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Schlechtes Zeugnis für die Schweiz

UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION

Im März überprüfte ein Ausschuss der Vereinten Nationen, wie die Schweiz die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzt. Zu tun gibt es noch einiges.

Von Nadja Venetz

Kundgebung in Bern Mitbestimmung, Wahlfreiheit und Teilhabe

Die selbstgebastelten Plakate fordern Wahlfreiheit, gleiche Bildungs- und Berufschancen oder die offizielle Anerkennung der Gebärdensprache. Die Anliegen sind so vielfältig wie die Ballone, die in den Himmel ragen und so vielfältig wie die Menschen, die sich an diesem Mittwochnachmittag auf dem Waisenhausplatz in Bern zusammenfinden. Bei aller Vielfalt, sie alle wollen dasselbe: gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft sein.

Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, lud am 9. März 2022 zur Kundgebung in die Bundeshauptstadt. Gefolgt sind viele, auch SPV-Mitglieder und Mitarbeitende. Anlass war die Überprüfung der Schweiz durch einen Ausschuss der UNO. Wenige Tage später musste die Schweiz in Genf darlegen, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umgesetzt hat. Alle Rednerinnen und Redner rufen von der Bühne, was Kundgebungsteilnehmenden aus ihrem täglichen Leben bereits wissen: Von einer inklusiven Gesellschaft sind wir in der Schweiz noch ein gutes Stück entfernt.

Missstände

Die Schweiz hat die UN-BRK 2014 ratifiziert und vertritt die Ansicht, die Konvention acht Jahre später weitgehend zu erfüllen. Dass dem nicht so ist, verdeutlicht Inclusion Handicap im Schattenbericht, den der Dachverband zuhanden des UNOAusschusses verfasst hat. «Mit dem Bericht, an dem auch die SPV beteiligt war, wollen wir den Ausschuss sensibilisieren, genau hinzuschauen. Ich vergleiche die UN-BRK gerne mit einem Puzzle. Die Schweiz hat angefangen, dieses Puzzle zusammenzusetzen, aber es hat noch beträchtliche Lücken. Es ist unsere Aufgabe, darauf aufmerksam zu machen, welche Teile auf keinen Fall fehlen dürfen», erklärt SPVPräsidentin Olga Manfredi an der Kundgebung.

Der Schattenbericht zeigt schonungslos, dass auch im Jahr 2022 in der modernen Schweiz Menschen mit Behinderung noch zahlreichen Benachteiligungen ausgesetzt sind. Sie sind teilweise vom Wahlrecht ausgeschlossen, haben keinen Zugang zu öffentlichen Gebäuden und Infrastruktur, zum Arbeitsmarkt und zu Bildung. Deutlich wurde dies auch während den Anhö-

rungen, die vom 14. bis 16. März 2022 in Genf stattfanden. Eine Delegation der Behindertenorganisationen berichtete über die Lage. Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Kantonen standen Rede und Antwort. Hörte man deren Antworten, musste man unweigerlich feststellen: Mit der UN-BRK und dem damit verbundenen Menschenrechtsansatz beschäftigt sich hier kaum jemand. Viel zu oft zielten Antworten an den Fragen des UNO-Ausschusses und den Verpflichtungen der Konvention vorbei. So führte eine Antwort einer Schweizer Vertreterin zur Invalidenversicherung bei einem Ausschussmitglied, das selber mit einer Behinderung lebt, zur spitzen Bemerkung: «Do not try to fix us, just accept us!» («Versuchen Sie nicht, uns zu reparieren, sondern akzeptieren Sie uns!»).

Planlos

In ihrer Argumentation bezog sich die offizielle Schweiz überwiegend auf bestehende Rechtsgrundlagen. Dass diese seit der BRK-Ratifizierung nicht angepasst wurden und mit der Konvention zum Teil keineswegs zu vereinbaren sind, schien Teilen der Schweizer Delegation nicht klar zu sein. Deutlich sichtbar war das Fehlen einer Gesamtsicht auf die Umsetzung der UNBRK, geschweige denn eines abgestimmten Umsetzungsplans und konkreter Massnahmen. Statt auf klare Massnahmen wurde auf Prüfaufträge, Auslegeordnungen und Visionen verwiesen. Die Anhörung hat gezeigt, wie weit die Vorgaben der Vereinten Nationen und die Wahrnehmung der Schweizer Verwaltung auseinanderklaffen.

Note ungenügend

Das Resümee des UNO-Ausschusses ist folglich ernüchternd. Die darin gezogenen Schlussfolgerungen und Empfehlungen an die Schweiz decken sich mit den Kritikpunkten des Schattenberichts von Inclusion Handicap.

Ganz grundsätzlich fehlt es der Schweiz an einer Strategie. Die Umsetzung der Konvention wird nicht konsequent verfolgt, einen nationalen Aktionsplan gibt es ebensowenig wie eine systematische Überprüfung der Rechtsgrundlagen. Nach wie vor orientiert sich der Rechtsbegriff in der Schweiz an einem medizinischen, defizitorientierten Verständnis von Behinderung. Bei Gesetzen und politischen Strategien sind Menschen mit Behinderung nicht am Entwicklungsprozess beteiligt, ihre Bedürfnisse und Anliegen werden nicht berücksichtigt. Das Konzept der Inklusion, wie es die UN-BRK vorsieht, ist weder auf Ebene des Bundes, der Kantone, der Gemeinden noch bei Behindertenorganisationen und -institutionen systematisch aufgenommen worden.

Gerügt wird ebenfalls, dass die Schweiz Menschen mit Behinderung nur ungenügend vor Diskriminierungen schützt. Dafür muss die Schweiz gemäss Ausschuss umgehend Massnahmen ergreifen. In der Pflicht sind hier sowohl die Gerichte als auch der Gesetzgeber auf Ebene Bund und Kantone. Zudem kritisiert der Ausschuss die gebräuchlichen Bezeichnungen. «Invalidität» oder «Hilflosenentschädigung» werten Menschen mit Behinderung ab.

Ausschluss statt Inklusion

Bis heute setzt die Schweiz vor allem auf institutionelle Wohnformen. Wer jedoch selbstständig wohnen will, stösst auf zahlreiche Hürden. Der Ausschuss fordert die Schweiz auf, ein kohärentes, flexibles und unkompliziertes Assistenzmodell als Ersatz für bisherige Unterstützungsbeiträge zu erarbeiten, das allen Menschen mit Behinderung den notwendigen Zugang zu Assistenz gewährt.

Auch das Bildungssystem sowie der Arbeitsmarkt sind alles andere als inklusiv. Der UNO-Ausschuss rügt, dass Kinder viel zu oft an Sonderschulen unterrichtet werden, Erwachsene nur auf dem «geschützten Arbeitsmarkt» eine Anstellung finden. Solange die Arbeitgebenden kaum angepasste Arbeitsstellen schaffen und es an Unterstützungsangeboten fehlt, kann kein inklusiver Arbeitsmarkt entstehen. Der Ausschuss ersucht die Schweiz, Massnahmen zu ergreifen, um die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung auf dem offenen Arbeitsmarkt zu erhöhen.

Missstände wurden auch beim Thema Hindernisfreiheit deutlich. Der UNO-Ausschuss verlangt eine Strategie, die über alle Verwaltungsebenen hinweg den barriereZUSATZPROTOKOLL

Neben der bisher mangelhaften Umsetzung der UN-BRK hat die Schweiz auch das BRK-Fakultativprotokoll noch nicht ratifiziert. Trotz der Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderung in der Schweiz also nicht die Möglichkeit, bei Verletzungen ihrer Rechte an den UNO-Ausschuss zu gelangen. Unterschreiben Sie deshalb jetzt die Petition und fordern Sie den Bundesrat zur Ratifizierung des Zusatzprotokolls auf!

Jetzt unterschreiben

www.zurecht.ch/petition

freien Zugang zu Gebäuden und Einrichtungen, öffentlichem Verkehr, Dienstleistungen und Informationen verfolgt.

Nächste Schritte

Per Ende 2022 haben Bund und Kantone einen Bericht zur Behindertenpolitik in Aussicht gestellt. Gemeinsam mit den Behindertenorganisationen soll daraus ein Aktionsplan entstehen, welcher die Prioritäten, die Zuständigkeiten, einen Zeitplan sowie das nötige Budget festhält. Die Empfehlungen des UN-Ausschusses sowie der Schattenbericht von Inclusion Handicap dienen dabei als Druckmittel, damit die UNO-BRK endlich umgesetzt wird. «Die Überprüfung durch die UNO hat einiges aufgedeckt, was gegenüber der Regierung Druck aufbaut. Ich hoffe, dass jetzt Dinge konsequent angepackt werden», sagt SPVDirektor Laurent Prince.

Weitere Informationen www.zurecht.ch

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