gedämpft, und er hatte Schwierigkeiten, zwischen den einzelnen Tönen zu unterscheiden. Diese Beeinträchtigung des Sehvermögens wirkte sich stark auf seine Fähigkeit aus, die lebendigen, lichtdurchfluteten Szenen wiederzugeben, für die er gefeiert wurde. Monets Briefe und Berichte von Freunden und Verwandten offenbaren das Ausmass seines Leidens. Er beklagte sich oft darüber, dass er alles «stumpf und blass» sah, und seine Frustration über die Einschränkungen, die ihm seine nachlassende Sehkraft auferlegte, ist deutlich spürbar. Die Verschlechterung seines Sehvermögens belastete seine Beziehungen und trug zu einem Gefühl der Isolation bei.

1912 unterzog sich Monet einer Katarakt-Operation an seinem rechten Auge, in der Hoffnung, die Sehschwäche zu lindern. Die Operation hatte jedoch gemischte Ergebnisse. Während sie seine Wahrnehmung vorübergehend verbesserte, verschlechterte sich Monets linkes Auge weiter. Trotz seiner eingeschränkten Sehkraft malte er weiter, ein Beweis für seine Hingabe und Leidenschaft.

Monets Erfahrung des nachlassenden Sehvermögens aufgrund der Katarakt verdeutlicht auch den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Kreativität. Seine Beharrlichkeit im Angesicht visueller Herausforderungen fügt seinem Vermächtnis eine ergreifende Ebene hinzu und zeigt die tiefe Verbindung zwischen dem körperlichen Wohlbefinden eines Künstlers und der Ausdruckskraft seiner Arbeit.

Tatsächlich ist die Katarakt-Operation die häufigste Operation in der Medizin überhaupt und hat für mich als Augenarzt diesen sofortigen Effekt aufs Wohlergehen: Eine viertelstündige ambulante Operation führt typischerweise unmittelbar zu einer sprunghaften Verbesserung des Sehvermögens – oft eine Wiederherstellung einer normalen Sehschärfe. Ich finde die Katarakt-Operation beispielhaft, wozu die moderne Medizin fähig ist, und die vielen Dutzend Patientinnen und Patienten, denen wir so jede Woche unmittelbar helfen können, machen meinen Beruf ganz einfach schön.

2. DEZEMBER 2023, AUGENSPITAL BASEL:

Der erste Schnee des Jahres verzaubert den Samstagmorgen im Garten des Augenspitals. Vor dem Hörsaal sammeln sich langsam Dutzende Personen. Viele sehen schlecht, manche fast gar nichts. Die Retina Suisse, die Vereinigung von Patientinnen und Patienten mit Retinitis pigmentosa, Makuladegeneration, UsherSyndrom und anderen Erkrankungen des Augenhintergrundes, lädt zu einer Veranstaltung zum Stand der Therapieentwicklung bei Retinitis pigmentosa ein. Mit Stephan Hüsler, selbst von Retinitis pigmentosa betroffen, haben wir diese Veranstaltung geplant – zusammen mit dem Augenspital, dem Institut für klinische und molekulare Augenheilkunde Basel (IOB), dem European Vision Institute und dem europäischen Forschungsnetzwerk GET-READY.

Stephan beeindruckt mich: Er sieht nur noch sehr wenig, ist auf fremde Hilfe wie seinen Blindenhund oder seine Frau angewiesen, aber strahlt eine unglaubliche Positivität aus. Fast unglaublich aus heutiger Perspektive: Stephan war früher Mitglied der Päpstlichen Schweizergarde! Wenn man sich die Aufnahmebedingungen ansieht, bekommt man einen Eindruck, in was für einer grossartigen Verfassung er gewesen sein muss (und immer noch ist), aber eben auch, wie gut er damals noch gesehen haben muss.

Bei Retinitis pigmentosa gehen, aufgrund eines Erbdefekts, die Sehzellen am Augenhintergrund (in der Netzhaut) langsam zugrunde. Wir können als Augenärzte in den meisten Fällen nichts machen. Anders als die Katarakt, die nach möglichst perfekter Krankenversorgung verlangt, beleuchtet diese Netzhauterkrankung die andere Seite meiner Tätigkeit: die Erforschung und Entwicklung neuer Behandlungsmethoden. Hier stehen wir am Anfang: Zwar können wir den zugrunde liegenden Gendefekt meistens herausfinden und dank der Ophthalmogenetik-Gruppe von Prof. Carlo Rivolta auch bisher unbekannte Gendefekte finden, aber «reparieren» können wir diese Gendefekte im Menschen bisher nicht. Zusammen mit Prof. Bence György ist es uns zwar gelungen, im Tiermodell einen einzigen «Buchstaben» des menschlichen Genoms (mit 6,4 Milliarden Basen, als «Buchstaben») auszutauschen und damit den Gendefekt einer wichtigen Makuladegeneration zu reparieren, aber wir sind noch nicht «in der Klinik», also in einer Behandlungsstudie mit Patientinnen und Patienten.

Wir haben an jenem Samstag den Patientinnen und Patienten über viele spannende Entwicklungen berichten können und wir konnten ihnen Hoffnung geben. Für uns als Augenärzte war das Inspiration und Motivation, uns für die Heilung dieses bemerkenswerten Organs einzusetzen.

Das menschliche Auge ist unser erster Kontakt zur Welt. Es ist ein komplexes Sinnesorgan, welches uns erlaubt, die Welt mit Kontrast, Farben und Details wahrzunehmen. Die Anatomie des Auges ist ein Wunderwerk der Präzision. Hornhaut, Linse und Netzhaut arbeiten zusammen, um das Licht zu brechen und auf die Sehzellen der Netzhaut zu fokussieren. Gleichzeitig ist Sehen nicht nur die passive Aufnahme von Licht, sondern ein aktiver Interpretationsprozess. Die Augen scannen ständig, sodass wir uns auf bestimmte Details konzentrieren und ein kohärentes Gesichtsfeld wahrnehmen können. Über die Kommunikation hinaus tragen die Augen zum ästhetischen Empfinden bei. Sie ermöglichen es uns, die Schönheit der Welt zu sehen, von den filigranen Details einer Blume bis hin zu den Weiten einer sternenklaren Nacht.

Der Schutz und die Erhaltung der Augengesundheit sind für die Bewahrung dieser lebenswichtigen Verbindung zur Welt unerlässlich. Regelmässige Augenuntersuchungen und ein gesunder Lebensstil tragen alle dazu bei, eine optimale Sehkraft zu erhalten.

Im Grunde ist das menschliche Auge nicht nur ein biologisches Wunderwerk, sondern unser Tor zur Welt. Sein kompliziertes Design und seine Funktionalität prägen unsere Erfahrungen, beeinflussen unsere Gefühle und erleichtern unsere Beziehungen zu anderen. Die Anerkennung der tiefgreifenden Rolle der Augen in unserem täglichen Leben unterstreicht die Bedeutung der Augenheilkunde – das Sehen zu erhalten oder wiederherzustellen.

Was habe ich für einen wunderbaren Beruf!

HENDRIK SCHOLL ist Professor für Augenheilkunde und Chefarzt des Augenspitals Basel. Er ist einer der beiden Gründungsdirektoren des Instituts für Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB). Er studierte Medizin und Philosophie an der Universität Tübingen. Seine wissenschaftliche und klinische Laufbahn umfasste Stationen an der Universitäts-Augenklinik Tübingen, dem Moorfields Eye Hospital in London und der Universitäts-Augenklinik Bonn. Von 2010 bis 2016 war er Professor für Augenheilkunde am Wilmer Eye Institute der Johns Hopkins University in Baltimore (USA).

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