FOKUS
IM GESPRÄCH
Mit Hartnäckigkeit und Know-how ans Ziel
Die Juristinnen und Juristen der SPV kämpfen oft jahrelang für die Rechte unserer Mitglieder. Agnès von Beust und Michael Bütikofer sprechen über ihren Berufsalltag und über ihren Erfolg vor Bundesgericht. Von Gabi Bucher und Nadja Venetz
Am 27. Oktober 2021 erging ein wesentlicher Bundesgerichtsentscheid für unsere Mitglieder. Worum ging es? Michael Bütikofer: Seit dem Jahr 2017, das heisst seit Inkrafttreten des revidierten Un fallversicherungsgesetzes bzw. -verordnung liegen wir regelmässig im Streit mit den Unfallversicherungen. Dies deshalb, weil sie sich auf den Standpunkt gestellt haben, dass sie sich an den ambulanten Grundpfle gekosten von querschnittgelähmten Men schen lediglich mit einer Hilflosenentschä digung beteiligen müssen. Wir sahen dies jedoch von Anfang an anders und haben uns entsprechend und bis vor Bundes gericht gegen die Auffassung der Unfallversicherungen gewehrt. Mit Urteil vom 27. Oktober 2021 hat das Bundesgericht, mithin das höchste Gericht in der Schweiz, unsere Beschwerde gegen die Suva gutgeheissen und entschieden, dass sich die Unfallversicherungen in Zukunft zuzüglich zur Hilflosenentschädigung je nach Konstellation des Einzelfalles auch namhaft an den Kosten der ambulanten Grundpflege beteiligen müssen. Ein grosser Erfolg, seid ihr zufrieden? Agnès von Beust: Wir sind zwar dankbar für diesen Entscheid, aber er ist bittersüss. Unser Ansatz war, dass die Unfallversiche rungen dieselben Leistungen schulden wie die Krankenversicherungen. Das wäre für unsere Versicherten noch besser als die Lösung, die das Bundesgericht jetzt beschlossen hat. 44
Michael Bütikofer: Von den 100 %, die wir uns gewünscht haben, haben wir 75 % bekommen. So, wie wir argumentiert haben, hätten wir mehr bekommen können. Aber wir haben nun mindestens einen klaren Entscheid und können damit arbeiten. Wie ist es denn überhaupt zu den grossen Meinungsdifferenzen zwischen den Unfallversicherungen und euch gekommen? Michael Bütikofer: Ich sehe den Ursprung in einer ungenauen Formulierung von Art. 18 der Unfallverordnung. Der Verordnungsgeber hat es versäumt, diese in der Praxis wichtige Bestimmung präzis genug zu formulieren. Der Verordnungsgeber hätte genauer festhalten müssen, wie und in wel chem konkreten Umfang sich die Unfallversicherungen an den ambulanten Pflege kosten zu beteiligen haben. So wie Art. 18 der Unfallverordnung heute formuliert ist, lässt er offenbar Raum für verschiedene Interpretationen. Dies führt natürlich zu Meinungsdifferenzen. Agnès von Beust: In diesem konkreten Fall war diese Meinungsverschiedenheit für mich schwer zu akzeptieren. Ich habe gesehen, wie die Betroffenen zum Teil wegen diesem Streitfall in ihrer finanziellen Existenz zu Hause bedroht waren: Wer zahlt die restlichen Pflegekosten? Wie kann ich mir diese Pflegekosten ohne genügende Hilfe der Versicherung leisten? Zudem war ich überzeugt, dass unsere juristische Auffassung die absolut richtige ist. Wenn ich so
überzeugt bin, vertrete ich diese Meinung bis ins Letzte. Meine Motivation ist in solchen Fällen sehr gross. Werdet ihr dieses Urteil noch weiterziehen? Michael Bütikofer: Nein, das können wir nicht. Wir müssten es nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Men schenrechte bringen. Das würde aber vo raussetzen, dass wir beweisen können, dass mit diesem Urteil die Normen und Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden sind. Dieser Fall beschäftigt euch schon sehr lange. Ist das immer so in eurer Arbeit? Agnès von Beust: Ja, das passiert sehr häufig. Unser grösster Feind ist die Zeit. Die Be troffenen möchten sofort einen Entscheid, aber das können wir nicht bieten. Die Müh len der Justiz mahlen unglaublich langsam! Wir selber müssen innerhalb von 30 Tagen reagieren, aber die Verwaltung kennt kei ne solchen Fristen. Die kann sich mit ihren Entscheiden bedeutend mehr Zeit lassen. Das fällt auf uns zurück. Der Klient möchte wissen, was Sache ist, aber uns sind die Hände gebunden. Michael Bütikofer: Es gibt ein weiteres Problem mit diesen Verzögerungen: Wir machen eine Beschwerde, gelangen ans Gericht, dieses verlangt einen Kostenvorschuss, der wird bezahlt. Die Beschwerde geht an die Gegenpartei, damit sie darauf Antwort geben kann. Das dauert an die 30 Tage, Paracontact I Sommer 2022