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Vom Hören und Sehen

STEPHAN WERTHMÜLLER

VOM HÖREN UND SEHEN

Schon Aristoteles hat sich vor rund 2400 Jahren mit den Sinnen des Menschen auseinandergesetzt.

Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten. Dies sind die klassischen Sinne, die den Menschen, nein, jedes Lebewesen auszeichnen. Aber schon Aristoteles kam zum Schluss, dass es mindestens einen weiteren Sinn (den sprichwörtlichen 6. Sinn) geben könnte, der alles zusammenfügt und der der Seele etwas Gesamtheitliches «übermittelt». Meine Überlegungen beschränken sich im Folgenden auf die für uns Menschen im Alltag wichtigsten Sinne, das Hören und Sehen.

Wohl jeder hat sich in seinem Leben schon mal die Frage gestellt, worauf er denn – wenn es sein müsste und wenn er wählen müsste – verzichten würde: auf das Hören oder das Sehen. Sucht man in der Literatur und insbesondere bei den Medizinern nach der einen Antwort, findet man praktisch unisono die Auskunft, dass der Mensch sehr stark auf den Sehsinn ausgerichtet ist, ein eigentliches Sehtier sei, und dass deswegen das Sehen der wichtigste Sinn ist. Gute Neuigkeiten für Ramstein Schon unsere Urahnen hätten ja als Jäger und Sammler ohne Sehsinn nicht überleben können. Wie soll man denn das Mammut erlegen, ohne dass man es sieht, wie soll man die Himbeere finden? Auf der anderen Seite hätten unsere Urahnen aber nicht überlebt, hätten sie den Säbelzahntiger nicht gehört, wenn er sich von hinten anschlich. Das Gehör hat den Vorteil, dass es uns rundherum zur Verfügung steht, die Augen hingegen «nur» zielgerichtet oder fokussiert zum Einsatz kommen. Wir sind ja keine Insekten.

Als Konzertveranstalter sehe und höre ich es natürlich etwas differenzierter. Sitzt man erst mal im Konzertsaal, geht nichts mehr ohne Hören. Bei blinden Musikern und Konzertbesuchern ist es wahrscheinlich so – ich kann es nur vermuten –, dass sie besser hören, auch mit dem Bauch, als alle anderen. Manchmal schliesse ich bewusst die Augen, um vielleicht etwas mehr vom Sound mitzukriegen, bewusster wahrnehmen zu können, Instrumente besser unterscheiden zu können, Zwischentöne zu hören. Es ist ein riesiges Geschenk, das so erleben zu dürfen und die Augen auch wieder öffnen zu können, wenn man dies möchte. In der Popszene gibt es einige Musiker, die, ohne sehen zu können, eine grosse Karriere gemacht haben, ich denke dabei insbesondere an Stevie Wonder oder an Ray Charles. Auch die Gospelgruppe «The Blind Boys of Alabama», die das Nichtsehenkönnen sogar zu einem Markenzeichen gemacht haben, gehört dazu.

Musik bestimmt einen grossen Teil meines Lebens, ob als Privatperson oder als Berufsmensch, weswegen ich sehr dankbar dafür bin, dass ich im Laufe des Lebens gelernt habe, besser zu hören. Immer mehr spielen aber auch Lichteffekte bei einem Konzertanlass eine bedeutende Rolle, und insbesondere bei elektronischer Musik gehören Ton und Licht zusammen und bilden ein einheitliches Ganzes. Also ist die Frage, ob Hören oder Sehen in der Popmusikkultur wichtiger ist, nicht eindeutig zu beantworten. Wie komplex und zusammenhängend die Sache ist, hat angeblich schon Friedrich Nietzsche auf den Punkt gebracht: «Die Tanzenden wurden für verrückt gehalten von denjenigen, die die Musik nicht hören konnten.» Treffender kann man es nicht sagen.

STEPHAN «STEFFI» WERTHMÜLLER Gründer & VR-Präsident Baloise Session, VR KKL Luzern, Stiftungsrat Kunstmuseum Basel, hat in diesem Beitrag aufs Gendern verzichtet.

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