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Willkommen in der Oase

UMBAU

Der 61-jährige Zürcher Christian Roth lebt selbstständig in seiner Loftwohnung in Wald ZH. Das ist auch den baulichen Anpassungen durch das Zentrum für hindernisfreies Bauen zu verdanken.

Von Peter Birrer

Die Tür steht offen, und mitten in seinem Reich wartet der Gastgeber. Er lebt nicht in irgendeiner Wohnung, die klassisch daherkommt mit drei oder vier Zimmern. Seine Heimat ist ein einziger Raum, fast vier Meter hoch, 160 Quadratmeter gross. Und einer, in dem sich ganz viele Geschichten verbergen. Christian Roth sagt sichtlich zufrieden: «Wer einmal hier gewohnt hat, möchte nicht mehr so schnell weg.»

Christian Roth ist 61 und ein gebürtiger Zürcher, der vor zehn Jahren eine Seegemeinde in Richtung Oberland des Kantons verlassen hat. Als er erfährt, dass in der ehemaligen Textilfabrik Bleiche in Wald Loftwohnungen ausgeschrieben sind, interessiert er sich dafür. Schliesslich hat er immer schon davon geträumt, einmal so leben zu können.

Mit seiner Familie zieht er auf ein Gelände, das kontinuierlich an Attraktivität gewinnt und auch dank Hotel, Bar sowie Fitness zu einem populären Zentrum im Dorf wird. Der gelernte Innenarchitekt braucht keine Angewöhnungszeit in der ländlichen Gegend, und daheim kommt so schnell keine Langeweile auf. Dafür sorgt die Einrichtung des neuen Daheims.

Baumhütte in der Wohnung

Da sind Erinnerungen an Reisen in die Ferne, ein Didgeridoo zum Beispiel, ein traditionelles Musikinstrument der australischen Ureinwohner. Da sind Trommeln und Federn, Figuren und Steine, viele Gegenstände, die Christian Roths Verbundenheit mit der indianischen Kultur belegen. Da ist auch eine kleine Baumhütte, erreichbar über eine Holztreppe, die heute noch den zwei erwachsenen Söhnen als Schlafgelegenheit dient. Oder da ist dieser mächtige Kakaobaum, der wunderbar zur Geltung kommt. «Zu all dem habe ich eine emotionale Bindung», sagt Christian Roth.

Er hat vieles selber geplant und umgesetzt. Er liebt es vor allem, mit Holz und Leder zu arbeiten, er achtet auf Details, und der Gast bekommt das Gefühl, dass dadurch in jeder Ecke des Raumes Leben herrscht. Und dass das Einrichten nie wirklich ein Ende findet. Christian Roth will nicht einfach «in vier Wänden» wohnen, «mir ist die Umgebung sehr wichtig», sagt er, «für mich ist das meine Oase».

Im Dezember 2020 erleidet Christian Roth aus dem Nichts einen Aortariss, wird im Universitätsspital Zürich notfallmässig operiert und erhält danach die Diagnose: Tetraplegie. Es folgen lange Monate der Rehabilitation im Schweizer ParaplegikerZentrum (SPZ) in Nottwil. «Man macht sich allerlei Gedanken darüber, wie es weitergehen soll», sagt er, «und ob es überhaupt weitergeht.» Er hat das Glück, dass er in ein starkes Umfeld eingebettet ist, seine Familie und Freunde richten ihn immer wieder auf.

Christian Roth macht Fortschritte

Er ist auf den Rollstuhl angewiesen, aber die Nerven im Rückenmark sind nicht durchtrennt, was ihn sagen lässt: «Ich gebe die Hoffnung nicht auf, eines Tages wieder aufrecht und selbstständig gehen zu können.» Seit Dezember 2020 hat er Fortschritte gemacht, zwar meistens nur minime, aber es gibt welche, und das nimmt er als ermutigende Signale wahr.

Während seines Aufenthalts in Nottwil macht sich Christian Roth selbstverständlich auch Gedanken darüber, wie seine Wohnsituation in Zukunft aussehen wird. Er möchte natürlich zurück nach Wald, zurück in seine Oase. Nur ist ihm auch bewusst, dass das ohne bauliche Anpassungen der Wohnung kaum möglich sein wird. Er lebt inzwischen allein und ist darauf angewiesen, dass er nicht ständig auf Hindernisse prallt, die er nicht oder nur unter grössten Anstrengungen überwinden kann.

Er hat mit seinem beruflichen Hintergrund zwar sehr wohl eine Vorstellung, wie ein Umbau aussehen könnte und müsste. Al-

Kreativ und unkonventionell Schlafzimmer und Küche

lerdings ist für ihn sofort klar, dass er damit einen Architekten beauftragen will. Und da kommt das Zentrum für hindernisfreies Bauen (ZHB) der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung ins Spiel. Bereichsleiter und Architekt Felix Schärer nimmt sich des Falls an.

Schlafen hinter Schiebetüren

Während Christian Roth in Nottwil weilt, macht sich Felix Schärer zusammen mit Ergotherapeutin Natalie Lammers am 11. Juni 2021 ein eingehendes Bild in Wald – auch vom Areal, um allenfalls den Zugang ins Haus zu erleichtern. «Ein spezielles Ambiente», so der erste Gedanke des Architekten, «es ist sehr cool, was auf diesem Gelände alles entstanden ist.» Der grosse Vorteil der Loftwohnung: Sie befindet sich im Erdgeschoss. Und eben, das ist eine grosse Fläche, die frei von Schwellen ist.

Wenn Christian Roth zu Bett geht, kann er hinter sich zwei Schiebetüren schliessen.

Die grösste Veränderung in Christian Roths Loftwohnung, das ist rasch offensichtlich, betrifft das Bad – «den Raum im Raum», wie es Felix Schärer formuliert. Die Badewanne muss weichen, dafür wird eine bodenebene Dusche eingebaut, ebenso eine neue Toilette; eine breitere Tür wird angebracht, was auch eine Anpassung der GlasMetall-Konstruktion der Nasszelle erfordert; zudem erhält der Raum einen neuen Boden und neue Plättli.

In technischer Hinsicht sieht sich Felix Schärer nicht mit einer komplizierten Aufgabe konfrontiert, diese Art von Umbau ist für ihn Routine. Aber es stellen sich weitere Fragen, zu deren Lösung die Verwaltung des Gebäudes beitragen muss. Seine Absicht: die Tür am Haupteingang automatisieren, Schwellen auf dem Weg zu Christian Roths Loftwohnung eliminieren, Rampen einsetzen. Die Parteien finden eine Einigung und Felix Schärer beginnt mit der Planung des Umbaus. Handwerker von acht Firmen aus der Region stehen ab Ende September 2021 während zwei Wochen im Einsatz.

Das Wohnen ist noch wichtiger

Was am Ende herauskommt, gefällt Felix Schärer – und es entspricht ganz dem Gusto von Christian Roth. «Eine super Lösung. Genau so habe ich mir das vorgestellt», sagt er. Im Herbst des vergangenen Jahres ist es so weit: Christian Roth kehrt vom Sempachersee nach Wald zurück und findet sich auf Anhieb mühelos zurecht. Er verbringt nun mehr Zeit daheim als vorher, darum ist ihm das Wohnen «noch etwas wichtiger geworden», wie er bemerkt.

Bis zum Aortariss hat er im Aussendienst gearbeitet, jetzt ist er oft in seinem Atelier auf dem Bleiche-Areal anzutreffen. Die Funktion seiner rechten Hand ist zwar eingeschränkt, aber das hindert ihn nicht daran, Lederprodukte anzufertigen: Handtaschen, Etuis oder Handyhüllen, die er auch zum Verkauf anbietet. Unübersehbar ist ein Boxsack, den er selber hergestellt und in der Wohnung montiert hat.

Alles in allem ist Christian Roth mit seiner Situation höchst zufrieden. Optimieren liesse sich einzig die Küche mit unterfahrbarer Arbeitsfläche. Allerdings wurde aus Kostengründen vorerst davon abgesehen. Für Erleichterung sorgt immerhin ein neuer Vollauszug beim Backofen. «Für das Kochen benötige ich so oder so doppelt so lange wie vorher», sagt er, «es ist grundsätzlich alles aufwendiger mit dem Rollstuhl. Aber ich schätze mich glücklich, dass ich überhaupt wieder hier und weitgehend selbstständig leben kann.»

Videoclip

Felix Schärer und Christian Roth erzählen vom Umbau.

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