alpenblick, Ausgabe 4/2020

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Reportage

Sehnsuchtsort Alpen – Am Ziel der Träume? von Ulrich Kühnl*

Foto: Wikipedia

steigung des Mont Blanc 1786 kann als Auftakt gesehen werden. Kein Name ist mit den Fortschrittsidealen dieser Epoche und den Bergen der Welt so verbunden wie der von Alexander von Humboldt (1769–1859), Universalgelehrter, Entdecker und Erfinder eines miteinander vernetzten universalen Naturverständnisses, das uns bis heute tief berührt und die Seele des Alpinismus ausmacht. Die erste Festveranstaltung unserer Sektion 1869 war Humboldt gewidmet. Insbesondere die englische Aristokratie machte die Alpen zu ihrem „Playground“. Die Erstbesteigung des Matterhorns 1865 durch Edward Whymper ist ein tragisches Beispiel für diese Attitüde: Beim Abstieg der Seilschaft stürzten vier Männer über die Nordwand zu Tode. In den deutsch-österreichischen Ostalpen setzte die Begeisterung etwas später ein und war romantischer geprägt. Dabei spielte eine wachsende, innengerichtete Natursehnsucht eine wichtige Rolle. So wurden die Alpen zum Traum einer romantischen, „heilen Gegenwelt“, die gekennzeichnet war von der sportlichen Bewegung in einer bizarr schönen Natur, einem einfachen „unverdorbenen“ Leben und der Sehnsucht nach Einsamkeitserleben. Diese Sehnsüchte und Klischees spiegeln sich auch in der mitunter trivialen Kunst- und Literaturgeschichte und sind bis heute äußerst präsent.

Albtraum am Mount Everest. Foto: AFP/Nirmal Purja

Wenn wir uns die Bilder von den CoronaHotspots wie Ischgl oder die Schlangen am Mount Everest vor Augen führen, denken wir eher an Albträume als an Träume. Dennoch: Trotz aller Ambivalenzen erscheinen vielen Menschen die Projektionen vom alpinen Traum nach wie vor als eine Art Fluchtburg. Schroffe Berglandschaften, Almen, Hütten und unzählige Wander- und Bergziele zwischen Wien und Nizza berühren Erlebniswelten, die durch Geld und Komfort nicht zu haben sind. Unzweifelhaft gibt unsere Geschichte immer wieder Anlass zu einer selbstkritischen Neureflexion. Wie die Alpen zum Sehnsuchtsort wurden Die Wurzeln der Faszination berühren die Urzeiten. Die Alpen galten als Terra Incognita, abweisend, angstbesetzt.

Sitz der Götter: Olymp (Mytikas). Foto: Ulrich Kühnl

Man blieb den Bergen fern und sie gaben Stoff für Mythen, so der Olymp, Sitz der Götter in der Antike, heute ein unvergleichlich berührendes Bergerlebnis. Zudem waren die Alpen schon immer Barriere und Brücke zwischen den Kulturen im Herzen Europas. Diese DoppelFunktion führte im Laufe unserer wechselvollen europäischen Geschichte zu wichtigen Impulsen und Bereicherungen, aber auch zu nationalistischen Reibungen. Der Beginn der Alpenbegeisterung, wie wir sie heute erleben, wird durch die Aufklärung markiert. Diese vom aufstrebenden Bürgertum geprägte Epoche beschreibt ein völlig neues Verständnis von Mensch, Natur und Gesellschaft. Forschung, Vermessung und Entdeckung werden großgeschrieben, Abenteuerlust kommt hinzu. Die Be-

Auftakt: Mont Blanc 1786. Foto: Ulrich Kühnl

* Gekürzte und aktualisierte Fassung Vortrag Schwabenakademie Irsee, Oktober 2019

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Erschließung durch den Alpenverein Schubkräfte für den alpinen Tourismus ergaben sich vor allem durch die Eisenbahnanbindung und die Erschließungsaktivitäten des 1869 gegründeten Deutschen Alpenvereins (DAV). Die Alpen

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21.10.2020 09:24:34


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