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Reportage
Sehnsuchtsort Alpen – Am Ziel der Träume?
von Ulrich Kühnl*
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Albtraum am Mount Everest. Foto: AFP/Nirmal Purja
Wenn wir uns die Bilder von den CoronaHotspots wie Ischgl oder die Schlangen am Mount Everest vor Augen führen, denken wir eher an Albträume als an Träume.
Dennoch: Trotz aller Ambivalenzen erscheinen vielen Menschen die Projektionen vom alpinen Traum nach wie vor als eine Art Fluchtburg. Schro e Berglandschaften, Almen, Hütten und unzählige Wander- und Bergziele zwischen Wien und Nizza berühren Erlebniswelten, die durch Geld und Komfort nicht zu haben sind. Unzweifelhaft gibt unsere Geschichte immer wieder Anlass zu einer selbstkritischen Neure exion.
Wie die Alpen zum Sehnsuchtsort wurden Die Wurzeln der Faszination berühren die Urzeiten. Die Alpen galten als Terra Incognita, abweisend, angstbesetzt. Man blieb den Bergen fern und sie gaben Sto für Mythen, so der Olymp, Sitz der Götter in der Antike, heute ein un vergleichlich berührendes Bergerlebnis.
Zudem waren die Alpen schon immer Barriere und Brücke zwischen den Kulturen im Herzen Europas. Diese DoppelFunktion führte im Laufe unserer wechsel vollen europäischen Geschichte zu wichtigen Impulsen und Bereicherungen, aber auch zu nationalistischen Reibungen.
Der Beginn der Alpenbegeisterung, wie wir sie heute erleben, wird durch die Aufklärung markiert. Diese vom aufstrebenden Bürgertum geprägte Epoche beschreibt ein völlig neues Verständnis von Mensch, Natur und Gesellschaft. Forschung, Vermessung und Entdeckung werden großgeschrieben, Abenteuerlust kommt hinzu. Die Be-
Sitz der Götter: Olymp (Mytikas). Foto: Ulrich Kühnl Auftakt: Mont Blanc 1786. Foto: Ulrich Kühnl steigung des Mont Blanc 1786 kann als Auftakt gesehen werden.
Kein Name ist mit den Fortschrittsidealen dieser Epoche und den Bergen der Welt so verbunden wie der von Alexander von Humboldt (1769–1859), Universalgelehrter, Entdecker und Er nder eines miteinander vernetzten universalen Naturverständnisses, das uns bis heute tief berührt und die Seele des Alpinismus ausmacht. Die Foto: Wikipedia erste Festveranstaltung unserer Sektion 1869 war Humboldt gewidmet.
Insbesondere die englische Aristokratie machte die Alpen zu ihrem „Play ground“. Die Erstbesteigung des Matterhorns 1865 durch Edward Whymper ist ein tragisches Beispiel für diese Attitüde: Beim Abstieg der Seilschaft stürzten vier Männer über die Nordwand zu Tode.
In den deutsch-österreichischen Ostalpen setzte die Begeisterung etwas später ein und war romantischer geprägt. Dabei spielte eine wachsende, innengerichtete Natursehnsucht eine wichtige Rolle.
So wurden die Alpen zum Traum einer romantischen, „heilen Gegenwelt“, die gekennzeichnet war von der sportlichen Bewegung in einer bizarr schönen Natur, einem einfachen „unverdorbenen“ Leben und der Sehnsucht nach Einsamkeitserleben. Diese Sehnsüchte und Klischees spiegeln sich auch in der mitunter trivialen Kunst- und Literaturgeschichte und sind bis heute äußerst präsent.
Erschließung durch den Alpenverein Schubkräfte für den alpinen Tourismus ergaben sich vor allem durch die Eisen bahnanbindung und die Erschließungsaktivitäten des 1869 gegründeten Deutschen Alpenvereins (DAV). Die Alpen
Der Wanderer über dem Nebelmeer, Gemälde von Caspar David Friedrich (um 1818) – Symbol der Romantik. Foto: Wikipedia
sollten begehbar gemacht und touristisch entwickelt werden. Die Gründerväter der Augsburger Sektion waren hier unter den Ersten und kümmerten sich um Wegebau, Kartograe, Hüttenbau und um die Organisation des Bergführerwesens im Allgäu und Lechtal. Wirtschaftliche und wissenschaftliche Interessen, Romantik und Abenteuerlust vermischten sich und entfalteten eine enorme touristische Dynamik. Die meisten Hütten werden in Österreich errichtet und der Alpenraum wird mehr und mehr zur Projektionsäche nationaler Identität.
Nach der Zäsur der Weltkriege erwächst eine enorme Sehnsucht nach Frieden und Idylle. Kürzere Arbeitszeiten und Mobilität ankieren den Massentourismus. Ungezügelter Bauboom und Übererschließung werden zum Problem. Im Alpenverein entstehen Gegenbewegungen. Naturschutz kommt auf die Agenda.
Alpensouvenir Edelweiß – heute unter strengem Naturschutz. Foto: Ulrich Kühnl Die skizzierten historischen Wurzeln und Entwicklungsprozesse im Alpinismus bestimmen bis heute den Sto der alpinen Träume. Sie sind zu einem faszinierenden Amalgam verschmolzen und in der hochkommerzialisierten, globalen und digitalisierten Welt vielleicht lebendiger denn je. Aber nicht erst Corona und Klimakrise haben oensichtliche Auswüchse und Fehlentwicklungen sichtbar gemacht. Ausprägungen und Formen der alpinen Leidenschaft müssen atmen und stets aktiv und zielgerichtet neu gestaltet werden. Die Alpen sind heute akut von Massentourismus und Klimawandel bedroht, und ein „Weiter so“ ist augenscheinlich keine Option.
Die Alpen sind keine unverrückbaren Ewigkeitselemente, vielmehr unterliegen sie ständiger Veränderung. Die wachsenden geologischen Erkenntnisse greifen schon seit Generationen tief in das traditionelle statische Weltbild ein und faszinierten bereits unsere Gründerväter.
Wir nehmen täglich zur Kenntnis, dass selbst das härteste Urgestein am Matterhorn mit schwindendem Permafrost bröckelt, der Hochvogel auseinanderbricht und das „ewige Eis“ der alpinen Gletscher sichtbar schwindet, mit gravierenden Folgen.
Klimaschutz und Pandemien sind zweifellos zu einer zentralen gesellschaftlichen Herausforderung unserer Zeit geworden und erfordern ein Umdenken und Umsteuern in der alpinen Tourismusentwicklung auch im eigenen Verantwortungsbereich, etwa bei Touren oder Hütten. Eine wachsende Wertschätzung heimischer Destinationen, die aber schnell ins Negative umschlagen kann, ist schon jetzt erkennbar.
Verträglicher Tourismus ist gefragt Ein Problemkreis betrit die Überlas- tungen der transalpinen Verkehrsinfrastruktur. Zwar schwingen bis heute bei jeder Urlaubsreise über die Alpen Träume und Sehnsüchte mit und wir erleben – wie einstmals Goethe – die Unterschiede in Vegetation, Sprache, Kultur und Landschaft als ungeheuer faszinierend. Gleichzeitig nehmen uns jedoch der Stau am Brenner oder der
Der Weg ist das Ziel …
… aber auch der Gipfel: Mont Blanc ( 4.810 m), dem Himmel so nah. Beide Fotos: Ulrich Kühnl
Motorrad-Rummel auf den Passstraßen jede Illusion.
Die jährlichen Besucherzahlen in den Alpen liegen heute bei über 100 Millionen! Dieser Massenbetrieb hinterlässt Spuren, hat sich als Brutstätte für die Ausbreitung von Corona erwiesen und trägt zur Zerstörung einstmals idyllischer Täler bei.
Als Antwort steht die Aufgabe einer nachhaltig verträglichen Tourismusentwicklung. Dabei erscheint mir eine Die- renzierung nach den Hauptsegmenten und den treibenden Motiven sinnvoll. Für viele Touristen stehen Status-Anerkennung, spektakuläre Kulisse für Wellness oder Freizeitspaß im Vordergrund. Ob das Etikett „Sehnsuchtsort“ hier angemessen ist, bleibt dahingestellt.
Andere aber sind begeisterte Bergsteiger und Naturliebhaber. Sie sind, ebenso wie frühere Generationen, auf der Suche nach einem Stück Gegenwelt. Diese bleibt ein Traum, der sich in seinen Elementen und Formen immer wieder neu de niert und ausdi erenziert. Man kann lange über den alpinen Traum philosophieren: Verbindendes Moment bleibt das humanistische Ideal, Sinne, Körper, Geist und Seele möglichst in Gleichklang mit der wunderschönen Natur zu bringen. Das impliziert u.a. auch ein ressourcen- und umweltschonendes Verhalten in eigener Sache sowie eine Au orderung, der Überkommerzialisierung Grenzen zu setzen. Viele Bergfreunde aber mögen nicht ganz auf Komfort und Service verzichten. Doch es geht dabei um Grautöne, nicht um Schwarz-Weiß.
Vor dem (alten) Waltenberger Haus In den Bergen ndet der Mensch sein Maß, sie erziehen zu Demut. Der Mensch ndet dort Stille und Ruhe. Die Berge fordern und sie lehren das Schauen. Kaum jemand hat das so eindrucksvoll mit Empathie formuliert wie Reinhold Stecher, von 1980 bis 1997 Bischof von Innsbruck. Fernwanderwege erscheinen manchem als moderne Pilgerrouten, wobei wir Almen oder Hütten als besondere Stationen erleben.
Viele Bergfreunde emp nden im Gipfelglück eine spirituelle Dimension. Der Gipfel kommt dem Himmel nahe und er symbolisiert das Ankommen an einem Ziel – ob mit Gipfelkreuz oder in schlichter Naturschönheit.
Die Politik lässt bisher wenig Neigung erkennen, der wuchernden Freizeitindustrie wirksame Leitlinien zu geben und, wenn nötig, auch Grenzen zu set zen.
Almrast im Winter. Beide Fotos: Ulrich Kühnl 1/3 Anzeige, Böhler-Hörakustik Konzepte zur Entwicklung eines nachhaltigen Alpintourismus bleiben bisher rudimentär.
Hier sehe ich neben der Politik auch Ver bände, Universitäten und nicht zuletzt den Alpenvereinals Vertreter der Kerngruppe der Alpenbegeisterten gefordert.
Verantwortung des DAV Der alpine Traum hat eine tiefgreifende Geschichte. Er entfaltet trotz aller Einschränkungen bis heute eine enorme Ausstrahlung. Doch unser Natur- und Kulturerbe ist stark gefährdet.
Klare Richtungsentscheidungen und Prioritäten sind gefragt. Wollen wir die Alpen zu einem riesigen Freizeitpark mit Bespaßungsanlagen entwickeln, in dem der Berg zur bloßen Kulisse degradiert wird, oder soll künftig die Förderung eines naturnahen, sanften Tourismus Vorrang genießen, damit die Ursprünglichkeit und Wildheit der Berge sowie die einmalige Kulturlandschaft auch für kommende Generationen erhalten bleiben?
Der Alpenverein steht in der Verantwortung, sich klarer als bisher zu positionieren und sich in die Entwicklung nachhaltiger Tourismuskonzepte einzubringen. Das fordert auch unsere Sektion. Vielleicht erweist sich die Corona-Krise
Hör die Stille Hör die Welt

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Ausgewählte Sehnsuchtsorte
Berchtesgaden ist mit Watzmann, Königssee und alten Mythen ein Symbol der Romantik. Hinzu kommt die Kon- no tation mit Hitlers Berghof, heute ein gelungenes Beispiel sensibel verarbeiteter NS-Geschichte. Mit dem DAV-unterstützten Bergsteigerdorf Ramsau wurde ein Schritt zu sanftem Tourismus getan.

Archaische Bräuche: Perchten lauf. Foto: Wikimedia/Holger Uwe Schmitt

Garmisch-Partenkirchen ist stark vom Rummel um die Zugspitze geprägt. Das Wirtshaus am Gipfelkreuz hat die Gemüter über Generationen bewegt. Nun kommt das Sterben des Schnee ferners hinzu. International berühmt durch Olympia 1936 setzte die Bevölkerung in den vergangenen Jahren zweimal einen mutigen Kontrapunkt und votierte gegen Olympia à la IOC. Zugspitze – Kulisse für Olympia. Foto: Ulrich Kühnl Das nahe gelegene Schloss Elmau, seit 1916 legendärer Kult- und Sehnsuchtsort für das protestantische Bildungsbürgertum, wurde vor einigen Jahren zu einem TOP-Luxushotel umgewandelt. Ein ernüchterndes Beispiel für den Wertewandel. Im Allgäu erreichen die Höhen- und Fernwanderwege die Kapazitätsgrenze. Dennoch grenzen sich Massentourismus und Bergidylle eindrucksvoll voneinander ab. Das unregulierte Lechtal mit den vielen Seitentälern erlebe ich als Bergsteiger-Paradies. Doch Motorräder und expansiver Skizirkus beeinträchtigen die bisherige Idylle. Alternativkonzepte sind noch nicht erkennbar.
Bergsteigerparadies Allgäuer und Lechtaler Alpen. Foto: Ulrich Kühnl
Zermatt erfährt mit 1,3 Millionen Über nachtungen und dem Matterhorn eine nahezu grenzenlose globale Vermarktung. Gedränge und Geschiebe sind die Folge. Der Berg der Berge steht umrahmt von vielen weiteren Viertausendern und einzigartigen Gletschern: Die Durchsteigung dieses Ensembles gehört wohl zu den größten Erlebnissen und Sehnsüchten eines Alpinisten. Aber diese phantastische Welt ist vom


Klimawandel bedroht.
Rund ums Matterhorn. Foto: Ulrich Kühnl
Analoges gilt für Grindelwald, wo der Massenansturm auf das Jungfraujoch durch eine Expressbahn nochmals forciert wurde.
Die Dolomiten und der Rosengarten sind Teil des UNESCOWeltnaturerbes, bekannt durch einmalige Schönheit und den Mythos der Laurin-Sage. Im Streit um die Errichtung eines riesi- gen Kristall-Turms an der Liftstation sieht der Alpenverein Süd- tirol ein Marketing-Spektakel für noch mehr Massentourismus, das die natürliche Erhabenheit entwertet – bisher ohne Erfolg…
