Hausärzt:in 04/2022

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Praxis-Magazin für Primärversorgung mit Sonderteil Pharmazie

04/2022

Österreichische Post AG, MZ16Z040661M, 32. Jahrgang, RMA Gesundheit GmbH, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien

SINN HEILT

Arbeiten im Gesundheitsbereich in Zeiten der Pandemie und des Krieges in der Ukraine

Ethische Werte bei Herzinsuffizienz

Von der Diagnose bis zum Lebensende

Anleitung zum Diätwahnsinn

Patient:innen auf dem Weg zur Traumfigur – und wieder zurück XXX

Praxiswissen: Frühmobilisierung

Ein multiprofessionelles Konzept bei Hüft- und Knietotalendoprothese



© RegionalMedien Gesundheit

Hausärzt:in extra

Editorial Reformstau Zumindest bis zum „Tag der Gesundheitsberufe“ am 12. Mai soll die Bürgerinitiative der Offensive Gesundheit – „Achtung Gesundheit – es ist 5 nach 12!“ laufen. Für dieses Datum sind österreichweit wieder großflächige Demonstrationen und Proteste geplant, um Druck auf die Politik auszuüben. Die Unterstützung seitens der Vertreterinnen und Vertreter der Gesundheitsberufe ist groß, ist doch die derzeitige Coronasituation für alle belastend und der damit einhergehende Arbeitsdruck enorm. Die gemeinsamen Forderungen kennen wir nur zu gut: bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen, mehr Personal und dafür mehr finanzielle Ressourcen. Noch scheint dem neuen Gesundheitsminister, Johannes Rauch, nicht viel „Luft“ für andere Agenden als jene des Pandemiemanagements zu bleiben. Zumindest hat er sich in den Tagesmedien bereits zu einer Aufwertung der Pflege – auch einer finanziellen – bekannt. Den ersten Teil der Pflegereform wolle er noch heuer umsetzen. Mal schauen, ob es gelingt.

Die neue Wiener „Reformkoalition“

aus Sicht der „Logotherapie und Existenzanalyse“ gegensteuern lässt. Deren Begründer, Prof. Viktor E. Frankl, war ja ein Leben lang bemüht, das Grenzgebiet von Psychotherapie und Philosophie aufzuhellen, unter besonderer Berücksichtigung der Sinn- und Wertproblematik. Dieses Leitmotiv kommt auch im Interview zum Tragen, bei dem selbstverständlich der elende Krieg in der Ukraine nicht ausgespart werden konnte. Eine heilsame Lektüre, Ihre

Mag.a Karin Martin Redaktionsleiterin RegionalMedien Gesundheit karin.martin@regionalmedien.at PS: Die Offensive Gesundheit ist ein Verbund von Arbeiter- und Ärztekammer sowie den Gesundheitsgewerkschaften: offensivegesundheit.at

Auch die Ärztekammer – derzeit noch im Wahlkampfmodus – wird nicht müde, den Reformstau im Gesundheitsbereich lautstark zu beklagen. In Wien wird mit hoher Wahrscheinlichkeit der bisherige Vizepräsident, MR Dr. Johannes Steinhart, in einer Koalition mit diversen Listen zum Kammerchef aufsteigen. Die Wahl des Präsidiums findet am 3. Mai statt. Inhaltlich will die bereits geschmiedete „Reformkoalition“, wie sie sich selbst nennt, eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Spitals- und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten erreichen und den Beruf für junge Menschen attraktivieren. Doch auch kammerintern sieht man Handlungsbedarf: Die Entscheidungen und Abläufe sollen transparenter und die Kammer schlanker werden. Darüber hinaus setzt sich das neue Team zum Ziel, der Integrativen Medizin (wieder) offener zu begegnen, nicht zuletzt, um die Herausforderungen der Pandemie besser bewältigen zu können.

Dritte Wiener Schule der Psychotherapie Wie man sich trotz schwieriger Arbeitsbedingungen in Zeiten der Corona- und anderer Krisen den Sinn in und die Freude an seinem Job bewahrt, ist Thema unserer aktuellen Coverstory. Der renommierte Wiener Psychotherapeut und Autor Prof. Dr. Thomas Köhler erklärt im Gespräch mit der Hausärzt:in, auf welche Art sich negativen Entwicklungen und Denkmustern

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Hausärzt:in Inhaltsverzeichnis

medizinisch

06 Mit ganzem Herzen bei der Sache Der Innsbrucker Kardiologie Kongress legt viel Wert auf den Praxisbezug – 2022 stand zusätzlich die Digitalisierung im Fokus

08 Ethische Werte bei Herzinsuffizienz Jede Phase erfordert andere Maßnahmen, der enge Patient:innenkontakt bleibt zentral

12 Ein Balanceakt Geplante Operation bei oraler Antikoagulation – wann und wie pausieren?

16 Myokarditis nach mRNASARS-CoV-2-Impfung Die Pathogenese ist derzeit noch unklar und wird intensiv erforscht

28 Von den alten Kelten bis zur modernen Onkologie Die Misteltherapie gilt heute als sichere und wissenschaftlich überprüfte komplementäre Behandlung

30 DFP Praxiswissen: Frühmobilisierung Rapid RecoveryTM – ein Konzept für rasche Rehabilitation nach Hüft- und Knietotalendoprothese

34 Der lumbale Bandscheibenvorfall Die Konkordanz der Bildgebung mit den klinischen Beschwerden ist wesentlich

36 Knochenschutz bei kranker Lunge Pneumologische Erkrankungen stellen einen klinischen Risikofaktor für Fragilitätsfrakturen dar

38 Vorbeugung ist die beste Therapie Möglichkeiten der Migräneprophylaxe ausschöpfen

40 Immer besser (individuell) behandelbar

politisch

18 COVERSTORY Sinn heilt

pharmazeutisch

42 Vielfältige Coronaprophylaxe

Arbeiten im Gesundheitsbereich in Zeiten der Pandemie und des Krieges in der Ukraine

24 Dramatische Ereignisse

Neue Türen öffnen sich bei Impfstoffen und Medikamenten

45 Herausforderung Polypharmazie

Traumatisierungen erkennen und wirkungsvoll intervenieren

26 „Mehr Offenheit für die Integrative Medizin“ Dr. Thomas Peinbauer, Univ.-Lektor für Komplementärmedizin in der Allgemeinpraxis, über Vorurteile und Chancen

extra

60 Anleitung zum Diätwahnsinn Zahlreiche Patient:innen auf dem Weg zur Traumfigur – und wieder zurück

Ein Medikament kommt selten allein

49 Allergien haben immer Saison Ausbildungsmöglichkeiten, verpasste Behandlungsoptionen und Angst vor Impfreaktionen

50 Ragweed: Nicht nur ein Allergen-Problem Eine zunehmende und kostspielige Belastung

57 Wenn die CerumenBarriere durchlässig wird Badeotitis vorbeugen und behandeln

58 Hilfe für gereizte Harnwege ...

Zystische Fibrose: Von der symptomatischen hin zur kausalen Therapie

... unter Berücksichtigung von Resistenzsituation und Patient:innenwünschen

IMPRESSUM Herausgeber: RMA Gesundheit GmbH, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien. Medieninhaber: RMA Gesundheit GmbH, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien, Tel. 01/74321708114, office@gesund.at. Geschäftsführung: Mag.a Birgit Frassl, Marlis Rumler. Redaktionsleitung: Mag.a Karin Martin. Redaktion: Mag.a Karin Martin, Anna Schuster, BSc, Mag.a Ines Riegler, BA, Margit Koudelka, Carola Bachbauer, BA. Lektorat: Mag.a Katharina Maier. Produktion & Grafik: Helena Valasaki, BA. Cover-Foto: unsplash.com/John Towner. Verkaufsleitung: Mag.a Birgit Frassl, birgit.frassl@regionalmedien.at. Kundenbetreuung: Mag.a Dagmar Halper, dagmar.halper@regionalmedien.at. Druckerei: Bösmüller Print Management GesmbH &­Co. KG. Verlags- und Herstellungsort: Wien. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Verlages wieder, sondern fallen in den Verantwortungsbereich der Autor:innen. Der Inhalt von entgeltlichen Einschaltungen und Beilagen sowie die Angaben über Dosierungen und Applikationsformen liegen außerhalb der Verantwortung der Redaktion oder des Verlages und sind vom/von der jeweiligen Anwender:in im Einzelfall auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt, verwertet oder verbreitet werden. Mit „Bezahlte Anzeige“ gekennzeichnete Beiträge/Seiten sind gemäß §26 Mediengesetz bezahlte Auftragswerke. Grundlegende Richtung: Unabhängige österreichische Fachzeitschrift für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte. Die HAUSÄRZT:IN – Praxis-Magazin für Primärversorgung – ist ein interdisziplinäres Informations- und Fortbildungsmedium. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichten wir in den Artikeln teils auf die gendergerechte Schreibweise. Sofern nicht anders vermerkt, gelten alle Bezeichnungen für sämtliche Geschlechter. Offenlegung: gesund.at/impressum

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FFP2MASKENPFLICHT Hausärzt:in medizinisch

Haus Ärzt:in

DIALOGTAG

PräsenzFortbildung Sa., 21. Mai 2022

PCR TEST NICHT ÄLTER ALS 48H

IN WIEN

Von Jung bis Alt: Generationsübergreifende Medizin

Niedergelassene Mediziner:innen im Dialog mit Kliniker:innen – Vorträge und Diskussion

Themen: Echt künstlich - State of the art Endoprothetik 2022 Erhaltungswürdig - Die Versorgung der Schulter bei älteren Menschen Auf Hochtouren - Wie sich der Stoffwechsel im Laufe des Lebens verändert Im Zunehmen - Chronisch entzündliche Darmerkrankungen bei Kindern Bunt zusammengemischt - Polypharmazie bei geriatrischen Patient:innen erfolgreich bewältigen

Programm und Anmeldung: meinmed.at/dialogtag-wien 7 DFP-Punkte Teilnahmegebühr: WIGAM-Mitglieder/Mitarbeiter:innen Vinzenz Gruppe 60€ Nichtmitglieder 80€ JAMÖ-Mitglieder/Student:innen kostenlos Rückfragen an info@meinmed.at Veranstalter:

Änderungen vorbehalten.

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Mit ganzem Herzen bei der Sache

Der Innsbrucker Kardiologie Kongress* legt viel Wert auf den Praxisbezug – 2022 stand zusätzlich die Digitalisierung im Fokus

© shutterstock.com/PopTika

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Anfang März verfolgten rund 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Vorträge zum Thema Herzgesundheit per Livestream aus dem Innsbrucker Congress. Pandemiebedingt wählte man heuer wieder eine virtuelle Veranstaltung – zudem hat die Digitalisierung thematisch Einzug gehalten: Namhafte Expertinnen und Experten stellten neue Erkenntnisse in puncto „digitaler Medizin“ und in den Bereichen Herzinsuffizienz, koronare Herzerkrankung, Herzklappenerkrankungen, Rhythmologie und Angiologie vor – stets mit konkretem Bezug zur klinischen Praxis.

Den wachsenden Herausforderungen begegnen In ihrem Eröffnungsvortrag sprach die Tiroler Gesundheitslandesrätin Mag.a Annette Leja die bereits bestehenden sowie die zukünftigen Herausforderungen für das Gesundheitssystem an. Bei einem stetig steigenden Pflegekräftemangel gelte es, die klinische Infrastruktur weiter aufrechtzuerhalten, zu verbessern und die Forschung voranzutreiben. Ein Hoffnungsträger könnte – zumindest in der Kardiologie – die fortschreitende Digitalisierung sein. Univ.-Prof. Dr. Axel Bauer, Direktor

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der Innsbrucker Universitätsklinik Innere Medizin III und Mitglied des Organisationskomitees, präsentierte beispielsweise die Ergebnisse der von ihm geleiteten SMART-MI-Studie1, die erst kürzlich im Fachjournal Lancet Digital Health veröffentlicht wurde. Mit dieser konnte nachgewiesen werden, dass ein implantierbarer Herzmonitor der herkömmlichen Nachsorge deutlich überlegen ist, indem er schwerwiegende Komplikationen nach einem Herzinfarkt anzeigt. Mit dem fingernagelgroßen Chip (SMART-MI) können elektrische Informationen des Herzens kontinuierlich über mehrere Jahre aufgezeichnet, gefährliche Rhythmusstörungen erkannt und einem Zentrum telemetrisch übermittelt werden. Nun möchte man die Risikomodelle mit modernen Verfahren wie der künstlichen Intelligenz optimieren. Damit kann in weiteren Studien untersucht werden, ob sich durch diese telemedizinische Strategie langfristig eine Verbesserung der Prognose der Patienten ergibt. Die Vorteile der Digitalisierung bestehen Prof. Bauer zufolge vor allem darin, mit komplexen computerbasierten Technologien intelligente Entscheidungen zu treffen: „Damit können wir schwere Verläufe verhindern, indem wir präventiv gezielte Maßnahmen einleiten.“

Ein Blick in die Zukunft Darüber hinaus widmete sich der Kongress der optimalen Herzinfarktversorgung. Von Bedeutung ist diese vor allem in Hinblick auf die steigende Anzahl von Patienten, die aufgrund eines Infarktes behandelt werden müssen: „Je älter die Menschen werden, desto mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten auf. Zudem können wir heutzutage auch hochbetagte Patientinnen und Patienten schonend und minimalinvasiv mit einem exzellenten Nutzen-Risiko-Verhältnis behandeln“, schilderte Priv.-Doz. Dr. Christoph Brenner, stv. Klinikdirektor und Mitorganisator des Kongresses. Ebenso kommen mittlerweile in der jüngeren Bevölkerung Herzinfarkte gehäuft vor. In puncto Versorgung der Zukunft ist insbesondere der medizinische Nachwuchs gefragt. Auf dem Kongress berichteten daher außerdem die „Cardiologists of Tomorrow“ über ihren noch jungen Klinikalltag. PA/InR * Von 3. bis 5. März 2022 fand der 24. Innsbrucker Kardiologie Kongress in virtueller Form – mittels LiveÜbertragung aus dem Innsbrucker Congress – statt. 1 Bauer A. et al, Lancet Digital Health, Feb. 2022, doi.org/10.1016/S2589-7500(21)00253-3


Hausärzt:in medizinisch

„Großes Potenzial sehe ich in der Telemedizin“

© MUI/Florian Lechner

diese Entwicklungen zu substanziellen Veränderungen im Tätigkeitsspektrum der Ärzte führen. Auch können neue Berufe entstehen.

Univ.-Prof. Dr. Axel Bauer, Direktor der Innsbrucker Universitätsklinik Innere Medizin III – Kardiologie und Angiologie, im Gespräch.

HAUSÄRZT:IN: Vergangenes Jahr wurde der thematische Fokus insbesondere auch auf COVID-19 gelegt. Diesmal lag ein Hauptaugenmerk auf dem konkreten Bezug zur klinischen Praxis. Welche Überlegungen standen hinter der Themenauswahl für den 24. Kardiologie Kongress? Prof. BAUER: Der konkrete Bezug zur klinischen Praxis ist seit 24 Jahren ein Grundprinzip des Kardiologie Kongress Innsbruck. Es geht darum, wie die Vielzahl wissenschaftlicher Studien in die Praxis übersetzt werden können. Die Grundlage für die Themenauswahl bilden die vielen Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, die bei der Behandlung gemeinsamer Patientinnen und Patienten entstehen. Einen neuen Schwerpunkt stellte die digitale Medizin dar. In welchen Bereichen sollten sich Angehörige von Gesundheitsberufen auf große Veränderungen einstellen? Was die digitale Medizin betrifft, so sehe ich großes Potential in der Telemedizin. Ziel muss es sein, dass Patientinnen und Patienten zukünftig nur noch ins Krankenhaus kommen, wenn sie dies wirklich müssen. Hier besteht mitunter die große Herausforderung, die entscheidende Information aus den komplexen Daten zu extrahieren. Ein weiteres spannendes Feld ist die Bildanalyse mittels künstlicher Intelligenz. Perspektivisch können

Auf welche neuen Therapieoptionen und Änderungen in Guidelines ist hinsichtlich der Herzgesundheit zu achten? Die neuen Leitlinien zur Herzinsuffizienz haben beispielsweise zu neuen Empfehlungen für die medikamentöse Therapie geführt. Zudem stellen die SGLT-2-Hemmer erstmals eine Substanzklasse dar, für welche positive Effekte bei Herzinsuffizienz mit erhaltener LV-Funktion gezeigt werden konnten. Diese Daten sind allerdings so neu, dass sie noch nicht in den Leitlinien Berücksichtigung finden konnten. Auch Kontroversen in der Behandlung wurden thematisiert. Wo ist der Diskussionsbedarf besonders groß? Viele positive Entwicklungen in der Medizin haben ihren Ursprung in Kontroversen. Diese entstehen oft im Spannungsfeld verschiedener Disziplinen, wenn es etwa darum geht, bei welchen Patientinnen und Patienten eine defekte Herzklappe mittels offener Herzoperation oder katheterbasierter Technologien behandelt werden soll. Ähnliches gilt für die Frage der optimalen Revaskularisationsstrategie bei koronarer Herzerkrankung. Und was hat es mit der krankmachenden Kränkung auf sich, der beim Kongress ebenfalls ein Vortrag gewidmet war? Das kann der bekannte Psychiater und Buchautor Prof. Dr. Reinhard Haller, den wir in diesem Jahr als Keynote-Speaker gewinnen konnten, sicher am besten beantworten. Zwischen Psyche und Körper besteht eine enge Verbindung, die manchmal vielleicht zu wenig Berücksichtigung findet. In der Kardiologie sehen wir einige Erkrankungen, die durch seelische Probleme nachweislich verschlimmert oder gar ausgelöst werden. Das Interview führte Mag.a Ines Riegler, BA.

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Ethische Werte bei Herzinsuffizienz

Von der Diagnose bis zum Lebensende: Jede Phase der Erkrankung erfordert andere Maßnahmen, der enge Kontakt mit den Patient:innen bleibt zentral

© shutterstock.com/BlurryMe

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Aufgrund der verbesserten medizinischen Versorgung und der Veränderung der Alterspyramide mit Zunahme älterer Menschen steigt die Häufigkeit chronischer Erkrankungen kontinuierlich, so auch jene der Herzinsuffizienz. Typisch für sie ist neben der schlechten Prognose auch das geringe Verständnis der Erkrankung seitens der Patientinnen und Patienten. Nach wie vor werden die Schwere einer Herzinsuffizienz und die Konsequenzen der Diagnose nicht erkannt.

Frühzeitig aufklären Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz durchlaufen in der Regel mehrere Stadien der Erkrankung. An die erste – symptomatische – Episode, die in der Regel auch zur Diagnose führt, schließt eine oft mehrere Jahre dauernde, stabile Phase an. Gerade zu diesem Zeitpunkt ist eine adäquate Therapie zwingend notwendig, um jene stabile Phase möglichst lange zu erhalten. Dafür ist es essenziell, bereits in diesem Abschnitt der Erkrankung die Patienten „an Bord“ zu holen. Es kann für Betroffene mitunter schwierig sein, zu verstehen, warum sie bei nur geringem oder gar fehlendem Krankheitsgefühl ihre Medikation nehmen sol-

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len und warum sie z. B. einen ICD (einen implantierbaren Kardioverter-Defibrillator) bekommen sollen. Auf die stabile Phase folgt das Stadium der fortgeschrittenen Herzinsuffizienz. Es dauert mehr oder minder lange und ist durch rezidivierende Dekompensationen gekennzeichnet. Nach der Rekompensation wird der Ausgangszustand nicht mehr erreicht, sodass es letztendlich zu einer progredienten Verschlechterung kommt. Die zunehmende neurohumorale Aktivierung sowie eine fortschreitende kardiale Fibrose mit Dilatation der Herzhöhlen sind mit einer Verschlechterung der kardialen Funktion verbunden. Als Folge zeigt sich eine zunehmende klinische Verschlechterung: Die Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität nehmen ab, beides wird durch die Entwicklung einer Mangelernährung mit kardialer Kachexie und Frailty weiter aggraviert.

Shared Decision-Making Mit der weiteren Progredienz der Herzinsuffizienz sollte die Therapie dennoch so lange wie möglich optimiert bzw. aufrechterhalten werden. Die Patientinnen und Patienten sollten auch darauf hingewiesen werden, dass z. B. ein zahlenmäßig

erniedrigter Blutdruck ohne begleitende Symptome kein Grund sein darf, eine prognoseverbessernde Therapie zu reduzieren oder gar zu stoppen (beispielsweise ist ein Blutdruck von 95 mmHg ohne Symptome kein Grund zur Besorgnis). Um Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz optimal zu versorgen, ist es essenziell, Therapieziele zu definieren. Dafür müssen die Betroffenen ihre Erkrankung verstehen, die einzelnen Therapieoptionen kennen und wissen, warum (bei entsprechenden Begleiterkrankungen) bestimmte Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr angeboten werden können. Zu diesem Zweck ist ein enger Patientenkontakt notwendig, der im Sinne eines Shared Decision-Making über einen reinen Informed Consent hinausgeht. Nur so ist es möglich, bei einer weiteren Progredienz die Therapie an ihre Wünsche und Bedürfnisse anzupassen, nicht mehr nötige Behandlungen und Übertherapien zu vermeiden und eine optimale Symptomkontrolle sicherzustellen. Das Shared Decision-Making ist sowohl für das kardiologische Team als auch für die Hausärztinnen und -ärzte eine Herausforderung. Je besser die Zusammenarbeit der beiden versorgenden Berufsgruppen, desto besser sind die Patienten eingebettet. Vor der Implantation von partiell oder komplett organersetzenden Devices wie z. B. einem LVAD (Left Ventricular Assist-Device) ist es sehr wichtig, offen mit den Patienten über das „Lebensende“ zu sprechen. Dabei genügt es nicht, sich auf das Thema kardiopulmonale Wiederbelebung zu beschränken. Eine klare Kommunikation der Vor- und Nachteile des LVAD hilft dem Patienten zu verstehen, dass am Lebensende manchmal auch die Entscheidung für die Beendigung einer mechanischen Kreislaufunterstützung sinnvoll sein kann. Vor einer LVAD-Implantation müssen zudem alternative, eventuell weniger belastende, Therapiemöglichkeiten besprochen werden – insbesondere da eine „Destination“-


Hausärzt:in medizinisch

Im Stadium der terminalen Herzinsuffizienz muss die neurohumorale Therapie im Falle von relevanten Nebenwirkungen – von symptomatischer Hypotonie, Verschlechterung der Nierenfunktion, reduziertem kardialem Output oder Bradykardie – dosisreduziert oder beendet werden. Damit dies nicht verfrüht passiert, sollte in der Praxis eine genaue Korrelation von Vitalparametern (Blutdruck, Puls, Gewicht) mit klinischen Symptomen erfolgen. Die Patientinnen und Patienten sollten daher angehalten werden, regelmäßig, also täglich, ihre Vitalparameter zu dokumentieren. Therapien, deren Wirkung sich erst über einen längeren Zeitraum entfalten, typischerweise eine Statintherapie, eine Osteoporosetherapie etc., sollten bei eindeutig eingeschränkter Lebensdauer beendet werden.

Prinzipien ärztlichen Handelns in der Medizinethik Ethische Überlegungen orientieren sich an den vier Prinzipien ethischen Han-

AUTOR:INNEN-TEAM:

© Foto Furgler

Terminales Stadium erfordert Therapieanpassung

Am Beginn der Terminalphase, welche sich über Tage bis Wochen erstreckt, muss das weitere Prozedere bereits mit den Patienten besprochen sein. Ist es bis dahin nicht gelungen, die Awareness der Betroffenen für ihre Erkrankung zu steigern, und wurde keine Werteanalyse durchgeführt, so wird es schwierig, das Lebensende an die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten anzupassen, nicht mehr indizierte lebensverlängernde Therapien – etwa ICD-Entladungen – zu vermeiden und eine adäquate Symptomlinderung zu erzielen. Gerade in dieser Phase ist offensichtlich, dass nicht jede medizinisch machbare Therapie jedem Patienten angeboten werden darf, weil die eingeleitete Therapie nicht nur wirksam, sondern auch für die individuelle Person nutzbringend sein muss.

© Friedrich Fruhwald

Therapie mittels LVAD ein erhaltendes bzw. verlängerndes, aber keinesfalls ein kuratives Therapieziel verfolgt.

Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Sonja Fruhwald Vorsitzende des Ethikkomitees, LKH-Univ.Klinikum Graz, Klin. Abt. f. Herz-, Thorax-, Gefäßchirurg. Anästhesiologie und Intensivmedizin, Med Uni Graz

Univ.-Prof. Dr. Friedrich Fruhwald Klinische Abteilung für Kardiologie, Universitätsklinik für Innere Medizin, Med Uni Graz

delns, welche von den Medizinethikern Tom I. Beauchamp und James F. Childress entwickelt wurden. Der Respekt vor der Autonomie gesteht jeder Person das Recht zu, eigene Ansichten zu haben, eigene Entscheidungen zu fällen und Handlungen zu vollziehen, die den eigenen Wertvorstellungen entsprechen. Diese Handlungen können auch zum Schaden des Patienten sein. >

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Hausärzt:in medizinisch nicht mehr sinnvoll. Mit der Progredienz Das Autonomie-Prinzip beinhaltet nicht der Erkrankung bzw. der Begleiterkrannur die Entscheidungsfreiheit, sondern kungen bedarf es eines erhaltenden Theverpflichtet auch das Behandlerteam, rapieziels oder in einzelnen Situationen die Patientinnen und Patienten bei iheines verzögernden Therapieziels. In dierer Entscheidungsfindung zu unterstütsem Fall ist die laufende bzw. angestrebte zen und sie so in die Lage zu versetzen, Behandlung im Sinne des Patientenwohls eine selbstbestimmte Entscheidung und -willens sehr genau auf ihre Indikazu treffen. Die Autonomie als Schutztion zu überprüfen. Wird eine Therapierecht ist im österreichischen Strafrecht zieländerung bei einem hospitalisierten §110 StGb verankert. Sich darüber Patienten durchgeführt, können verschiehinwegzusetzen ist eine eigenmächdene Maßnahtige Heilbehandmen gesetzt werlung und jurisden, um unvertisch sanktionierhältnismäßige bar – selbst dann, wenn die HandBehandlungslung korrekt, lege entscheidungen hintanzuhalten. artis und erfolgreich durchgeDas DNR („Do not führt wurde, aber resuscitate“) untersagt eine meder Patient für diese Handlung chanische oder keine Zustimmedikamentöse Reanimation. mung erteilt oder Jean-Paul Sartre Alle anderen besie womöglich gonnenen oder abgelehnt hatte. geplanten diagnostischen oder theraDas Prinzip des Nichtschadens fordert, peutischen Maßnahmen sind gerechtden Patientinnen und Patienten keinen fertigt. Schaden zuzufügen („primum nihil noIm Rahmen eines DNE („Do not escere“). Der Nutzen einer Behandlung calate“) werden antizipatorisch bemuss den Schaden deutlich überwiegen. stimmte Maßnahmen ausgeschlossen, Gerade bei sehr eingreifenden Behandda sie für den einzelnen Patienten lungsverfahren der modernen Medizin, nicht nutzbringend wären. Eine DNEz. B. bei einer extrakorporalen MembOrder kann Therapiebegrenzungen, ranoxygenierung (ECMO) oder einem etwa Medikamente betreffend, oder VAD, gerät das Prinzip der Schadensverdas Unterlassen diagnostischer oder meidung in den Vordergrund. therapeutischer Maßnahmen umfasDas Prinzip des Wohltuns verlangt, das sen, z. B.: keine Intubation, keine NieWohl der Patientinnen und Patienten zu renersatztherapie. Wesentlich ist, dass fördern und ihnen zu nützen. Im Sinne mit der DNE-Order auch eine Spezifider Fürsorge für den Patienten bzw. seizierung der begrenzten oder nicht benes Wohlergehens kann es auch geboten gonnenen Maßnahmen erfolgt. sein, eine Therapiezieländerung in RichIm Rahmen eines RID („Reevaluate tung Palliation durchzuführen. indication and deescalate“) muss jede Das Prinzip der Gerechtigkeit blickt Maßnahme in regelmäßigen Abständen über den einzelnen Patienten hinaus in Bezug auf das Weiterbestehen der und fordert eine faire Verteilung von Indikation und des Patientenwillens Gesundheitsleistungen. Das betrifft evaluiert werden. Dabei ist zu beachetwa Therapieoptionen, Intensivbetten ten, dass es medizinisch und juristisch oder finanzielle Mittel. gleichwertig ist, ob eine Behandlung bei fehlender Indikation nicht eingeMaßnahmen zur Vermeidung unverhältnismäßiger Behandlungen leitet (z. B. keine ECMO-Implantation) oder die bereits begonnene Therapie beendet wird (etwa terminales War zu Beginn der Erkrankung ein kuraECMO-Weaning oder Abschalten eitives Therapieziel gefordert, so ist dieses nes LVAD). ab der fortgeschrittenen Herzinsuffizienz

„Wenn man sieht, was die heutige Medizin fertigbringt, fragt man sich unwillkürlich: Wie viele Etagen hat der Tod?“

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Vorgehen in der finalen Sterbephase In der finalen Sterbephase ist eine CTC („Comfort terminal care“) auszusprechen. Das Therapieziel bei CTC ist die Behandlung krankheitsassoziierter Symptome ohne Aussicht auf Heilung. Alle kurativen Behandlungskonzepte sind zu stoppen, eine minimale Flüssigkeitszufuhr ist gerechtfertigt, muss aber so weit reduziert werden, dass die Symptomlast der Patienten nicht weiter zunimmt. Opioide kommen sowohl als Analgetika wie auch zur Therapie der Atemnot zum Einsatz. Die Sorge, dass die symptomorientierte Opioidgabe zu einem frühzeitigen Tod führen könnte, ist unbegründet. Der Einsatz von Opioiden zur Symptomkontrolle ist entsprechend einer Novelle des Ärztegesetzes 2019 (§49a) gedeckt, da für Ärzte eine Beistandspflicht gegenüber Sterbenden eingeführt wurde. So wird im Absatz 2 festgehalten, dass es bei Sterbenden zulässig ist, „im Rahmen palliativmedizinischer Indikationen Maßnahmen zu setzen, deren Nutzen zur Linderung schwerster Schmerzen und Qualen im Verhältnis zum Risiko einer Beschleunigung des Verlusts vitaler Lebensfunktionen überwiegt“ (Ärztegesetz 1998 §49a, Fassung vom 21.3.2019). Bei Patientinnen und Patienten mit ICD sollte dieser am Lebensende zur Vermeidung unnötiger schmerzhafter Schocks deaktiviert werden – idealerweise durch Umprogrammieren, oder im Notfall durch Magnetauflage. Ein antitachykardes Pacing kann, da üblicherweise gut toleriert, auf Wunsch aktiviert bleiben.

Keine einsamen Entscheidungen All diese Maßnahmen zur optimalen Patientenversorgung sind keine einsamen Entscheidungen von Ärztinnen und Ärzten oder des Pflegepersonals, vielmehr müssen sie gemeinsam im Team getroffen und auch adäquat dokumentiert werden. Oberstes Gebot ist und bleibt auch am Lebensende das Wohl der Patientinnen und Patienten. <

Literatur bei den Verfassern.



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Ein Balanceakt

Geplante Operation bei oraler Antikoagulation – wann und wie pausieren?

© shutterstock.com/Juanjo Tugores

S KA eri RD e IO

© Thomas Weiss, privat

„Daten haben gezeigt: Ein routinemäßiges Bridging mit niedermolekularem Heparin führt zu fünfmal mehr Blutungen.“

bricht nahezu jeDie mit Abstand häufigsten Indikationen der Patient wäheiner oralen Antikoagulation sind in Ösrend seines antikoterreich nonvalvuläres Vorhofflimmern agulierten Lebenssowie die Behandlung und Vorbeugung abschnitts einmal venöser Thromboembolien. Bis auf Patidie Therapie aufentinnen und Patienten mit höchst eingegrund eines geschränkter Nierenfunktion, Dialyse-Patiplanten Eingriffs. enten sowie Menschen mit Mitralstenose Die Frage hinoder mit mechanischer Herzklappe in sichtlich des VorMitralklappenposition, für die jeweils gehens in solchen Fällen ist also klinisch Phenprocoumon reserviert ist, erhält die höchstrelevant. überwiegende Mehrheit der Patienten ein NOAK (Nicht-Vitamin-KUnterbrechungsstrategie orales-Antikoagulans). Wähvs. Bridging rend die Entscheidung für den Start einer oralen Antikoagulation bei Vorhofflimmern Verinnerlichen wir uns noch durch die weite Verbreitung einmal das Therapieziel einer und Akzeptanz des CHA2DS2Antikoagulation bei Vorhofflimmern: Es gilt, ischämiVASc-Scores kaum mehr Prosche Schlaganfälle zu verbleme bereitet, stellt die TheAUTOR:: hindern – bei gleichzeitiger rapieunterbrechung aufgrund Univ.-Prof. Dr. Thomas Weiss, PhD, FESC Minimierung des Blutungselektiver Eingriffe immer wieSigmund Freud risikos. Dies ist ein schmaler der eine Herausforderung im Privatuniversität Wien und Karl Landsteiner Grat und stets ein Balanceakt klinischen Alltag dar. Institut für Kardio– einerseits in puncto BluWegen der oft jahrzehntelanmetabolik, St. Pölten, Ordination: 1040 Wien tungskomplikation, anderergen Behandlungsdauer unter-

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seits in Bezug auf ein thrombotisches kardiovaskuläres Ereignis. Daher stellen sich die Fragen: „Soll ich die Therapie unterbrechen?“, „Wann soll ich sie unterbrechen?“ und „Soll ich gegebenenfalls mit einer anderen blutverdünnenden Substanz die Therapieunterbrechung überbrücken?“ Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es einer Reihe von Risikostratifizierungen. Zu erwarten ist, dass man bei einer Unterbrechungsstrategie ohne Überbrückung eher eine thrombotische Komplikation riskiert. Umgekehrt sind bei einer Strategie, in der die Therapiepause eines Antikoagulans mit einer anderen antithrombotischen Substanz überbrückt wird, stets mehr Blutungskomplikationen anzunehmen. Bei Vitamin-K-Antagonisten ist das Vorgehen gut etabliert. Besteht ein mi-


Hausärzt:in medizinisch

TABELLE 1 Risikostratifizierung I: Wie hoch ist das Blutungsrisiko des Eingriffs? Beispiele häufiger Operationen und Beginn der NOAK-Pause (siehe auch Tab. 3) Minimales Blutungsrisiko:

Niedriges Blutungsrisiko:

Hohes Blutungsrisiko:

Pause am Tag des Eingriffs

Pause 24 h–48 h vor Eingriff

Pause 48 h–96 h vor Eingriff

Zahnextraktion (bis 2 Zähne)

Organbiopsien

OPs > 45 Min. Dauer

Gastroskopie

Karpaltunnel-OP

Herz-OP, Neurochirurgie

Katarakt-OP

Hernien-OP

Orthopädische OPs, Uro-OPs

Hautbiopsie

Angio-, Schrittmacher-OP

Abdominalchirurgie

Koloskopie mit PE

Nieren- u. Leberbiopsie Neurochirurgie

nimales Blutungsrisiko des Eingriffs (s. Tabelle 1), ist keine Pause einzulegen. Bei niedrigem und hohem Blutungsrisiko wird Phenoprocoumon fünf Tage vorher abgesetzt, Acenocoumarol drei Tage vorher. Ein Bridging mit niedermolekularem Heparin wird ausschließlich bei sehr hohem thromboembolischem Risiko (s. Tabelle 2) durchgeführt.

Risikostratifizierungen Blutungsrisiko des Eingriffs Die erste Risikostratifizierung, die ich vornehmen muss, lautet: „Wie hoch ist das Blutungsrisiko des Eingriffs?“ Es gibt diesbezüglich sehr gute Übersichtsarbeiten, einen Überblick über häufige Eingriffe gibt Tabelle 1. Hier kann man die NOAK-Therapie je nach Blutungsrisiko pausieren: bei minimalem Blutungsrisiko noch am Eingriffstag, bei niedrigem Blutungsrisiko mind. 24 Stunden vorher und bei hohem Blutungsrisiko mind. 48 Stun-

den vorher. Dies geschieht stets unter Berücksichtigung des jeweiligen blutverdünnenden Mittels, der Co-Medikation und der Nierenfunktion der Patientinnen und Patienten.

Thrombotisches Risiko des Patienten Die zweite Risikostratifizierung richtet sich nach dem thrombotischen Risiko der Patienten. Hier gibt es eine ACCP(„American College of Chest Physicians“)-Risikostratifizierung für das perioperative thromboembolische Risiko. Unterschieden wird zwischen hohem, mittelgradigem und niedrigem Risiko. Die Merkmale der Patientinnen und Patienten sind in Tabelle 2 zusammengefasst.

Pausierungsschemata für NOAK Im dritten Schritt gilt es, diese beiden Risikostratifizierungen zusammenzufassen. Zu berücksichtigen sind das Blutungsrisiko der Operation sowie die Nierenfunktion und damit das Blu- >

TABELLE 2 Risikostratifizierung II: Wie hoch ist das thrombotische Risiko des Patienten? Thromboembolierisiko

Vorhofflimmern

TVT/PE

Hoch

CHA2DS2-Vasc-Score > 4

Rezente TVT/PE

Mittel

CHA2DS2-Vasc-Score 2–3

TVT/PE vor 3–12 Monaten, aktive Krebserkrankung

Niedrig

CHA2DS2-Vasc-Score < 2

TVT/PE vor > 12 Monaten

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Hausärzt:in medizinisch tungsrisiko der Patienten. Tabelle 3 zeigt die jeweiligen Pausierungsschemata für den direkten ThrombinInhibitor Dabigatran sowie die am Markt befindlichen Anti-Xa-Inhibitoren Apixaban, Edoxaban und Rivaroxaban. Ein routinemäßiges Überbrücken einer oralen Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin soll nicht erfolgen. Daten haben sehr eindeutig gezeigt – nämlich sowohl für Phenprocoumon als auch für die NOAK –, dass ein routinemäßiges Bridging mit niedermolekularem Heparin zu fünfmal mehr Blutungen führt, während

kein Vorteil in Bezug auf die Reduktion thrombotischer Ereignisse zu sehen war.

Wiederaufnahme der oralen Antikoagulationstherapie Ebenso wichtig wie die Frage, wann die Blutverdünnung pausiert werden muss, ist jene nach dem Wiederbeginn. Hier ist stets eine individuelle Entscheidung zu treffen, in enger Abstimmung mit Anästhesie, Chirurgie und Innerer Medizin. Eine Wiederaufnahme der oralen Antikoagulationstherapie kann in der

TABELLE 3 Risikostratifizierung III: Berücksichtigung von Risiko I und II, Nierenfunktion und Substanz Wann soll ich das NOAK pausieren? Dabigatran Niedriges OPBlutungsrisiko

Edoxaban, Apixaban, Rivaroxaban Hohes OPBlutungsrisiko

Niedriges OPBlutungsrisiko

Hohes OPBlutungsrisiko

GFR > 80 ml/Min.

> 24 h vorher

> 48 h vorher

> 24 h vorher

> 48 h vorher

GFR 50–79 ml/Min.

> 36 h vorher

> 72 h vorher

> 24 h vorher

> 48 h vorher

GFR 30–49 ml/Min.

> 48 h vorher

> 96 h vorher

> 24 h vorher

> 48 h vorher

GFR 15–29 ml/Min.

Keine Daten

Keine Daten

> 36 h vorher

> 48 h vorher

Kein Bridging mit niedermolekularem Heparin zwischen NOAK und Operation

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Regel bei niedrigem Blutungsrisiko der Operation nach 24 Stunden oder am Folgetag des Eingriffs stattfinden. Ausnahmen stellen sehr ausgedehnte viszeralchirurgische Eingriffe und hochblutungsgefährdete Eingriffe dar, z. B. neurochirurgische Operationen. In diesen Fällen sollte die Wiederaufnahme nach Rücksprache mit dem Operateur eventuell erst 72 Stunden nach dem Eingriff mit der üblichen Dosis begonnen werden. Einen guten Überblick über das Management von Patientinnen und Patienten mit oraler Antikoagulation – prä- und perioperativ – bietet das Positionspapier „Bridging von VKA und NOAK 2019“ der Arbeitsgruppe perioperative Gerinnung der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI)1, das im Internet frei zugänglich ist.

Take-home-Message Eine NOAK-Pause ist rechtzeitig einzuleiten, aber kein routinemäßiges Bridging mit niedermolekularem Heparin bei Patientinnen und Patienten unter NOAK-Therapie.

1 oegari.at/arbeitsgruppen/arge-perioperativegerinnung/915

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Hausärzt:in medizinisch S KA eri RD e IO

Myokarditis nach mRNA-SARS-CoV-2-Impfung

© shutterstock.com/Hakan Nural

Die Pathogenese ist derzeit noch unklar und wird intensiv erforscht

Eine Myokarditis nach mRNA-SARSCoV-2-Impfung ist ein sehr seltenes unerwünschtes Ereignis. Diese Nebenwirkung wird häufiger bei jungen und vor allem männlichen Patienten beobachtet. Bei klinischem Verdacht ist eine sorgfältige Abklärung der Beschwerden mittels einer Labordiagnostik in-

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klusive des Troponins, einer Echokardiographie und gegebenenfalls einer Herz-MRT indiziert. Rezente Studienergebnisse zeigen in der erweiterten Abklärung anhand einer Endomyokardbiopsie bei Patientinnen und Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Ejektionsfraktion neben einer

akuten Myokarditis in vielen Fällen alternative Ursachen, etwa chronische und abgeheilte Myokarditisformen sowie unspezifische Myokardschädigungen.1 Die Wirksamkeit und der Nutzen der mRNA-SARS-CoV-2-Impfstoffe wurden in zahlreichen Studien belegt und die SARS-CoV-2-Impfung stellt die


Hausärzt:in medizinisch

Höheres Risiko durch Infektion als durch Impfung Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) wies erstmals im Juli 2021 auf ein gehäuftes, allerdings sehr seltenes Auftreten von Myokarditis- und Perikarditisfällen nach mRNA-SARS-CoV-2 Impfung hin.2 Diese seltenen unerwünschten Ereignisse kamen vorwiegend bei jüngeren männlichen Patienten vor. In Registerstudien aus Israel und den USA konnte dies bestätigt werden.3,4 Rezentere Studien belegen eine Myokarditisinzidenz von 2,1 pro 100.000 geimpfte Personen und von 10,7 pro 100.000 geimpfte männliche Personen in einem Alter von 16 bis 29 Jahren.5 Die Myokarditis trat häufiger nach der zweiten Impfung auf, sie verlief bei 76 % der Patienten mild und bei 22 % intermediär. Eine fulminante Myokarditis wurde nur bei einer von insgesamt 2,5 Millionen geimpften Personen beschrieben.5 Bei einer COVID-19-Erkrankung bzw. einer Infektion mit SARS-CoV-2 hingegen zeigte sich ein 18-fach erhöhtes Risiko einer Myokarditis im Vergleich zur Normalbevölkerung – nach einer mRNASARS-CoV-2-Impfung ein nur dreifach erhöhtes Risiko.6

Sicherheitsmonitoring und sitiven Troponin-Werten, gestellt. Des Weiteren fanden sich bei diesen PatienReporting fortführen ten pathologische Befunde in der Echokardiographie und bei der Herz-MRTDie Pathogenese von mRNA-SARSUntersuchung. Die linksventrikuläre CoV-2-assozierten Myokarditisfällen ist Ejektionsfraktion lag im Mederzeit noch unklar und wird dian bei 48 %. In der Endointensiv erforscht. Als Ursamyokardbiopsie zeigten sich che wird die Induktion von eine akute lymphozytäre Myoinflammatorischen Zytokinen karditis bei fünf (21 %), eidurch antiidiotypische Antine chronische Myokarditis bei körper diskutiert.7 Wichtig ersechs (25 %), eine abgeheilte scheint, ein SicherheitsmoniMyokarditis bei sechs (25 %), toring und ein standardisiertes eine kardiale Sarkoidose bei Reporting von unerwünschten AUTOR:: einem (4 %) und unspezifische Ereignissen nach SARS-CoV-2OA Dr. Daniel Kiblböck Klinik für Kardiologie Myokardschädigungen unklaImpfung fortzuführen, um und Internistische damit Risikogruppen zu defirer Ätiologie bei sechs (25 %) Intensivmedizin, Kepler Universitätsklinikum, nieren und daraus EmpfehlPatienten. Mithilfe viraler Linz ungen für die weltweite SARSPCR konnte bei sechs PaCoV-2-Impfkampagne abzuleiten. tienten (25 %) ein Virennachweis (humanes Herpesvirus 6, Parvovirus B19, Ebstein-Barr-Virus) im Myokard erFazit bracht werden. Bei 75 % der PatiZusammengefasst ist derzeit bekannt, enten war der Vidass Myokarditisfälle nach mRNArusnachweis neSARS-CoV-2-Impfungen insgesamt sehr gativ. selten vorkommen und überwiegend Diese Ergebnisse jüngere – vorwiegend männliche – Patibedürfen einer enten betreffen. Eine sorgfältige Abkläsorgfältigen Anarung mittels einer Laboruntersuchung lyse und es muss inklusive des Troponins, einer Echokardiskutiert werden, diographie und einer Herz-MRT ist ob der zeitliche für die Diagnose einer mRNA-SARSZusammenhang CoV-2-assoziierten Myokarditis notzwischen dem Auftreten der Myokarwendig. Gegebenenfalls kann bei einer ditis und der zuvor erfolgten mRNAeingeschränkten Linksventrikelfunktion eine erweiterte Diagnostik mit einer SARS-CoV-2-Impfung auch notwendiger Endomyokardbiopsie indiziert sein. Die weise einen kausalen Rückschluss Nutzen-Risiko-Bewertung für mRNAzulässt. Es ist in Betracht zu ziehen, SARS-CoV-2-Impfstoffe belegt eindeudass möglicherweise eine kardiale Vortig ihren positiven Effekt als wichtigsschädigung einen Trigger bei diesen te Präventivmaßnahme zur BekämpfMyokarditisfällen darstellt. ung der COVID-19-Pandemie. <

© Kepler Universitätsklinikum GmbH

wichtigste präventive Maßnahme in der globalen Bewältigung der COVID-19Pandemie dar.

„Lediglich bei einer von insgesamt 2,5 Millionen geimpften Personen wurde eine fulminante Myokarditis beschrieben.“

© shutterstock.com/ya_blue_ko

Kardiale Vorschädigung als möglicher Trigger? Unsere rezent im ESC Heart FailureJournal publizierte Fallserie untersuchte 24 Patienten mit klinisch suszipierter Myokarditis nach mRNA-SARSCoV-2-Impfung (22 männlich, medianes Alter: 30 Jahre).1 Die Diagnose wurde durch myokarditistypische Symptome wie Fieber, Abgeschlagenheit, verbunden mit thorakalen Schmerzen sowie mit erhöhten Entzündungsparametern und seriell erhöhten hochsen-

Referenzen: 1 Kiblboeck D et al., ESC Heart Failure. 2021. doi: 10.1002/ehf2.13791. 2 European Medicine Agency. Comirnaty and Spikevax: possible link to very rare cases of myocarditis and pericarditis. 2021, July 9th: ema.europa.eu/en/news/ corminaty-spikevax-possible-link-very-rare-casesmyocarditis-pericarditis 3 Ministry of Health. Surveillance of myocarditis (inflammation of the heart muscle) cases between December 2020 and May 2021 (including). June 2021: gov.il/en/departments/news/01062021-03 4 Montgomery J et al., JAMA Cardiol. 2021 Oct 1;6(10):1202-1206. 5 Witberg G et al., N Engl J Med. 2021 Dec 2;385(23):2132-9. 6 Barda N et al., N Engl J Med. 2021 Sept 16;385(12):1078-90. 7 Murphy WJ, Longo DL. N Engl J Med. 2022;386:394-6.

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Hausärzt:in politisch

SINN HEILT

Arbeiten im Gesundheitsbereich in Zeiten der Pandemie und des Krieges in der Ukraine

„Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst.“

© unsplash.com/John Towner

Prof. Dr. Viktor Emil Frankl

Voller Elan begibt man sich an seinen Arbeitsplatz, freut sich auf das Zusammentreffen mit Kolleginnen und Kollegen bzw. auf die Tätigkeit – arbeitet man doch mit Menschen, mit Patientinnen und Patienten. Das erscheint sinnvoll und erfüllend, man trägt dazu bei, die Welt ein bisschen „gesünder“ zu machen. Die Realität sieht leider oft anders aus. So zeigt etwa die „Employee Engagement“-Studie von Great Place to Work auf, dass Beschäftigte weltweit und anhaltend einen Mangel an Ver-

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trauen, Sinn und Bindung (gegenüber ihrem Arbeitgeber) erleben.1 In Österreich empfinden nur vier von zehn Arbeitenden ihre Tätigkeit als sinnstiftend. Im Vergleich von 37 Ländern liegt unsere Alpenrepublik damit auf dem letzten Platz. Im Gesundheitswesen stellt sich die Situation zwar etwas besser dar: Einer deutschen Umfrage zufolge erachten mehr als zwei Drittel der in diesem Bereich Beschäftigten ihre Tätigkeit grundsätzlich als sinnstiftend für die Gesellschaft.2 Jedoch ist in keiner ande-

ren Gruppe die Einstellung zur eigenen Arbeit so negativ wie unter Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften. Zeitmangel stellt die häufigste Ursache dar. Jeder Vierte gibt als Grund für den Verlust der Freude an der Arbeit die Erfahrungen während der Corona-Pandemie an. Im Interview mit der Hausärzt:in erklärt der renommierte Wiener Psychotherapeut, Prof. Dr. Thomas Köhler, wie sich dieser negativen Entwicklung aus Sicht der „Logotherapie und Existenzanalyse“ nach Prof. Viktor E. Frankl gegensteuern lässt.


HAUSÄRZT:IN: Welche Rolle spielt ein „Leben mit Sinn“ für Ärzt:innen und Vertreter:innen anderer Gesundheitsberufe? Prof. KÖHLER: In der Dritten Wiener Schule der Psychotherapie nach dem Psychiater und Neurologen Prof. Dr. mult. Viktor Frankl – der Existenzanalyse und Logotherapie – ist prinzipiell zwischen „Sinn“ (Logos) und „Zweck“ (Telos) ebenso zu unterscheiden wie zwischen „Freude“ und „Spaß“. Während Freude mit Sinn zusammenhängt, tut das Spaß mit Zweck. Letzteres wirkt kurzfristig und oberflächlich, Ersteres langfristig und nachhaltig. Eine „Kultur“, die sich nur auf Spaß und Zweck ausrichtet, wie sie heute vorherrscht – vgl. die gängige Like- bzw. DislikeUnkultur per Internet –, befriedigt Menschen nicht zureichend, sondern hinterlässt eine Leere. Statt sie, etwa mit Aspekten der Empathie, zu füllen und tendenziell umzukehren, werden Affekte wie Zorn oder Neid tragend. Eine Spirale des Schlechten dreht sich so immer weiter nach unten – egal in welchem Beruf wir wirken bzw. welcher Berufung wir folgen.

Was bedeutet das konkret für die Wahrnehmung im Arbeitsalltag? Für eine solche neue Aufstellung sollen und müssen wir unsere Einstellung zum Leben – zu unserer Existenz – en detail sowie en gros modifizieren. Für Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind, heißt das zum Beispiel, Patientinnen und Patienten nicht nur in ihren „kranken“, sondern auch in ihren „gesunden“ Aspekten ganzheitlich wahrzunehmen; ja dabei

alisten – der genannte Dreischritt ist. Abgewandelt: „Wir müssen und sollen uns von der Pandemie nicht alles gefallen lassen.“ Wenn wir – im Zeichen der oben genannten inneren Freiheit – es wollen, können wir immer wieder Autonomien von äußeren Systemen wie Ordinationen oder Spitälern suchen und finden, worin und woraus sich unsere Balance für den Alltag speist.

Wie wichtig ist in diesem Kontext auch das „Leben mit Sinn“ im Privatbereich als Ausgleich zum BerufsEXPERTE: Prof. Dr. Thomas leben? Köhler, MSc Zunächst ein Hinweis auf Psychotherapeut in Wien, lebenmitsinn.at ein Wort, das ich für „UnSinn“ halte: „Work-Life-Balance“. Es setzt voraus, dass Arbeit nicht Teil des Lebens wäre und umgekehrt. In Wahrheit setzt sich das Leben aber aus Arbeit und Familie zusammen bzw. aus Öffentlichem und Privatem. Die Grenzen sind fließend, Stichwort „Homeoffice“. Wichtig ist, weniger vom „Kranken“ als Regel auf eine Struktur zu halten. Der Gradmesdas „Gesunde“ als Ausnahme zu ser, ob ich es richtig mache, ist mein schließen – sondern umgekehrt vom personales Empfinden von gutem „Gesunden“ als Regel auf das „Kranke“ und schlechtem Stress – von Eu- und als Ausnahme. Das ist quasi eine Dysstress. „Kopernikanische Wende“. Die AnerWenn Letzterer gegenüber Ersterem kennung und die Wertschätzung, die dominiert, empfehle ich, „Pausen der wir mit einer solchen Haltung übertraBe-sinn-ung“ einzulegen. Sie lenken gen, wirken meistens Wunder. Denn uns von einer für Dysstress typischen die Behandlung beginnt nicht erst bei Fremdbestimmung zurück zu einer für der Anamnese, sondern bereits bei der Eustress typischen Selbstbestimmung Begrüßung durch Ärztinnen und Ärzte. und verhelfen uns zu innerer Ruhe bei Ebenso erhält man das Entgelt nicht äußerem Aufruhr. Fragen wir uns dabei erst bei der Bezahlung, sondern bereits still, was uns – hier und jetzt und nicht durch den Dank seitens der Patientingestern oder morgen – eigentlich wenen und Patienten. All das entgeht unsesentlich ist. Spüren wir dabei unseren rer Wahrnehmung heutzutage leider viel Körper. Er verrät uns, wenn wir es zuzu oft. Wir sollen, ja müssen uns daher lassen, was unsere Seele momentan und schulen, wieder darauf aufmerksam zu unser Geist überhaupt braucht, um gewerden. So erleben wir Sinn und Freude sund zu bleiben oder zu werden. möglichst Tag für Tag.

© Thomas Köhler, privat

Hausärzt:in politisch

„Wir müssen und sollen uns von der Pandemie nicht alles gefallen lassen.“

Was wäre eine Alternative? Eine Kultur, die sich – nicht unbewusst, sondern bewusst – auf das Empfinden von Freude und Sinn ausrichtet, ermöglicht im Gegensatz dazu eine existenzielle Umkehr von einem Erfahren der Schwächen auf eine solche der Stärken der menschlichen Person. Das ist ein Akt des Willens. Viktor Frankl sprach dabei vom Dreischritt, wonach (erstens) einer „Freiheit des Willens“ (zweitens) ein „Wille zum Sinn“ sowie (drittens) „Sinn im bzw. am Leben“ folgt. Das bedeutet, dass wir über eine Aufgabe, die uns das Leben stellt (vgl. „Schicksal“) oder die wir dem Leben stellen (vgl. „Vorsatz“), Schritt für Schritt Sinn zunächst im Leben und sodann Sinn insgesamt am Leben erfahren können, wenn wir das wollen.

Das gilt gerade auch in dieser schwierigen Zeit der Pandemie für die Arbeit in Ordinationen und Spitälern? Justament hier und jetzt. Viktor Frankl hat in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ umfassend beschrieben, wie wichtig gerade in schwierigen Situationen – er selbst überlebte mehrere Konzentrationslager der Nationalsozi-

Wie kann man sich immer wieder „mehr Sinn ins (Berufs-)Leben zurückholen“? Ein System, ob groß oder klein, ist dann krank (machend), wenn es Menschen nur noch als „Kosten-NutzenFaktoren“ betrachtet. Der Mensch wird einem materiellen Zweck untergeordnet. Leider liegt das ebenso im

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Hausärzt:in politisch Trend wie ein Druck zur Konformität, der sich heimtückisch hinter dem Begriff „Teamfähigkeit“ versteckt. Ideellen Sinn erleben wir hingegen durch Empathie: in Bezug auf mich selbst sowie auf meine Kolleginnen und Kollegen. Wenn ich sie in ihrer Leistung prinzipiell nicht beneide, sondern anerkenne, wird das früher oder später positiv auf mich selbst zurückfallen. Welche Rolle kann der Logotherapie und Existenzanalyse dabei zukommen? Neben den genannten psychotherapeutischen Inhalten bieten wir auch Mentalcoaching und Supervision an. Dabei geht es jedenfalls darum, auf die Potenziale der Klientinnen und Klienten zu achten und sie zu Kapazitäten zu machen. Wegkommen sollen, ja müssen wir jedenfalls vom üblichen Fokus auf Defizite. Das engt uns ein und aus Enge wird – etymologisch verwandt – Angst. Wie merkt man bei Patient:innen, dass bei ihren gesundheitlichen/ psychischen Problemen die Sinnfrage beruflich mitspielt? Die Frage ist weniger, wann sie mitspielt, sondern mehr, wann sie nicht mitspielt. Entweder wird die Frage direkt angesprochen, z. B.: „Welchen Sinn hat das?“, oder indirekt, z. B.: „Wozu mache ich das?“. Sigmund Freud, der Gründer der Ersten Wiener Schule der Psychotherapie, meinte pointiert, hinter jedem Problem stecke eine Frage nach Lust. Nach Alfred Adler, dem Gründer der Zweiten Schule, war es eine Frage nach Macht. Für Viktor Frankl ist es natürlich eine Frage nach Sinn. Sie stellt sich mehr denn je, wenn es darum geht, wie wir mit Leid umgehen, apropos Empathie: Wenn wir es richtig machen, wachsen wir dadurch. Welche (psychischen) Krankheiten können mit Sinnverlusten in Verbindung stehen? Der Bogen reicht von jeweils existenziellen Neurosen und Psychosen über Depressionen sowie Angst- und Zwangsstörungen bis hin zu traumatischen Leiden und vielen anderen mehr. Sinn heilt.

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Welche einfachen Ratschläge kann man geben? Folgendes ist grundlegend bedeutend: Besinnen Sie sich darauf, wer und was Ihnen im Leben eigentlich wesentlich ist. Woran erfreuen Sie sich? Worin sind Sie frei und wofür übernehmen Sie Verantwortung? Wem und wofür danken Sie täglich? Wer oder was dankt Ihnen? Wen oder wofür ehren Sie? Wer oder was ehrt Sie? Wie oft lächle ich? Bin ich, jeweils altruistisch und nicht egoistisch, selbst- oder fremdbestimmt? Welchen Rhythmus samt Pausen habe ich? Halte ich Phasen der Stille ein und aus? Wer und was entleert oder erfüllt mich? Auf wen oder worauf verzichte ich besser? Wem oder worauf vertraue ich erstlich und letztlich? Zu wem oder wozu schaue und horche ich auf?

unser Leben dominieren kann und soll. Wir sind prinzipiell anders als der Krieg. Gerade hier und jetzt ist ein „Homo patiens“ (der leidende Mensch) angefragt, nicht auf einen „Homo faber“ (den tätigen Menschen) und einen „Homo amans“ (den liebenden Menschen) zu verzichten. Wir antworten auf die (Un-)Zeichen der Geschichte also nicht mit Lethargie und Resignation, sondern damit, dass wir andere, die aktuell Hilfe brauchen, im Rahmen dessen unterstützen, was uns möglich ist. Indem wir dem Anlass gemäß uns nicht ver-, sondern uns entschließen, ja nicht in uns „hinein-“, sondern über uns „hinauswachsen“, erleben wir Sinn gegen alle Tragik.

Welche Forderungen hätten Sie abschließend an die Politik, die Gesellschaft, …? Ich schlage – mit Zwinkern – eine Änderung der WHO-Definition vor, was krank oder gesund sei. Wenn eine Institution eine völlige Genesung physischer, psychischer und mentaler Störungen für Menschen anstrebt, damit sie als gesund gelten, macht das krank.

1 greatplacetowork.at 2 Im Rahmen der Studie befragte das Institut YouGov in ganz Deutschland 3.716 Erwerbstätige ab 15 Jahren, darunter etwa 300, die im Gesundheitswesen arbeiten. Dtsch Arztebl 2022; 119(9): [4].

Zuallerletzt, weil leider tagesaktuell: Was sagen Sie zum derzeitigen Krieg in der Ukraine? Leider ohne Zwinkern mit Humor, sondern mit traurigem Ernst: Er macht uns alle betroffen, ja, er betrifft uns alle, direkt oder indirekt. Gewalt, umso mehr als Krieg, verfolgt zwar meistens – wie schon früher ausgeführt – einen niederen Zweck, erfüllt aber nie einen höheren Sinn. Krieg, das ist Konfrontation mit dem jähen Tod. Ist das nicht trostlos? Ja, es lässt an einer unserer wichtigsten Ressourcen zweifeln: der Hoffnung. Wir werden auf eine Präsenz reduziert, die tatsächlich mehr und mehr „Gegenwart“ ist, scheinbar ohne Perspektive … Wie können wir damit umgehen? Ich antworte wieder mit Viktor Frankl: „Trotzdem Ja zum Leben sagen.“ Der Blick auf den Krieg ist nicht alles, was

Das Interview führte Mag.a Karin Martin.

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HAUSÄRZT:IN-Buchtipp

Von Thomas Köhler liegen zahlreiche wissenschaftliche Publikationen interdisziplinär vor. Aktuell erscheint in zweiter Auflage sein preisgekröntes Werk: Ana-Logos. Das Phänomen der Psychosen am Beispiel der Schizophrenien im Spiegel der Höhenpsychologie New Academic Press 2022


Sinnvoll beim Reizdarmsyndrom führlichen Anamnese sind dabei Fehlernährung, Nahrungsmittelunverträglichkeiten (Nahrungsmittelintoleranzen) oder aber auch die Einnahme bestimmter Medikamente häufig zu eruieren.

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Das Reizdarmsyndrom hat viele mögliche Ursachen. Die richtige Diagnose ist für eine erfolgreiche Therapie wichtig. Häufig durchlaufen die Patienten viele Untersuchungen ohne am Ende eine ausreichende Erklärung für ihre Beschwerden zu erhalten. Herr Prof. Dr. Dr. Muss, wie häufig begegnet Ihnen das Reizdarmsyndrom? In unsere ernährungsmedizinische und immunologische Schwerpunktpraxis kommen häufig Patienten, nachdem sie sich bereits vielen klinischen Untersuchungen zur Abklärung ihrer Verdauungsbeschwerden unterzogen haben. Diese Patienten leiden unter unregelmäßigen Stuhlveränderungen, haben einen trägen Darm, Bauchschmerzen oder vermehrte Flatulenz, jedoch anscheinend ohne organische Ursachen. Was sind die häufigsten Risikofaktoren? Häufig steht der Reizdarm mit Stress in Verbindung. Die ursächliche Abklärung geht über das Immunsystem und die mikrobiologische Stuhlprobenuntersuchung zum Ausschluss eines Ungleichgewichts der Darmbakterien (Mikrobiom). In der aus-

Welche medikamentösen Therapien bewähren sich in Ihrer Praxis? Die Therapiekonzepte richten sich nach den Ursachen der Beschwerden. In den meisten Fällen muss zunächst die Mikroflora des Darms optimiert werden. Wie in unserem Buch „Was hilft bei Leaky Gut“, erschienen im Südwest Verlag, beschrieben, muss auch primär die Darmschleimhaut als wichtige Voraussetzung dafür behandelt werden. Entzündungslindernde und entgiftende Maßnahmen sind daher eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Darmsanierung. Hierfür kommen bestimmte natürliche Wirkstoffe zum Einsatz. Anschließend erfolgt eine Auswahl von Darmbakterien (Probiotika) nach individuellen Gesichtspunkten, denn leider hilft nicht jedes Probiotikum beim Reizdarm. Bei unserem Therapiekonzept lassen wir uns von wissenschaftlichen Erkenntnissen leiten, die u. a. auch in Kooperation mit der Internationalen Gesellschaft für angewandte Präventionsmedizin (i-gap.org) erforscht werden. U. a. wurden in placebokontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien bestimmte PMA-Zeolithe (z. B. PANACEO MED DARMREPAIR) auf ihre Wirkung bei Darmentzündungen und beim „Leaky Gut Syndrom“ untersucht. Auch konnte in einer Anwendungsbeobachtung hierdurch eine deutliche Reduktion von Diarrhoe, Flatulenz und Bauchschmerzen ermittelt werden.

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Lindert - Reizdarm - Diarrhoe - Flatulenz - Bauchschmerzen - Darmentzündungen

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Medizinprodukt: Bitte die Gebrauchsanweisung beachten

© privat

Was kann helfen? Der Erfolg der Therapie hängt davon ab, inwieweit die individuellen Ursachen erkannt werden und sich in der Folge korrigieren lassen. Manchmal sind dabei einschneidende Verhaltensänderungen sowie Korrekturen in Bezug auf die Ernährungsgewohnheiten notwendig. Hierzu kommen auch häufig weitere medizinische Konzepte zum Einsatz. Nur sehr selten müssen wir allerdings dabei auf Arzneimittel verweisen. Prof. DDr. med. Dr. habil. Claus Muss, Ph.D. ist als Ernährungsmediziner, Präventologe und Immunologe in mehreren Standorten klinisch tätig. Er ist Coautor mehrerer Fachbücher sowie zahlreicher wissenschaftlicher Journale.

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Hausärzt:in politisch

Dramatische Ereignisse

Traumatisierungen erkennen und wirkungsvoll intervenieren mierungen und Ausgrenzungen sind nur einige der vielen möglichen traumatischen Erfahrungen. Auch manche medizinischen Eingriffe oder Untersuchungen wie eine Lumbalpunktion sowie die Diagnose einer schweren Erkrankung haben ein hohes Potential, traumatisierend zu wirken. Das trifft im Besonderen auf Kinder zu; auch auf Situationen, die uns Erwachsenen nicht dramatisch vorkommen, wie eine Blutabnahme, bei der ein Kind festgehalten wird.

Zwischen-Resümee © unsplash.com/Ben White

All diese Erfahrungen und Umstände eint, dass wir sie als bedrohlich erleben, keinen oder wenig Handlungsspielraum haben, überfordert sind und uns ausgeliefert und hilflos fühlen.

Viele Menschen sind in ihrem Leben von dramatischen Erlebnissen betroffen. Bei Weitem nicht alle entwickeln danach Traumafolgesymptome – biologische, psychische und soziale Risiko- wie auch Schutzfaktoren spielen dabei eine Rolle.

COVID-Maßnahmen Die Corona-Pandemie führte bei zahlreichen Menschen zu einer Traumatisierung bzw. zu einer Aktivierung früherer traumatischer Erfahrungen: Lena wurde als Kind von ihren Eltern oft stunden-, mitunter tagelang in ihrem Zimmer eingesperrt; ohne etwas zu essen, zu trinken und ohne die Möglichkeit, aufs WC zu gehen. Die COVID-Maßnahmen reaktivierten bei Lena diese Erfahrungen und führten zu einem massiven Anstieg ihrer Ängste, Panikzustände und ihres Erlebens von Kontrollverlust.

Krieg und Flucht Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine stellt für viele eine weitere Bedrohung und Belastung dar. Er führt nicht nur bei

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den unmittelbar Betroffenen und FlüchTraumatisierungen äußern sich in einer tenden zu Traumatisierungen, sondern Vielfalt psychischer wie auch körperliaktiviert auch oft bei Mencher Symptome und Syndroschen außerhalb der Ukraine, me, die wir als normale Folgen etwa bei jenen, die den Zweieines nichtalltäglichen Geten Weltkrieg oder den Krieg schehens verstehen können. in Bosnien miterlebt haben, Die Posttraumatische Belasihre traumatischen Erfahruntungsstörung ist dabei nur gen. eine Folgesymptomatik, die Josef hat als Kind zahlreiche bei Weitem nicht alle traumaBombenangriffe erlebt. Durch tisierten Menschen aufweiAUTORIN: die Geschehnisse in der Ukraisen. Häufig zeigen sich AngstMag.a Dr.in Regina Lackner ne leidet er nun an Flashbacks, störungen, Depressionen und Klinische und Gesundinnerer Unruhe und AngstzuSymptome wie Panikattacken, heitspsychologin, Psychotherapeutin, ständen. Dissoziationen und FlashSchwerpunkt backs. Zudem leiden viele Traumatherapie, Wien Betroffene unter starker Un„Stillere“ Umstände ruhe, Reizbarkeit, Schlafstörungen und einer verminderten KonzentrationsKrieg, Flucht und lebensbedrohliche und Merkfähigkeit. Magen-DarmErkrankungen sind jedoch nicht die Beschwerden, chronische Schmerzzueinzigen traumatisierenden Ereignisse. stände sowie ein erhöhtes Risiko, an Zu ihnen gehören neben Naturkatahohem Blutdruck, einer Koronaren strophen, körperlicher und sexueller Herzkrankheit, HerzrhythmusstörunGewalt oft weniger offensichtlich dragen oder Diabetes mellitus zu erkranmatische, „stillere“, Erlebnisse oder ken, zählen zu den möglichen körperUmstände: der frühe Verlust eines Ellichen Folgen (u. a. Fuller-Thomson ternteils, ein Skiunfall, die Pflege von et al., 2012; Howard et al., 2018). Angehörigen oder wiederholte Diffa-

© Regina Lackner, privat

Die vielfältigen Folgen


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Sicherheit – die wichtigste Intervention

Weitere, kurz wirksame Interventionen

Traumatische Erfahrungen bedeuten immer einen Kontrollverlust, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Deshalb ist es für traumatisierte Menschen so wichtig, Kontrollierbarkeit und Vorhersehbarkeit zu erleben. Diese geben ihnen Sicherheit. Indem wir unsere Patientinnen und Patienten über notwendige Schritte transparent und verständlich aufklären, sie in Entscheidungen einbinden, ihre Selbstbestimmung achten und ihnen freundlich und auf Augenhöhe begegnen, tragen wir dazu bei, dass sie sich sicher fühlen. Dadurch ist es ihnen auch möglich, offen für das zu sein, was wir ihnen mitteilen. Zudem können unsere Patientinnen und Patienten damit eine positive korrigierende Erfahrung machen, die zu ihrer psychischen Stabilität beiträgt. Dabei sind die Würdigung und die Anerkennung des von ihnen Erlebten wichtige Elemente.

Mit einigen kurzen Interventionen können wir unsere traumatisierten Patientinnen und Patienten dabei unterstützen, wieder Kontrolle über sich und ihr Leben zu erlangen, und damit mildernd auf ihre Traumatisierung einwirken: • Wir können sie anregen, auf ihre Ressourcen und all das zu achten, was ihnen Sicherheit gibt, guttut und z. B. Freude bereitet, und dies im Alltag vermehrt zu berücksichtigen. • Jegliche Form von Bewegung trägt dazu bei, das erhöhte Erregungsniveau sowie Ängste und Depressionen zu reduzieren. • Kleine Tools, beispielsweise doppelt so lange aus- wie einzuatmen (beim Einatmen z. B. bis zwei und beim Ausatmen bis vier zählen), Wipp- und Schaukelbewegungen oder Summen, Tönen von Vokalen oder Pfeifen wirken direkt auf unseren Parasympathikus und damit beruhigend und angstmindernd (u. a. Porges, 2018). • Imaginationen in Verbindung mit dem Atem, z. B. die Vorstellung eines Getreidefeldes, durch das beim Einatmen der Wind in eine Richtung und beim Ausatmen in die andere streicht, reduzieren ebenfalls Unruhe und Ängste. • Indem wir betonen, dass sie trotz ihres dramatischen Erlebens ihr Leben meistern, unterstützen wir unsere Patientinnen und Patienten dabei, ihre Stärke und ihre gesunden Anteile zu erkennen.

Trauma – was tun? Traumatisierungen erkennen und wirksam intervenieren. Ein Praxisseminar für Ärztinnen und Ärzte. Freitag, 20. Mai 2022: 14.00 bis 21.00 Uhr 1020 Wien, Otto Wagner Schützenhaus Infos & Anmeldung: traumapraxis.at

Quellen: Fuller-Thomson E et al. (2010), The association between childhood physical abuse and heart disease in adulthood: findings from a representative community sample. Child Abuse Negl 34 (9): 689-698. Howard J T et al. (2018), Associations of Initial Injury Severity and Posttraumatic Stress Disorder Diagnoses With Long-Term Hypertension Risk After Combat Injury, Hypertension, 71, 824- 832. Porges S W (2018), Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau/Westfalen: G. P. Probst.

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HAUSÄRZT:IN-Buchtipp

Stabilisierung in der Traumabehandlung Ein ganzheitliches methodenübergreifendes Praxisbuch Von Regina Lackner Springer Verlag 2021

Wollen Sie mehr über Gentherapien erfahren? Herr DDr. Reinisch und Frau Prof. Pabinger beleuchten in diesem eLearningVideo auf verständliche Art und Weise das Thema Gentherapien aus verschiedenen Richtungen. Der Zugang ist ganz einfach über den QR-Code oder den unten angeführten Link.*

https://www.vielgesundheit.at/fortbildungen/dfp/ grundlagen-gentherapie *Der Link zur Website www.vielgesundheit.at ist als Service für unsere Kunden gedacht. Pfizer ist für den Inhalt dieser Website nicht verantwortlich. Das eLerarning Grundlagen der Gentherapie wurde in Zusammenarbeit mit Pfizer erstellt.

Pfizer Corporation Austria GmbH Wien www.pfizer.at, www.pfizermed.at

mit 2 DF Pun Pkten

PP-FID-AUT-0004/04.2021

SEMINARANKÜNDIGUNG

Dies können wir auch durch die Frage bewirken, was es ihnen ermöglicht hat, das Erlebte zu bewältigen. • Schließlich gibt die Information, dass Traumatisierungen mit traumaspezifischen Methoden gut behandelbar sind, unseren Patientinnen und Patienten Zuversicht und Hoffnung. <


Hausärzt:in politisch

„Mehr Offenheit für die Integrative Medizin“

© Thomas Peinbauer, privat

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Dr. Thomas Peinbauer, Univ.-Lektor für Komplementärmedizin in der Allgemeinpraxis an der JKU Linz, über Vorurteile und Chancen

Humanmedizin zu definieren. Beim Komplementärmedizinische Methoden Inhalt konzentriere ich mich auf die werden öffentlich und in Medizinkreisen zwölf Ansätze, die von der kontrovers diskutiert. Fakt ist, dass Hausärztinnen und -ärzte Österreichischen Ärztekammer oftmals mit Patientenfragen als komplementärmedizinizu diesem Thema konfronsche ÖAK-Diplome angebotiert werden. Allgemeinmediten werden. Die Aufzählung ist ziner Dr. Thomas Peinbauer nach der Zahl der Diplominist Mitbegründer der PVE haber geordnet: Akupunktur, Hausarztmedizin Plus in HasManuelle Medizin, Homöopalach in Oberösterreich und thie, Neuraltherapie, OrthomoEXPERTE:: Dr. Thomas Peinbauer betreibt auch eine homöopalekulare Medizin, TCM, DiagIntegratives Gesundthische Privatordination in nostik und Therapie nach F. X. heitszentrum Haslach, hausarztmedizinplus.at; Linz. An der Medizinischen Mayr, Begleitende KrebsbeUniv.-Lektor für Fakultät der Johannes-Keplerhandlungen, Phytotherapie, Komplementärmedizin, Universität (JKU) ist er LehrJKU Linz FMD, Kneipp-Medizin und beauftragter für KomplemenAnthroposophische Medizin. tärmedizin in der Allgemeinpraxis. Im Die Lehrinhalte reichen von GrundprinInterview spricht der engagierte Arzt zipien über Arzneimittel, Methoden, Inüber die Rolle von Behandlungen, die dikationen bis hin zu Kontraindikationen nicht auf dem Modell der konventionelund wissenschaftlicher Evidenz. len Medizin beruhen. Welche Rolle spielt die KomplemenHAUSÄRZT:IN: Welche Methoden tärmedizin in der ärztlichen Praxis? und Inhalte bringen Sie den StudierenKomplementärmedizin folgt häufig eiden an der Medizinischen Fakultät der nem salutogenetischen Ansatz. Manche JKU nahe? Therapiemethoden gehören in die Hand Dr. PEINBAUER: Die Studierenvon Ärzten, um die Patientensicherheit den lernen im Rahmen der Vorlesung, zu garantieren. Andere sind geeignet, Begriffe wie „Komplementärmedizin“, bei guter Ausbildung auch von Nichtärz„Traditionelle Medizin“ und „Integrative ten angewendet zu werden. Eine aktuelMedizin“ im Kontext der westlichen le Umfrage der ÄK für OÖ ergab, dass

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20 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in OÖ Komplementärmedizin anwenden, ergänzend zur Schulmedizin. Laut Umfrage kommt am häufigsten die Akupunktur, gefolgt von Manueller Medizin, Phytotherapie, Neuraltherapie und Homöopathie, zum Einsatz. Jeder Arzt sollte über ein Grundwissen verfügen und einschätzen können, ob die vom Patienten in Eigenregie durchgeführten komplementärmedizinischen Maßnahmen zu Nebenwirkungen und/ oder zu Wechselwirkungen mit verordneten Medikamenten führen können. Komplementärmedizin wird auch in der Onkologie und Palliativmedizin sowie Gynäkologie und Geburtshilfe häufig angewendet. Können Sie einige Fälle aus Ihrer Praxis nennen, in denen Sie die Komplementärmedizin einsetzen? Im Gesundheitszentrum in Haslach wenden wir additiv vor allem Manualtherapie und Homöopathie, hauptsächlich in der Akuttherapie, an. Homöopathie unterstützt regulativ die Selbstheilungskräfte des Patienten, sodass etwa Infekte rascher abklingen und man weniger häufig Antibiotika oder NSAR einsetzen muss. In die Privatpraxis kommen meist Patienten mit chro-


Hausärzt:in politisch per, Geist und Seele. Im Rahmen eiWie kamen Sie zur Homöopathie? nes wertschätzenden Arzt-PatientenIch war als Student beim 2. InternatioGesprächs wird das Vorgehen geplant. nalen Kongress für Ganzheitsmedizin Diese partizipative Herangehensweise in Wien. Dort wurden beim „Tag der bildet den Kern eines ParadigmenwechIntegrativen Methoden“ komplemenDas Thema Evidenz ist, was die Komsels im Gesundheitswesen. tärmedizinische Ansätze präsentiert, u. a. plementärmedizin anbelangt, ein heiß in drei Vorträgen über Homöopathie. diskutiertes. Was sagen Sie dazu? Hat die Integrative Medizin in ÖsterDiese ZugangsDie Evidenzlage reich Zukunft? weise weckte meiist je nach MeIch würde mir wünschen, dass in Ösne Neugierde und thode sehr unterterreich dahingehend mehr Offenheit ich habe Praktika schiedlich. Vor alund Neugier spürbar werden. In den bei homöopathilem der HomöoUSA erhält die Komplementärmedizin schen Ärzten in pathie wird vorin diesem Rahmen an allen renommierEuropa und Mexigeworfen, dass sie ten Universitäten entsprechende instiko gemacht. Die nicht evidenzbatutionelle und finanzielle UnterstütZufriedenheit der siert sei. Das zung, um Lehre, Praxis und Forschung stimmt so nicht. Patienten und Ärzbetreiben zu können, zum Wohle des Auch wenn die te hat mich bePatienten. Davon sind wir in Österreich Evidenzlage nicht stärkt, weiter in leider noch weit entfernt. groß ist, so ist diese Richtung zu ihre Wirksamkeit gehen. Dr. Thomas Peinbauer Das Interview führte Mag.a Christine Radmayr. nach EBM-Kriterien wissenschaftlich belegt. Wir haben Sie sind ein Befürworter der Integratidies zuletzt in einem Peer-reviewedven Medizin. Was versteht man genau Artikel über Homöopathie und Andarunter? tibiotikaresistenz entsprechend darIntegrative Medizin wird heute in 1 Frass M et. al., Homeopathic Treatment as an Add-On gelegt (Anm. d. Red.: siehe Publikaden USA anstatt der alten Begriffe Therapy May Improve Quality of Life and Prolong tionen). Eine rezente österreichische Alternativ- und KomplementärmediSurvival in Patients with Non-Small Cell Lung Cancer: A Prospective, Randomized, Placebo-Controlled, Studie zur begleitenden Krebsbehandzin verwendet. Ziel ist es, ärztliche Double-Blind, Three-Arm, Multicenter Study, Epub 2020 Nov z, doi: 10.1002/onco.13548. lung mit Homöopathie bei Lungenkarund nichtärztliche komplementärmezinom zeigt, dass die Patienten sowohl dizinische Methoden hinsichtlich ihrer Lebensqualität als mit Hilfe von Studien auch in puncto Überlebenszeit von der zu evaluieren und in Homöopathie profitieren.1 einem pragmatischen, pluralistischen und patientenzentrierten Setting individuell und partizipativ auf die INFO Patientenwünsche und -werte abzustimmen. Publikationen von Dr. Thomas Peinbauer (Auszug) Die Mind-Body-Medizin, die wir im PVE Haslach vor allem in Weiermayer P, Frass M, Peinbauer T, Ellinger L, Evidenzbasierte Homöopathie und Präventionsprojekten Veterinär-Homöopathie und ihre mögliche einsetzen, ist ein Teil Bedeutung für die Bekämpfung der Antibiodavon. Dieser multitikaresistenzproblematik – ein Überblick, modale, ganzheitliche Schweiz Arch Tierheilkd. 2020, Ansatz basiert auf doi: 10.17236/sat00273. Achtsamkeit und ist Homeopathy in Europe – United in Diversity. darauf ausgerichtet, Paving the Way for Medical Homeopathy. Hilfe zur Selbsthilfe 25th Anniversary of the European Committee zu ermöglichen, den for Homeopathy (ECH), Editor, 2015. Menschen SelbstwirkMutterkraut samkeit zu lehren und „Homöopathie in der Kinder- und Jugendheilmit standardisiertem kunde“, Co-Autor, Verlag Elsevier, 2004/2018. deren GesundheitsParthenolid-Gehalt kompetenz zu stärken. PZN(A): 4865808 Er berücksichtigt Körnischen Erkrankungen, in TherapieNotstand oder solche, die einfach zusätzliche Unterstützung suchen.

„In den USA erhält die Komplementärmedizin an allen renommierten Universitäten Unterstützung, um Lehre, Praxis und Forschung betreiben zu können.“

Gewitter im Kopf?


Hausärzt:in medizinisch

Von den alten Kelten bis zur modernen Onkologie

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Die Misteltherapie gilt heute als sichere und wissenschaftlich überprüfte komplementäre Behandlung bei Krebserkrankungen mit soliden Tumoren

Ostermann T et al., A Systematic Review and Meta-Analysis on the Survival of Cancer Patients Treated with a Fermented Viscum album L. Extract (Iscador): An update of Findings, Complement Med Res 2020; 27(4):260-271, doi: 10.1159/000505202. Epub 2020 Jan 10.

nen Wirkungen gegenseitig zu ergänzen.1 Dr. Frank Meyer, Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, ist – wie er selbst sagt – „mistelbegeistert“. Bei einem Seminar des Fortbildungsforums Naturheilkunde* im Frühjahr 2022 mit dem Titel „Lebenskraft Mistel. Von den alten Kelten bis zur modernen Onkologie“ berichtete er über seine Erfahrungen: „Ich setze die Misteltherapie seit 1994 ein. Die Zahl der Patientinnen und Patienten mit onkologischen Erkrankungen steigt ständig. Doch viele ihrer Beschwerden werden oft gar nicht behandelt, weil die Schulmedizin nicht das volle Repertoire bereithält, das Betroffene brauchen würden. Das erkannte ich schon während meines ersten Praktikums in einem Krankenhaus. Folglich suchte ich nach einem Mittel, um zu helfen. Es sollte einerseits Wirkungen gegen den Krebs zeigen, also z. B. die Lebenszeit verlängern, das Tumorwachstum hemmen. Andererseits sollte es zu einer spürbaren Verbesserung der Lebensqualität in vergleichsweise kurzer Zeit führen. Beides erfüllte die Mistel.“

Metaanalyse zur Lebensqualität:

Wirtsbäume früher & heute

Misteln erregen als uralte Kult- und Heilpflanzen seit Jahrtausenden das Interesse der Menschen. Seit mehr als hundert Jahren wird die Heilpflanze mit großem Erfolg bei onkologischen Erkrankungen angewendet. In der heutigen, modernen Medizin kombinieren Ärztinnen und Ärzte Mistelextrakte gerne mit gebräuchlichen Chemo-

therapeutika, monoklonalen Antikörpern oder Östrogenrezeptorblockern. Studien haben nachgewiesen, dass sie weder die Zytostase noch die Zytotoxizität bei einer Chemotherapie hemmen. Im Gegenteil, sie zeigen sogar einen additiven inhibitorischen Effekt. Auch bei ihrem Einsatz mit monoklonalen Antikörpern oder Endoxifen scheinen sich die antikanzeroge-

LEBENSKRAFT MISTEL Bisher wurden 154 klinische Studien* zur Anwendung von Mistelpräparaten publiziert. Die Ergebnisse betreffend die klinische Wirksamkeit sind – kurz zusammengefasst: Steigerung der Lebensqualität,

Linderung tumorbedingter Schmerzen,

Reduktion von Nebenwirkungen onkologischer Therapien,

Verkürzung der Hospitalisationszeit, bessere Immunreaktionen,

Reduktion krankheits- oder therapiebedingter Symptome,

Vorbeugung von Rezidiven und Metastasen,

Linderung des Fatigue-Syndroms,

Verlängerung der Überlebenszeit.

Metaanalyse zur Überlebenszeit:

Loef M, Walach H, Quality of life in cancer patients treated with mistletoe: a systematic review and meta-analysis. BMC Complement Med There 20, 227 (2020), doi: 10.1186/s12906-020-03013-3. * Kienle GS, Kiene H, Klinische Studien zur Misteltherapie der Krebserkrankung, Merkurstab 2017.

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Schon die alten Kelten wussten um die besondere Bedeutung von verschiedenen Wirtsbäumen der Mistel. Besonders


Hausärzt:in medizinisch wichtig war für sie die Eichenmistel. Heute kommen Misteln der verschiedensten Wirtsbäume zum Einsatz: etwa der Kiefer bei Erkrankungen der Haut bzw. bei Hauttumoren oder des Apfelbaums bei Erkrankungen der Brustdrüse und der Gebärmutter. Aber nicht nur die Art des Baumes spielt eine Rolle; sondern ebenso, ob sowohl die Sommer- als auch die Wintersäfte der Mistel verwendet werden. Sommersaft hat einen reichen Anteil von Blättern und Blüten und ist dunkler gefärbt. Der hellere Wintersaft weist hingegen einen sehr hohen Anteil der lichtdurchlässigen Beeren auf.

Eine ganzheitliche Sicht Heute weiß man: Die Wirkung der Mistelpräparate lässt sich nicht auf Monosubstanzen – also Lektine oder Viscotoxine – reduzieren. Es wird immer klarer, dass die Gesamtkomposition in den Mistelextrakten für die Wirkung verantwortlich ist, welche fast alle komplementärmedizinischen Systeme mitberücksichtigen. Integrative Therapien werden von onko-

logischen Patienten immer öfter nachgefragt. Die Misteltherapie stellt dabei ein Herzstück dar. Andrea Diehl, Fachärztin für Allgemeinmedizin, bittet ihre Patientinnen und Patienten, die Temperaturmessung anzuwenden, um die richtige Dosis zu finden: „Ich lasse sie im Vorfeld ihre Kernkörpertemperatur rektal messen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welchem zirkadianen Rhythmus die Temperatur unterliegt“, schilderte sie im Webinar ihr Vorgehen in der Praxis. „Normalerweise startet man morgens mit einer niedrigeren Temperatur und hat dann abends um 0,5 Grad mehr. Sehr häufig sieht man jedoch bei Tumorpatienten, dass dieser zirkadiane Rhythmus aufgehoben ist. Wenn es abends zu keiner Temperaturerhöhung kommt, spüren die Patienten das oft als schwere Müdigkeit bzw. als Kältegefühl. Therapieziel ist in der Folge, einen Temperaturanstieg im Laufe des Tages von 0,5 bis maximal einem Grad zu erreichen. Die Höchsttemperatur sollte jedoch 38,5 Grad nicht übersteigen. In einem solchen Fall wäre die Konzentration der Mistel zu hoch gewesen.“

Die optimale Dosierung Diehl beginnt die Misteltherapie in der Regel mit einer Ampulle in der geringsten Konzentration: drei subkutane Injektionen pro Woche, mit wechselnder Lokalisation. „Ein guter Marker für die optimale Dosis ist auch die Hautreaktion. Die Rötung sollte nicht größer als ein Zwei-Euro Stück sein“, betonte sie. Darüber hinaus verwendet die Ärztin einen Fragebogen, anhand dessen sie die physische Ebene (z. B. Gewicht), die Lebensenergie (Vitalität), die Empfindungsebene (Stimmung) und die Ich-Ebene (Selbstwahrnehmung) abfrägt. „Hat man die optimale Dosierung gefunden, kann sie in der Regel eine Zeit lang beibehalten werden, bevor es möglicherweise wieder notwendig wird, sie anzupassen“, so Diehl abschließend. Gabriella Mühlbauer * Live-Webinare: Lebenskraft Mistel Teil 2: Von den Kelten zur modernen Onkologie, 21.2.22; Lebenskraft Mistel Teil 3: Anwendungsbeispiele aus der Praxis, 4.3.22. Infos: fortbildungsforum-naturheilkunde.de 1 Weissenstein U et al., BMC Complementary and Alternative Medicine 14, 6 (2014); 16, 271 (2016); 19, 23 (2019).

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Hausärzt:in DFP

DFP-Punktesammler L I T E R AT U R

Praxiswissen: Frühmobilisierung

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Rapid Recovery™ – ein Konzept für rasche Rehabilitation nach Hüft- und Knietotalendoprothese

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Hausärzt:in DFP

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Der Erfolg eines Eingriffes ergibt sich nicht nur aus der chirurgischen Tätigkeit zwischen Hautschnitt und -naht. Insbesondere bei endoprothetischen Eingriffen ist die multiprofessionelle Zusammenarbeit und Vernetzung wesentlich für die Qualität des Ergebnisses und die Effizienz der Rehabilitation. Somit umfasst das Konzept von Rapid Recovery™ ein perfekt abgestimmtes Zusammenwirken aller Berufsgruppen – und zwar vor, während und nach der Operation. Neben diesem interprofessionellen Ansatz besteht ein weiteres Grundprinzip darin, alles zu vermeiden, was eine Mobilisierung bzw. Rehabilitation verzögern oder verlangsamen könnte. Das Konzept von Rapid Recovery™ ist – unabhängig vom Alter – für alle Primär- und Revisionsoperationen geeignet, solange der Patient generell an einer raschen postoperativen Mobilisierung teilnehmen kann.

mit dem Prinzip von Rapid Recovery™ für Patientengespräche vertraut sein. Gegebenenfalls kann zur Risikominimierung eine präoperative Anämiediagnostik und -therapie schon lange vor dem definitiven Eingriff im niedergelassenen Bereich erfolgen. Eine individuelle Krückenschulung wird ca. zwei Wochen vor der Operation im Zuge der Vorbereitung auf diese im Spital durchgeführt, um die spätere Mobilisierung nach dem Eingriff zu vereinfachen.

Die Operation – Zusammenarbeit von Orthopädie und Anästhesie

Im Kontext des perioperativen Managements werden alle Maßnahmen gesetzt, um das Operationstrauma so gering wie möglich zu halten und eine schnelle Mobilisierung zu gewährleisten. Durch den Einsatz minimalinvasiver Verfahren wird das chirurgische Trauma miPatient Education – nimiert: Insbesondere die Schonung die Vorbereitung der Muskulatur ist für eine rasche Mobilisierung essenziell. Dazu gehören Bereits bei der Indikationsstellung auch Anästhesie-Verfahren, die eine einer Operation erhält der Patient kurzwirksam steuerbare meschrittweise alle Informatiodikamentöse intraoperative nen, die für eine postoperatiRelaxierung erlauben – dies ve Rehabilitation wesentlich ist insbesondere in der minisind: Im Rahmen der Phase malinvasiven HüftendoproPatient Education werden thetik von grundlegender in Form von persönlichen Bedeutung. Andererseits haBeratungsgesprächen, Fachben sich potenziell motorisch vorträgen, Broschüren oder wirksame periphere Nerveninternetbasierten Videos umAUTOR:: blockaden und Katheterverfangreiche Informationen von Prim. Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Schneider, fahren als untauglich für ein allen Berufsgruppen (OrMSc, MBA Fast-Track-Setting erwiesen, thopädie, Anästhesie, Pflege, Vorstand der I. Orthopädischen Abteilung da hier die Mobilisierung aufPhysiotherapie, Sozialarbeit) Herz-Jesu Krankengrund der motorischen Wirkangeboten. Begleit- und Verhaus GmbH samkeit verunmöglicht wird. trauenspersonen des PatienLediglich periphere Verfahren ohne ten sind von Beginn an eingebunden. motorische Beeinträchtigung (Beispiel: So werden Patienten bereits lange vor Adduktorenkanal-Block in der Knieder Operation aufgeklärt über … endoprothetik) können ergänzend • … den Ablauf des geplanten Eingriffes, durchgeführt werden. Eine wesentliche • … die Möglichkeiten von Anästhesie Säule der Schmerztherapie stellt die lound Schmerztherapie, kale Infiltrationsanästhesie (LIA) dar. • … den Zeitplan und die Art der MoDabei wird intraoperativ das periartibilisierung, kuläre Gewebe mit einem langwirksa• … die Notwendigkeiten für die erste men Lokalanästhetikum infiltriert. Dies Zeit daheim, erzielt in der kritischen ersten Phase • … Möglichkeiten postoperativer Reder Mobilisierung während der ersten habilitationsverfahren. 24 bis 36 Stunden eine hervorragende Idealerweise sollten auch AllgemeinSchmerzreduktion ohne motorische mediziner im niedergelassenen Bereich

Einschränkungen. Völlige Schmerzfreiheit wird nicht mehr angestrebt. Wissenschaftliche Studien und die eigene Erfahrung bestätigen, dass Patienten eine gewisse postoperative Schmerzbelastung temporär problemlos akzeptieren, wenn sie präoperativ ausreichend darüber informiert wurden und eine zusätzliche Rescue-Schmerztherapie bei Bedarf abgerufen werden kann. Der intra- und postoperative Blutverlust wird durch die Gabe von Tranexamsäure i. v. deutlich verringert – ebenso wie durch den Verzicht auf intraoperative Blutsperre und Blutungsdrains. Durch die Kombination dieser Maßnahmen konnte an unserer Abteilung die Transfusionswahrscheinlichkeit von 20 % auf 5 % reduziert werden. Mittels einer unmittelbar präoperativen Single-Shot-Gabe von Dexamethason wird die Akutphase-Reaktion des Gewebetraumas nachweislich abgeschwächt und die subjektive Belastung des Patienten durch die Operation minimiert. Diese generelle Dexamethason-Gabe und eine bei Risikopatienten durchgeführte zusätzliche PONV(„postoperative nausea and vomiting“)-Prophylaxe haben eine Reduktion der postoperativen Übelkeit von 30 % auf 2 % bewirkt. Erst das ermöglicht eine generelle Erstmobilisierung der Patienten bereits vier Stunden nach der Operation.

Postoperative Mobilisierung – Interaktion von Pflege und Physiotherapie Durch die Zusammenarbeit von Physiotherapeutinnen, -therapeuten und Pflegekräften wird die Erstmobilisierung gestartet, um Patienten möglichst rasch den selbständigen Transfer und die selbständige Körperpflege zu ermöglichen. Nach einer Hüft- und Knietotalendoprothese (TEP) kann ab der Operation eine Vollbelastung mit zwei Krücken problemlos erfolgen. Am ersten und zweiten postoperativen Tag findet die weitere Mobilisierung unter Berücksichtigung unserer funktionellen Entlassungskriterien statt: Eine ausreichende Selbständigkeit und Entlassbarkeit ist gegeben, sobald eine Gehstrecke von mindestens 100 m und ein Stockwerk treppauf und treppab bewältigt werden >

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Hausärzt:in DFP

State-of-the-Art – Abschneiden alter Zöpfe Im Rahmen der Implementierung des Rapid Recovery™-Konzeptes wurden alle im Laufe der letzten Jahrzehnte etablierten Prozesse einer kritischen Beurteilung unterzogen. Im Sinne der Evidence-based Medicine wurden Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit aller Schritte anhand der aktuellen wissenschaftlichen Literatur geprüft. Dies führte zur Modifikation der Operationstechnik mit Verzicht auf Blutsperre und Blutungsdrains sowie zu einer kompletten Neuaufstellung der perioperativen Schmerztherapie. Ebenso wird nun auf Harnkatheter verzichtet, da sie aufgrund der unmittelbar postoperativen Mobilisierung nicht mehr notwendig sind. Von physiotherapeutischer Seite wurden die meisten „Gelenkschutz“Maßnahmen zurückgenommen. Dank der muskelschonenden OP-Technik und moderner Implantate sind diese nicht mehr erforderlich: Luxationen nach Hüft-TEP sind mittlerweile nur noch im Promille-Bereich nachweisbar. Motorschienen werden nicht mehr verwendet, weil diese Art der Mobilisierung Patienten zur Passivität erzieht. Als wesentlich sinnvoller haben sich alle Arten der aktiven, selbständig durchzuführenden Mobilisierung erwiesen – beginnend unter fachlicher

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WICHTIGE ZIELE NACH DEM HÜFT- ODER KNIEGELENKERSATZ Alltagstätigkeiten, die Patient:innen Schritt für Schritt nach der Operation selbständig durchführen können:

Ziel: wieder zu Hause sein ins Auto/in Verkehrsmittel einsteigen Stiegen steigen am Gang gehen waschen und duschen umziehen aufs WC gehen aufstehen Quelle: Herz-Jesu Krankenhaus Wien

Anleitung, danach selbständig unter Verwendung bebilderter Arbeitsbehelfe fortgeführt. Von pflegerischer Seite wurden Verbandwechsel auf das notwendige Minimum reduziert, ebenso werden Stützstrümpfe und Kryotherapie in der Routine-Nachbehandlung nicht mehr angewandt. Der Verzicht auf all diese Maßnahmen hat nachweislich keinen Effekt auf Komplikationsraten, bewirkt aber eine viel frühere Selbständigkeit unserer Patienten. Als bestes Beispiel ist zu erwähnen, dass es seit Einführung unseres Rapid Recovery™-Konzeptes praktisch keine thromboembolischen Komplikationen mehr gibt.

Wie geht es nach der Entlassung weiter? Unser aktuelles Ziel besteht darin, Patienten drei Tage nach der Operation (bei Erfüllung unserer funktionellen Entlassungskriterien) nach Hause entlassen zu können. Anschließend sind – mit Ausnahme der normalen Nahtbzw. Klammerentfernung nach zehn bis 14 Tagen im niedergelassenen Bereich – keine weiteren ärztlichen Tätigkeiten erforderlich. Für Patienten, die – meist aufgrund des sehr fortgeschrittenen Alters – nicht in der Lage sind, die funktionellen Entlassungskriterien zu erfüllen, besteht die Möglichkeit einer Transferierung auf unsere Abteilung für Akutgeriatrie und Remobilisierung. Die begonnene Mobilisierung wird auf jeden Fall daheim selbständig fortge-

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können. Ein Mindestbewegungsumfang ist kein Entlassungskriterium, da Studien und die eigene Erfahrung gezeigt haben, dass es keine Korrelation zwischen dem Bewegungsumfang bei Entlassung und der Gesamtbeweglichkeit nach abgeschlossener Reha gibt. Die Gelenkmobilisierung erfolgt ohne Hilfsmittel – ohne z. B. eine Motorschiene –, da sie die Patienten in eine passive Rolle versetzen. Ziel ist eine aktive Mobilisierung, unterstützt durch präoperative Aufklärung, bebilderte Anleitungsbroschüren, durch individuelle Begleitung aller Berufsgruppen und nicht zuletzt durch einen gewissen Gruppendruck. In keinem Fall darf einer „Hospitalisierung“ Raum gegeben werden, deshalb werden Patienten von Anfang an aufgefordert, das Bett zu verlassen und keine Spitalskleidung mehr zu verwenden.

setzt. Bis dato wurde das Reha-Verfahren ca. acht bis zehn Wochen nach der Operation begonnen. Da dies aufgrund der mittlerweile wesentlich rascheren und sichereren Grundmobilisierung veraltet erscheint, haben wir im Rahmen eines Pilotprojektes begonnen, eine Anschluss-Reha spätestens eine Woche nach dem Eingriff anzubieten. Damit gelingt es, Patienten bereits vier Wochen nach der Operation in ihr normales Alltags- und Berufsleben zu reintegrieren – anstelle von vier Monaten nach konventionellem Schema. Idealerweise sollte ein differenziertes Angebot von ambulanter Reha, Anschluss-Reha und konventioneller Reha zur Verfügung stehen, um alle individuellen medizinischen, privaten und beruflichen Aspekte berücksichtigen zu können. <

DFP-Pflichtinformation Fortbildungsanbieter: Herz-Jesu Krankenhaus Wien Lecture Board: OA Dr. Michael Kasparek, MSc, MBA Spezialteam-Leiter für Knie-Endoprothetik, Orthopädisches Spital Speising, Wien Dr.in Johanna Holzhaider 2. Vizepräsidentin der OBGAM Gruppenpraxis Sandl, Oberösterreich


Hausärzt:in DFP

Hausärzt:in DFP – Das Wichtigste in Kürze Rapid Recovery™ beschreibt ein interprofessionelles Konzept, welches Patienten nach Hüft- und Knie-TEP eine möglichst problemlose und rasche Mobilisierung und Rehabilitation ermöglicht. Rapid Recovery™ umfasst Maßnahmen zu allen Zeitpunkten des Eingriffes: präoperative Information und Patientenschulung, schonende Operationstechnik, an die rasche Mobilisierung angepasste Anästhesie und Schmerztherapie, interprofessionelle postoperative Mobilisierung mit dem Ziel der raschen Selbständigkeit, Definition und Kommunikation eindeutiger funktioneller Entlassungskriterien. Anästhesie-Verfahren müssen für die unmittelbare postoperative Mobilisierung ausgelegt sein: gut steuerbare Anästhesie-Verfahren mit kurzer Wirksamkeit, keine

Katheter-Verfahren mit motorischer Wirksamkeit, Vermeidung postoperativer Übelkeit durch PONVProphylaxe. Umgehung des Hospitalisierungsgefühls nach der Operation: frühestmögliche Verwendung normaler Privatkleidung, kein unnötiges Verweilen im Krankenbett, sondern Aktivitäten in Aufenthalts- und Trainingsräumen. Althergebrachte Traditionen müssen kritisch hinterfragt werden: So sind zum Beispiel intraoperative Blutsperre, Blutungsdrains, Harnkatheter, tägliche Verbandwechsel, Antithrombosestrümpfe, Motorschienen, Kryotherapie und eine Mindestverweildauer fachlich nicht zu rechtfertigen und werden deshalb in einem Rapid Recovery™-Konzept nicht mehr angewandt.

DFP-Literaturstudium HAUSÄRZT:IN

L I T E R AT U R

So machen Sie mit: Entsprechend den Richtlinien der ÖÄK finden Sie im Anschluss an den Fortbildungsartikel Multiple-Choice-Fragen. Eine Frage gilt dann als richtig beantwortet, wenn Sie von den vorgegebenen Antworten alle richtigen angekreuzt haben. Für eine positive Bewertung ist erforderlich, dass Sie 2 der 3 Fragen richtig beantworten. In diesem Fall wird 1 DFP-Fachpunkt angerechnet. Online lesen und beantworten: Dieser Fortbildungsartikel inkl. Test steht online auf meindfp.at noch 2 Jahre zur Verfügung. Wenn Sie dieses elektronische Angebot nutzen, erhalten Sie auch die Teilnahmebestätigung elektronisch. Per E-Mail oder Post: Schicken Sie den beantworteten Fragebogen bitte per Mail als Scan-Dokument an office@gesund.at oder per Post an Redaktion HAUSÄRZT:IN/RMA Gesundheit GmbH, Am Belvedere 10 / Top 5, 1100 Wien. Einsendeschluss: 31. Oktober 2022.

Sie haben ein Fortbildungskonto?

DFP-Fragen zu „Praxiswissen: Frühmobilisierung“ Die Anzahl der richtigen Antworten ist nach jeder Frage in Klammern ange­geben.

1

Für welche Patienten eignet sich das Rapid Recovery™-Programm? (3 richtige Antworten)

JA – dann buchen wir Ihre DFP-Punkte automatisch!

Für berufstätige Patientinnen und Patienten.

Dazu brauchen wir Ihre ÖÄK-Ärztenummer und E-Mail-Adresse:

Für Patientinnen und Patienten, die älter als 85 Jahre sind. Für polytraumatisierte Patientinnen und Patienten mit Hüftfrakturen. Für Patientinnen und Patienten, die jünger als 50 Jahre sind.

2

NEIN – ich möchte meine Teilnahmebestätigung

Welche Berufsgruppen sind am Erfolg von Rapid Recovery™ beteiligt? (3 richtige Antworten)

per Post erhalten per E-Mail erhalten

Fachärztinnen und -ärzte für Orthopädie. Wundmanagerinnen und Wundmanager. Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner im niedergelassenen Bereich. Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten.

3

Welche operationsspezifischen Verfahren werden im Rahmen von Rapid Recovery™ eingesetzt? (2 richtige Antworten)

Bitte gut leserlich ausfüllen und E-Mail-Adresse angeben: Name

Anschrift

Minimalinvasive Operationszugänge. Blutungsdrains. Die Esmarch'sche Blutsperre. Eine intraoperative lokale Infiltrationsanästhesie.

PLZ/Ort

E-Mail

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Hausärzt:in medizinisch

Der lumbale Bandscheibenvorfall logische Veränderungen erkennen. Beim Bandscheibenvorfall handelt es Sie reichen von einer Discopathie sich um den Austritt eines Teiles des (Abb. 1) bis hin zu einer OsteochonNucleus pulposus durch den Annulus drosis erosiva. In akuten Fällen kann fibrosus. Dieser ausgetretene Bandin Ermangelung einer MRT die CT scheibenanteil verursacht je nach Lahilfreich sein. Ein Nativröntgen im ge etwa in die Beine ausstrahlende Stehen mit Funktionsaufnahmen und Schmerzen, wenn er eher lateral liegend Beckenübersicht, insbesondere bei eine Nervenwurzel tangiert (Abb. 2). schon länger andauernden Median kommt es vielmehr zu Beschwerden, gibt über die „Dura-Reizsyndromen“ somechanischen Verhältnisse wie beispielsweise zu Kreuzv. a. beim Stehen und Beweschmerzen. Für die Therapie gen Aufschluss. Bei akuten ist es wichtig, dass die Lage Schmerzen ist ein Röntgen des Bandscheibenvorfalls in oft nicht durchführbar oder Konkordanz mit den kliniwegen „Schmerz-Schonhalschen Beschwerden des Patitungen“ wenig aussagekräftig. enten steht und die BehandAUTOR:: Begleiterscheinungen wie lung entsprechend eingeleitet Prim. Doz. Dr. eine Spondylolyse, ein Gleitwird. Gerd Ivanic Leiter des Institutes wirbel und andere struktuIn den meisten Fällen entfür Orthopädische und relle Pathologien, die für die stehen beim BandscheibenKardiologische Rehaweitere Behandlung wichtig vorfall Beschwerden in dem bilitation, Privatklinik Graz Ragnitz sind, können aber detektiert Gebiet, welches jener Nerv werden. innerviert, der durch den Prolaps kompromittiert wird. Hierbei kann es zu sensiblen wie auch zu motorischen Relative und absolute Störungen bzw. Ausfällen kommen. Des OP-Indikationen Weiteren können Nervendehnungszeichen, z. B. der Lasègue-Test, positiv Eine absolute OP-Indikation besteht sein. Oft liegen zudem gestörte Reflexe, bei Conus-Cauda-Pathologien. Zu dieHarn-Stuhl-Störungen oder bei Erniedsen gehören etwa Harn-Stuhl-Störunrigung der Bandscheibe auch Instabiligen, ein Querschnitt oder ein Reithotätsschmerzen vor, was bei Frauen im senphänomen. Hier ist die Operation Falle einer längeren Persistenz Koidringend indiziert und sollte innerhalb tusschmerzen hervorrufen kann (bei von 24 bis 28 Stunden erfolgen. RelaAusübung oder danach). Bei Männern tive Indikationen für einen chirurgikann eine Neurokompression im Spischen Eingriff sind Schmerzen, sensibnalkanal erektile Dysfunktionen zur le und/oder motorische Störungen mit Folge haben. positivem Nervendehnungstest und einer Konkordanz mit der Bildgebung. In diesen Fällen erzielt die Operation Möglichkeiten und Grenzen in Bezug auf subjektive und objektive der Diagnostik Kriterien im Langzeitverlauf ein signifikant besseres Ergebnis. Die diagnostische Methode der Wahl Der Goldstandard der Bandscheibenist die MRT-Untersuchung (Abb. 1 chirurgie ist die Mikrodiscektomie und 2), weil sie gerade über die Weich(Abb. 3), d. h., die Operation mit dem teile – etwa Bandscheiben, Nerven, OP-Mikroskop mit minimalinvasivem Dura, Myelon, Liquor etc. – gut AusZugang und unter Verwendung entkunft geben kann. Vor allem lassen sprechender Hilfsmittel, z. B. des Cassich dadurch der Flüssigkeitsgehalt par-Trichters. der Bandscheiben und weitere patho-

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Konservative Maßnahmen Wenn keine akute OP-Indikation gegeben ist, empfiehlt sich ein konservativer Therapieversuch mit schnellstmöglicher Schmerzreduktion und Entkrampfung der stark verspannten Muskulatur. Die Kombination von NSAR und Morphinderivaten kann hilfreich sein, und für einige Tage wird die Behandlung um Muskelrelaxantien ergänzt. Letztere sind ehest­mög­lich abzusetzen und sollten generell nicht länger als drei bis fünf Tage gegeben werden. Weitere Maßnahmen stellen die Verwendung einer Lumbalbandage und entsprechende physiotherapeutische Behandlungen dar. Es empfehlen sich multimodale Schmerzkonzepte mit zusätzlichen Bildwandler-, CT- oder sonografisch gezielten Wurzel- und Facettenblockaden. Auch Caudablockaden können bei guter Indikation und beispielsweise bei fehlender Bildgebung sehr hilfreich sein.

Bei Versagen Operation erwägen Kommt es unter dieser Therapie zu keiner Verbesserung oder sogar zu einer Verschlechterung, dann ist die Operationsindikation gegeben. Normalerweise geht man von einer Wartefrist von vier bis sechs Wochen aus. Bei keiner Verbesserung oder einer Verstärkung der Schmerzen sowie bei Progredienz von z. B. motorischen Lähmungen sollte

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© Furgler

Die Konkordanz der Bildgebung mit den klinischen Beschwerden ist wesentlich für die Therapieentscheidung*

Abb. 1: nach caudal umgeschlagener Prolaps L 5–S1; Discopathie L 4–5.


Hausärzt:in medizinisch eine Operation angedacht werden, da der Rückgang eines schon über längere Zeit vorhandenen Vorfalls in der nächsten Zeit nicht zu erwarten ist.

auch schon davor die OP-Indikation mit dem Patienten besprochen werden. Wenn ein Patient bereits seit längerem Beschwerden hat und eine ältere MRT vorliegt, dann kann bei laufender oder stattgehabter Therapie und Nichtbesserung der Beschwerden eine neue MRT erfolgen. Ist nach drei oder mehr Monaten der Bandscheibenvorfall immer noch zu sehen und passt die Klinik dazu, dann sollte auch in diesen Fällen

Postoperatives Vorgehen Nach stattgehabter Operation ist für sechs Wochen eine Rotationsbelastung – vor allem durch vornübergebeugte, verdrehte Belastungen – unbedingt zu

vermeiden. Am Anfang stehen leichte Stabilisierungsübungen für die LWS und den lumbosakralen Übergang sowie Neuromobilisationsübungen am Programm – jedoch keine Mobilisationsübungen der Wirbelsäule selbst. Mit Nordic Walking kann nach ca. zehn Tagen langsam begonnen und die Intensität im Verlauf auch gesteigert werden. Sechs Wochen postoperativ wird eine spezifische Physiotherapie gestartet, ab dem vierten Monat fängt die assistierte medizinische Trainingstherapie für den Muskelaufbau an.

Prolaps

Conclusio Bei richtiger Indikationsstellung und guter Diagnostik kann ein Bandscheibenvorfall zwar ein unangenehmes Phänomen sein, jedoch gut behandelt werden.

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Abb. 2: 1 rechte freie Nervenwurzel; 2 Prolaps L4–5 links mit „Maskierung“ der Nervenwurzel.

Abb. 3: Sicht auf Prolaps durch das OP-Mikroskop.

* Der Autor war Vortragender beim 28. Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) von 23. bis 25.09.2021 in Villach.

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Knochenschutz bei kranker Lunge

Pneumologische Erkrankungen stellen einen klinischen Risikofaktor für Fragilitätsfrakturen dar – Empfehlungen aus der neuen Leitlinie Entstehung von Osteoporose. Daneben erhöhen die krankheitsbedingte Sauerstoffunterversorgung des Blutes, Hyperkapnie und eine katabole Stoffwechsellage das Risiko osteoporotischer Fragilitätsfrakturen. Ebenso tragen Inaktivität und Vitamin-D-Mangel zu jenen bei.

Chronische Erkrankungen der Lunge können sich mit der Zeit auf den gesamten Organismus auswirken. Osteoporose ist eine häufige Komorbidität bei Personen mit schweren Atemwegserkrankungen wie COPD und Asthma, aber auch bei interstitiellen Lungenerkrankungen und bei Zystischer Fibrose. Die Verminderung des Knochengewebes wird durch Begleitfaktoren wie systemische Steroidtherapie, Bewegungsmangel und Nährstoffmangel begünstigt. Wirbelkörper- und Hüftfrakturen können bei Menschen mit Lungenleiden dramatische Folgen in Hinblick auf Morbidität und Mortalität haben. Fachexperten appellieren daher, Patientinnen und Patienten frühzeitig auf das erhöhte Osteoporose-Risiko aufmerksam zu machen und entsprechende Vorsorgemaßnahmen zu treffen.

Systemische Entzündung als Mitauslöser Zum einen wird der Knochenstoffwechsel durch die pneumologische Grunderkrankung selbst beeinflusst. Die Erkrankung führt zu einer Veränderung der trabekulären und kortikalen Mik-

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Patientinnen und Patienten mit chronischen pneumologischen Erkrankungen, insbesondere COPD, leiden häufig an einem Verlust von Muskelmasse, wodurch Stürze und eine Abnahme der Knochenmasse wahrscheinlicher werden. Hinzu kommt, dass Menschen mit COPD und Asthma körperliche Belastungen aufgrund von Atemnot oder infolge einer roarchitektur des Knochens und zu eiDepression vielfach meiden. Bewegung ner Verminderung von osteologischen fördert jedoch Muskelkraft Formations- und Resorptionsund Koordination, wodurch markern. Zum anderen komdas Frakturrisiko insgesamt men „bei schweren Atemwegssinkt. Im Sinne einer Osteoerkrankungen meist gleich porose-Prophylaxe ist Bemehrere Faktoren zusammen, troffenen ein regelmäßiges, die das Risiko eines krankhafprogressiv angelegtes Training ten Knochenabbaus deutlich anzuraten, das ihren individuerhöhen“, sagt Priv.-Doz. Dr. ellen Leistungszustand sowie Georg-Christian Funk, Interalle großen Muskelgruppen nist, Lungenfacharzt und InEXPERTE:: Priv.-Doz. Dr. berücksichtigt. tensivmediziner, Leiter der 2. Georg-Christian Funk Darüber hinaus sollte UnterMedizinischen Abteilung mit Internist, Lungenfacharzt und Intensivmedigewicht vermieden und auf Pneumologie mit Ambulanz, ziner, Leiter der 2. die Ernährung geachtet werKlinik Ottakring. Medizinischen Abteilung mit Pneumologie den. Wichtig ist es außerdem, Exemplarisch seien COPDmit Ambulanz, Klinik eine ausreichende Versorgung Patientinnen und Patienten Ottakring mit Kalzium und Vitamin D genannt, die eine bis zu viersicherzustellen. Ein Vitamin-D-Mangel fach höhere Osteoporose-Inzidenz im ist sowohl in der Allgemeinbevölkerung Vergleich zur gleichaltrigen Normalals auch bei Menschen mit chronischen bevölkerung aufweisen. Als Ursachen Erkrankungen häufig. Eine Vitamin-D3dafür werden unter anderem das ZigaSerumkonzentration von < 20 ng/ml rettenrauchen als gemeinsamer Risiko(50 nmol/l) ist zudem mit einem erfaktor, Nebenwirkungen einer Steroidhöhten Risiko assoziiert, proximale therapie sowie die mit der Krankheit Femurfrakturen und nichtvertebrale einhergehende systemische Entzündung Frakturen zu erleiden. In den aktuelvermutet. Proinflammatorische Zytolen Leitlinien (siehe Quelle) wird daher kine – vorrangig Tumornekrosefaktor empfohlen, den Vitamin-D-Spiegel bei alpha, TNF-α – gelten als Trigger der

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Empfehlungen in aktuellen Leitlinien


Hausärzt:in medizinisch Menschen mit akuten und chronischen Lungenerkrankungen zu erheben und einen Zielspiegel von > 20–30 ng/ml (nicht über 60 ng/ml) zu erreichen. Dies gelingt meist mit Tagesdosen von 800 bis 4.000 IU, wobei wöchentliche Gaben ebenfalls akzeptabel sind. Der Kalziumbedarf (1.000 mg Kalzium/Tag) sollte vorzugsweise über die Nahrung gedeckt werden. Ist dies nicht möglich, sind Kalziumsupplemente (500 mg Kalzium pro Einnahmedosis) erforderlich.

Therapieoptionen bei Osteoporose Die Standardmethode zur Diagnosestellung ist die Knochendichtemessung: Dabei stellt ein T-Score von ≤ 2,5 den Schwellenwert für die Diagnose der Osteoporose dar. Der T-Score gibt die Standardabweichung eines individuell gemessenen Knochenmineraldichte-Wertes vom mittleren Normwert knochengesunder, junger Erwachsener an. Eine deutliche Mehrzahl aller osteoporotischen Frakturen tritt bei

einem T-Score von ≥ 2,5 auf. Bei bereits verringerter Knochendichte „sind in Österreich sämtliche zur Behandlung der Osteoporose zugelassenen antiresorptiv oder anabol wirksamen Medikamente auch bei pneumologischen Personen mit einem erhöhten Knochenbruchrisiko entsprechend den nationalen Erstattungskriterien indiziert“, so Doz. Funk. Als Goldstandard gelten die Bisphosphonate. Diese werden an metabolisch aktiven Umbaueinheiten im Knochen abgelagert, wodurch die Aktivität der Osteoklasten gehemmt und konsekutiv die Resorptionsaktivität im Gesamtskelett deutlich gedämpft wird. Aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils sind intravenöse Gaben zu bevorzugen. Die am zweithäufigsten eingesetzte Therapieoption ist der monoklonale Antikörper Denosumab, der alle sechs Monate subkutan verabreicht wird. Über eine Bindung an das Osteoblasten-Signalprotein RANKL wird die Reifung und Aktivierung der Osteoklasten gehemmt. Eine weitere antiresorptive Substanz ist Strontiumranelat, das zusätzlich anabole Eigenschaf-

ten hat. Die hormonelle Substitution erfolgt mit selektiven ÖstrogenrezeptorModulatoren wie Raloxifen. Raloxifen hemmt die Knochenresorption und reduziert das Risiko vertebraler Frakturen. Es ist für die Prävention und für die Therapie der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen zugelassen. Ein anderer Ansatz ist die Gabe von osteoanabolen Substanzen wie Teriparatid, dessen Effekt auf einer Beschleunigung der Reifung und Stimulierung von Osteoblasten beruht. Teriparatid wird einmal täglich subkutan über 24 Monate angewandt. Der chronische Verlauf der Osteoporose erfordert eine regelmäßige Überprüfung des Therapieerfolges durch klinische Kontrollen, Frakturanamnese und Evaluierung des Risikoprofils. Mag.a Sylvia Neubauer

Quelle: Muschitz C et al., Osteoporose bei pneumologischen Erkrankungen – Gemeinsame Leitlinie der Österreichischen Gesellschaft für Knochen und Mineralstoffwechsel (ÖGKM) und der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP); In: Wien Klin Wochenschr (2021) 133 (Suppl 4): S155–S173.

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Vorbeugung ist die beste Therapie Möglichkeiten der Migräneprophylaxe ausschöpfen

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rin, „dass bisherige Erfahrungen kaum relevante Nebenwirkungen gezeigt haben. Manche Personen sprechen so gut darauf an, dass die Attacken bereits nach zehn Tagen spürbar zurückgehen“, im Schnitt dauere es einige Wochen. Kassandra Steiner von der Selbsthilfegruppe Kopfweh Wien ergänzt, dass es auch Betroffene gebe, bei denen die Therapie anfangs zwar gut wirke, später aber nachlasse. In diesen Fällen sollte nicht aufgegeben, sondern ein Umstieg auf ein anderes Präparat mit dem Patienten besprochen werden.

Die Wichtigkeit einer wirksamen Akuttherapie bei Migräne ist unbestritten. Um das volle Ausmaß einer Migräneattacke zu verhindern, ist es ausschlaggebend, dass sämtliche Akutmaßnahmen möglichst frühzeitig eingeleitet werden. Noch einen Schritt davor beginnt die Migräneprophylaxe. Entsprechende Maßnahmen zielen nicht nur darauf ab, die Häufigkeit von Anfällen um mindestens 50 Prozent zu reduzieren, sondern auch darauf, die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten insgesamt zu verbessern.

Basistherapeutika individuell auswählen Zu Standard-Medikamenten, die für die Migräneprophylaxe eingesetzt werden können, gehören z. B. Betablocker wie Propranolol, Metoprolol und Bisoprolol, der Kalziumkanalblocker Flunarizin, die Antiepileptika Valproinsäure und Topiramat sowie das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin.1 Die Wahl des Therapeutikums sollte sich nach etwaigen Komorbiditäten richten. „So lassen sich etwa bei bestimmten Herzerkrankungen oder bei Bluthochdruck mit Betablockern zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, erklärt Dr. Claudio Lind, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Wien, im Rahmen eines Pressegesprächs*. Allerdings könnten diese Medikamente teils er-

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hebliche Nebenwirkungen hervorrufen – „eine kritische individuelle NutzenSchaden-Abwägung ist immer nötig.“

Gezielte CGRP-Hemmung Im Gegensatz zu den bereits genannten Wirkstoffen wurden die CGRP („Calcitonin Gene-Related Peptide“)Inhibitoren speziell für die Migräneprophylaxe entwickelt. Das Neuropeptid CGRP wird während einer Migräneattacke deutlich stärker ausgeschüttet – die monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder seinen Rezeptor greifen an einer Schlüsselstelle des Migränemechanismus ein. Derzeit befinden sich Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab am Markt. Ihre Applikation erfolgt als subkutane Injektion. Eptinezumab wurde im Jänner 2022 von der EMA zugelassen – er ist der erste CGRP-Antikörper, der intravenös verabreicht wird. Zugelassen sind die Präparate für die Migräneprophylaxe bei Patienten mit mindestens vier Migränetagen pro Monat. Laut Assoc.-Prof.in Priv.-Doz.in Dr.in Karin Zebenholzer, Neurologin an der MedUni Wien und Präsidentin der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft, kommen sie infrage, wenn Standard-Medikamente nicht wirksam oder kontraindiziert sind. Für Dr. Lind liegt der Vorteil der CGRP-Antikörper da-

Nichtmedikamentöse Empfehlungen Da es sich bei der Migräne um eine Erkrankung mit multifaktoriellen Ursachen handelt und beispielsweise psychischer Stress oder hormonelle Schwankungen einen Trigger darstellen können, dürfen nichtmedikamentöse und Lebensstilmaßnahmen als Beitrag für die Migräneprophylaxe nicht unterschätzt werden. „Entspannungstechniken, ausreichend Schlaf und regelmäßiger Ausdauersport sind wirkungsvolle Interventionen zur Stressbewältigung“, weiß Dr. Lind. Das Potenzial solcher Maßnahmen schöpfen viele Betroffene jedoch nicht aus. Für „Migränediäten“ hingegen fehlt Dr. Lind zufolge bislang jeder wissenschaftliche Nachweis. Vielmehr bestehe bei längerer Nahrungskarenz die Gefahr einer Verschlechterung der Beschwerden, da der Hirnstoffwechsel von Migränepatienten besonders viel Energie brauche, speziell in der Früh. „Damit ist etwa Intervallfasten bei Migräne kontraproduktiv. Zu empfehlen sind regelmäßige, in kürzeren Abständen über den Tag verteilte Mahlzeiten sowie ausreichend Flüssigkeit.“ Anna Schuster, BSc * Pressegespräch „Migräne: Vielversprechende Möglichkeiten der medikamentösen Vorbeugung – Chancen und Grenzen von Lebensstilmaßnahmen“ am 18.11.2021, Verlagshaus der Ärzte (VdÄ), Wien. 1 gelbe-liste.de/wirkstoffgruppen/cgrp – Stand: 10.03.2022.



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Immer besser (individuell) behandelbar

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Zystische Fibrose: Von der symptomatischen hin zur kausalen Therapie – ein Update

Jährlich kommen in Österreich etwa 25 Kinder mit Mukoviszidose (Zystische Fibrose, CF) zur Welt. Es handelt sich somit um eine häufig vererbte Stoffwechselerkrankung – auch wenn diese in der Medizin als „seltene Erkrankung“ geführt wird. Mittlerweile hat sich die Lebenserwartung dank einer frühen Diagnose und neuer Therapiemöglichkeiten deutlich erhöht. Die frühe Krankheitserkennung ist unter anderem auf die Einführung des Neugeborenenscreenings mit dem flächendeckenden Früherkennungstest auf CF im Jahr 1998 zurückzuführen. Mit der steigenden Lebenserwartung nehmen jedoch Herausforderungen wie die hohe Alltagsbelastung für Betroffene und Angehörige oder der Bedarf an speziellen Betreuungsangeboten für Erwachsene zu.

Organe können deshalb nicht mehr richtig arbeiten und werden dauerhaft geschädigt.1 Beispielsweise können sich durch den Sekretstau in der Lunge Bakterien und Pilze ansiedeln und schwere rezidivierende Pneumonien auslösen. Die Symptome können vielfältig sein und neben der Lunge unter anderem die Bauchspeicheldrüse, das Verdauungssystem oder die Leber betreffen. Mit zunehmendem Alter treten weitere Beschwerden auf: Ältere Betroffene leiden vermehrt an Diabetes – auch Typ-3Diabetes oder Cystic-Fibrosis-RelatedDiabetes (CFRD) genannt. Zu möglichen Folgeerkrankungen zählen zudem Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit sowie Veränderungen des Knochensystems wie Osteoporose und Arthritis.

Leben mit Mukoviszidose

Das Therapieziel bei Mukoviszidose besteht in der Verbesserung der Lebensqualität und -erwartung. Dabei ist die Stabilisierung der Lungenfunktion und des Körpergewichtes hervorzuheben. Weil die Symptome sehr unterschiedlich sein können, richtet sich die Behandlung insgesamt nach dem Beschwerdebild.2

Menschen mit Mukoviszidose weisen einen beeinträchtigten Wasser- und Salzhaushalt der Schleimhäute auf. Aufgrund einer gestörten oder fehlenden CysticFibrosis-Transmembrane-ConductanceRegulator(CFTR)-Funktion werden die Körpersekrete zäh, lebenswichtige

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Neue Behandlungsmöglichkeiten

Des Weiteren gibt es einen kausalen Behandlungsansatz mit CFTR-Modulatoren, der jedoch nicht für alle Patienten in Frage kommt. Die Therapie mit CFTRModulatoren erfordert die Berücksichtigung der Vielzahl von Sequenzvariationen im CFTR-Gen. Es sind diverse Patientenkollektive mit verschiedenen Komorbiditäten betroffen – mit Unterschieden im Alter und der Ausprägung der Krankheit. Daraus resultiert eine hohe Komplexität bzw. Multidimensionalität. Um dieser zu begegnen, ist eine Living Guideline für die CFTR-Modulatortherapie bei Mukoviszidose geplant, welche voraussichtlich Ende 2024 fertiggestellt wird und eine Orientierung für individuelle Therapieentscheidungen geben soll.3 Eine Leitlinie zu diesem Thema ist außerdem im englischsprachigen Raum erschienen und wurde zuletzt im April 2019 auf ihre Aktualität überprüft.4 Je früher mit der Behandlung der Erbkrankheit begonnen wird, desto größer sind die Chancen, Folgeerkrankungen wie irreversible Lungenschäden und weitere Organmanifestationen zu verzögern sowie insgesamt die Prognose der Betroffenen zu verbessern. Aus diesem Grund nimmt die Therapie ab den ersten Lebensjahren einen hohen Stellenwert ein. CFTR-Modulatoren können bereits im Kindesalter zum Einsatz kommen, beispielsweise erhielt erst im Jänner ein Medikament die pädiatrische Zulassungserweiterung zur Behandlung von CF-Kindern mit mindestens einer F508del-Mutation ab sechs Jahren. F508del zählt zu den häufigsten Mutationen bei Zystischer Fibrose – mittlerweile sind über 2.000 Mutationen des CFTR-Gens bekannt, von denen etwa 350 krankheitsverursachend sind.2 Mag.a Ines Riegler, BA Quellen: 1 Cystic Fibrosis Foundation. Types Of CFTR-Mutations. Online verfügbar unter: cff.org/What-is-CF/Genetics/ Types-of-CFTR-Mutations (abgerufen am 30.3.22). 2 AMBOSS: Zystische Fibrose. Stand: 03/2022. 3 AWMF: awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ ll/020-026.html 4 Ren CL et al., Ann Am Thorac Soc. 2018 Mar;15(3):271280. doi: 10.1513/AnnalsATS.201707-539OT. PMID: 29342367.



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Vielfältige Coronaprophylaxe

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Neue Türen öffnen sich bei Impfstoffen und Medikamenten

Die Entwicklung von COVID-19-Arzneimitteln – unter Berücksichtigung der neuen Virusvarianten – läuft auf Hochtouren. Doch nur ein geringer Prozentsatz erhält die Zulassung: Bei den COVID19-Impfstoffkandidaten waren das bisher 33 von 554 (5,9 %) und bei allen potenziellen Therapien 32 von 1.708 (1,9 %): Einen Überblick über den Status quo gaben Expertinnen und Experten zuletzt bei einem virtuellen Pressegespräch des Österreichischen Verbandes der Impfstoffhersteller (ÖVIH)* Mitte März. Hervorzuheben sind unter den Neuzugängen etwa das Vakzin von Novavax – welches mittlerweile eingesetzt wird – und ein weiteres von Valneva – mit voraussichtlicher Zulassung im April. Eine Novität ist darüber hinaus ein ProphylaxeMedikament mit den Wirkstoffen Tixagevimab und Cilgavimab, welches eine zusätzliche Option für besonders vulnerable Personen darstellt.

Impfstoffversorgung in der EU In der Europäischen Union sind derzeit mRNA-, adenovirale Vektor- und Protein-Untereinheiten-Vakzine zugelassen. In absehbarer Zukunft kann zudem mit dem Ganzvirus-Impfstoff von Valneva sowie mit der Zulassung eines neuen Protein-Subunit-Impfstoffes von Sanofi-GSK gerechnet werden. Alle in

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Europa und in den USA zugelassenen COVID-19-Vakzine wurden Dr. Otfried Kistner zufolge global unter gleichen Bedingungen getestet – mit ähnlichen Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten. Der unabhängige internationale Impfstoffexperte betonte, dass jede Technologie ihre Berechtigung habe: „Unter den derzeit verfügbaren Impfstoffen ist somit keiner ein ‚idealer‘ Impfstoff für alle Bevölkerungsgruppen, jeder einzelne ist wichtig und notwendig und bei leicht unterschiedlichen Personengruppen einsetzbar.“ Erfreulich ist nicht nur das breiter werdende Angebot, sondern auch die zunehmende Verfügbarkeit. Die Zeit der COVID-19-Impfstoff-Engpässe ist vorbei: „Bereits seit September 2021 werden weltweit mehr Impfstoffe gegen COVID-19 produziert als verimpft“, berichtete die Präsidentin des ÖVIH, Mag.a Renée Gallo-Daniel. Die Distribution in den sogenannten Low- und Middle-Income-Ländern werde zudem immer besser. Herausforderungen sehe man vor allem bei den fehlenden Kapazitäten mancher Gesundheitssysteme und aufgrund der Impfzögerlichkeit.

Die Technologien im Überblick Zu den bekanntesten Beispielen für Ganzvirus-Vakzine zählen solche gegen

FSME, Hepatitis A oder Tollwut. Auch bei der Entwicklung von Valneva wurde auf diese Plattform gesetzt: „Diese Technologie enthält im Gegensatz zu anderen Impfstoffen das gesamte SARS-CoV-2-Virus in abgetöteter Form. Das Immunsystem erkennt somit neben dem Spike-Protein auch noch andere Virusbestandteile“, erklärte Dr. Christoph Jandl, Head of Medical Affairs des Impfstoffherstellers Valneva. Das Virus werde bei dieser Technologie erst in Zellkulturen vermehrt und dann nach der Reinigung und Inaktivierung zusammen mit Adjuvantien verimpft, so Dr. Kistner. Die Funktionsweise von mRNA- und Vektorimpfstoffen beschrieb Impfstoffexperte Dr. Kistner hingegen wie folgt: „Bisherigen COVID-19-Impfstoffen lag das Prinzip zugrunde, dass die genetische Information eines Oberflächenproteins (des sogenannten Spike-Proteins) von SARS-CoV-2 in den Muskel injiziert wird und die Muskelgewebezellen das Protein in der Folge selbst herstellen. Dieses wird dann vom Körper als fremd erkannt und er beginnt mit dem Aufbau einer entsprechenden Immunabwehr.“ AKTUELL Vielversprechende Daten aus Österreich Ein neu entwickelter SARS-CoV-2-SubunitImpfstoff der MedUni Wien zeigte in präklinischen Daten, dass er gegen die bisher bekannten Varianten inklusive Omikron wirken kann. Darüber hinaus wird erwartet, dass der Impfstoff PreS-RBD bei Menschen wirkt, die bisher nicht auf Impfungen angesprochen haben – „RBD-Non-Responder“. Das Vakzin kann zusätzlich zu den vorübergehenden IgG1Antikörper-Antworten nämlich langlebige RBD-spezifische IgG4-Antikörper induzieren. Es basiert auf einem strukturell gefalteten künstlich hergestellten Protein, das aus zwei Rezeptorbindungsdomänen (RBD) des SARS-CoV-2-Virus und dem PreS-Antigen aus Hepatitis B besteht. Erste klinische Studien für die Zulassung könnte man laut MedUni Wien bei ausreichender Finanzierung noch in diesem Jahr durchführen.


Hausärzt:in pharmazeutisch Ein proteinbasiertes Subunit-Vakzin, beispielsweise Novavax, produziere das Oberflächenprotein hingegen außerhalb des menschlichen Körpers – im Falle von SARS-CoV-2 in Insektenzellkulturen. „Verimpft wird sozusagen das fertige Spike-Protein, gegen das der Körper dann nur noch Antikörper produzieren muss“, erläuterte Dr. Kistner. Allerdings sei dafür eine Kombination mit einem Adjuvans nötig, um die Immunantwort zu verstärken. Als Beispiele für bisherige Proteinuntereinheiten-Vakzine wurden Influenza-Impfungen sowie Studien mit Impfstoffkandidaten gegen das Humane Respiratorische Synzytialvirus genannt. Auch beim proteinbasierten Vakzin sei eine Anpassung an neue Virusvarianten möglich, diese nehme wegen des aufwendigen Herstellungsprozesses jedoch mehr Zeit in Anspruch.

Neues aus Forschung und Entwicklung ÖVIH-Präsidentin Gallo-Daniel unterstrich, dass die Hersteller darauf vorbereitet seien, Variantenimpfstoffe zu entwickeln. Ihr Einsatz hänge jedoch vom

Gesundheitswesen ab: „Die EMA hat jedenfalls bereits Vorgaben für ein verkürztes Zulassungsverfahren für Variantenimpfstoffe gemacht. Ihr zufolge sind keine komplett neuen Zulassungsstudien mehr erforderlich, sondern ausschließlich Daten zur Immunogenität und Sicherheit.“ In Hinblick auf die derzeitige Entwicklung bzw. Evaluierung berichtete sie unter anderem von Kombinationsimpfstoffen gegen mehrere Erreger, von neuen Impfstoff-Darreichungs- oder Verabreichungsformen (z. B. Nasenspray), außerdem von innovativen Schutzmöglichkeiten durch spezielle Kaugummis sowie von kombinierten Tests für Influenza, Erkältung und COVID-19. Die Impfstoffentwicklung betreffend lautete die Prognose von Dr. Kistner: „Generell wird man zukünftig wahrscheinlich mehr Studien zum Kreuzen unterschiedlicher Impfstofftechnologien in verschiedenen Altersgruppen sehen.“ Positive Erfahrungen habe man diesbezüglich mit der Influenza-Impfung gesammelt.

Und wenn der Impfschutz nicht ausreicht? Vor allem für Personen, die eine unzureichende Immunantwort zeigen oder für die der Impfstoff nicht empfohlen wird, sind die neuen COVID-19-Medikamente von größter Bedeutung. Mittlerweile gibt es verschiedene antivirale Optionen, die bei zeitgerechter Einnahme einen kurzfristigen Schutz bieten. Diesen vulnerablen Personen steht nun zusätzlich eine prophylaktische Antikörperkombination von Tixagevimab und Cilgavimab zur Verfügung, deren Wirkung deutlich länger – nämlich sechs bis zwölf Monate – anhalten soll. Die Zulassung des Arzneimittels wurde erst kürzlich von der EMA empfohlen.1 Betroffene erhalten hierbei schon vor einem potenziellen Kontakt mit dem Virus zwei Injektionen in den Muskel. Mag.a Ines Riegler, BA * „COVID-19-Impfung: Technologien, Varianten & Prophylaxe“ – virtuelles Pressegespräch des ÖVIH am 17. März 2022. Quelle: 1 EMA: ema.europa.eu/en/news/ema-recommendsauthorisation-covid-19-medicine-evusheld (abgerufen am 29.3.22).

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BdATagung Hausärzt:in pharmazeutisch

SAMSTAG, 11. JUNI 2022

Bildungshaus Seehof Seminarzentrum, Gramartstrasse 10, A-6020 Innsbruck

GENERATION BEST AGERS: KÖRPERLICHE VERÄNDERUNGEN IM ALTER Die ganztägige Fortbildungsveranstaltung für Arztassistent:innen Voraussichtliche Themenschwerpunkte: Veränderungen des Stoffwechsels im Laufe des Lebens Muskelabbau, gesunde Ernährung, sportliche Betätigung im Alter Vorbeugung von Demenz/Demenzaufklärung Harnwegsinfekte Die alternde Haut/Basaliome Multimorbidität – Multimedikation e-Medikation Kollektivvertragsverhandlungen GPA Anmeldung:

Tagungspartner: https://www.arztassistenz.at/

Kongressgebühr inkl. Verpflegung: Euro 65€ – für Mitglieder des BdA Euro 75€ – für Nicht-Mitglieder

Die Anzahl der BdA-Fortbildungspunkte wird noch bekannt gegeben.

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Änderungen vorbehalten


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Herausforderung Polypharmazie

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Vor allem bei älteren Menschen: Ein Medikament kommt selten allein

Medikamente sind für viele Menschen den. Aber auch unter jüngeren Personen, vor allem jenen mit psychischen (lebens-)wichtig. Müssen mehrere ArzErkrankungen, findet man Polypharmaneien gleichzeitig eingenommen werden, kann der Schuss allerdings nach ziepatienten. Polypharmazie beeinflusst nicht nur die medikamentöse Behandhinten losgehen, weil sich gewisse lung der Patienten, sondern stellt auch Medikamente miteinander nicht verein ökonomisches Problem dar. tragen. Dadurch kann es zu verschiedenen unerwünschten Interaktionen der einzelnen Wirkstoffe und folglich Vier Arzneien, zu Symptomen kommen. Bei täglicher sechs Interaktionen möglich Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten spricht die WHO von Mul„Schätzungen gehen davon aus, dass timedikation bzw. Polypharmazie oder etwa 6,5 Prozent aller stationären AufPolypharmakotherapie. Vor nahmen auf unerwünschte allem betrifft dies ältere MenArzneimittelereignisse zurückschen, da mit fortschreitenzuführen sind“, so Mag.a Martina dem Alter auch die MultimorAnditsch, Leiterin der Anbidität zunimmt. Ab dem 65. staltsapotheke am AKH Wien. Lebensjahr zählt ein Viertel „Studien zufolge sind zwischen der Bevölkerung zu den Poly30 und 70 Prozent dieser Unpharmaziepatienten. Bei den verträglichkeiten potenziell verüber 80-Jährigen ist es bereits meidbar. Von diesen mögliEXPERTIN: jeder Zweite. Bei dieser Percherweise abwendbaren EreigMag.a Martina Anditsch sonengruppe kommt hinzu, nissen werden etwa 60 Prozent Leiterin der dass die Nierenfunktion und auf unangemessene VerordAnstaltsapotheke des AKH Wien damit die Ausscheidung genungen zurückgeführt (bspw. inadäquate Dosierungen, Arzneimitwisser Arzneistoffe nachlässt. Dadurch telinteraktionen, Nichtbeachtung von können Nebenwirkungen verstärkt wer-

Kontraindikationen) – und etwa 20 Prozent auf mangelnde Therapietreue von Patienten.“ Generell gilt: Mit der Anzahl der verordneten Medikamente steigt auch das Risiko unerwünschter Wirkungen. Bei Einnahme von vier Arzneien sind sechs Interaktionen möglich. Bei zehn Medikamenten steigt das Wechselwirkungspotential auf 45. Eine Therapie mit mehreren Medikamenten ist nicht per se schlecht. Allerdings gilt es, die Balance zwischen unangemessener auf der einen Seite und einer für den Patienten relevanten Untertherapie auf der anderen Seite zu finden.

Verschreibungskaskaden vermeiden Personen mit Mehrfacherkrankungen, die zusätzlich indikationsbedingt bei mehreren Fachärzten in Behandlung sind, gehören zum hausärztlichen Alltag. Werden alle Krankheiten dieser Patienten einzeln leitliniengerecht behandelt, kann das eine unüberschaubare Fülle von Medikamenten zur >

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Hausärzt:in pharmazeutisch „Eine wesentliche Voraussetzung für bestimmter Blutdruckmittel. Selbst Folge haben. Um die aus Nebenwirkdie Bewältigung komplexer Problemladie Nahrung bzw. Getränke können ungen resultierenden Symptome zu begen bei Mehrfacherkrankungen ist hindie Wirksamkeit von Medikamenten handeln oder vor ihnen zu schützen, werreichend Zeit für die Kommunikation beeinflussen. Alkohol etwa verstärkt den weitere Medikamente verabreicht, zwischen Arzt und Patient zwecks geden Effekt von Beruhigungsmitteln, und es kommt zu regelrechten Verschreimeinsamer EntSchwarztee und Milch verringern die bungskaskaden. s c heidungs finAufnahme vieler Medikamente. Ein weiterer Grund dung. Hierzu geSo paradox es klingen mag: Polypharfür Polymedikation hören Rahmenmazie kann auch zu einer medikamenliegt in der zubedingungen, bei tösen Unterversorgung führen. Grund sätzlichen Einnahdenen die nötige dafür sind Probleme mit der Complime von OTC-PräZeit dafür gegeance der Patienten, die mit mehreren paraten, etwa Nahben ist. Es erArzneimitteln behandelt werden. Mit rungsergänzungsfordert eine verder wachsenden Anzahl der Medikamitteln. trauensvolle Atmente nimmt die Einnahmetreue nämFür den Hausarzt lich stark ab: Je mehr Arzneien eingewird die Koordimosphäre, um Thenommen werden sollten, desto weniger nation der Arzneimen wie die Lenehmen viele Patienten diese auch bensqualität und mittel zur Heraustatsächlich richtig bzw. regelmäßig ein. Lebenslänge, Zieforderung. MediMag.a Martina Anditsch Das kann zu einer Unterversorgung le und Erwartunkamente, die ein und somit zu einer Verschlechterung gen der oft älteproblematisches der Krankheit führen. Um eine optimaren und gebrechlichen Menschen anzuRisiko-Nutzen-Verhältnis haben und desle medikamentöse Therapie zu gewährsprechen“, meint die Pharmazeutin. halb nicht routinemäßig verordnet werleisten, empfiehlt Mag.a Anditsch: „Die den sollen, sind in der sogenannten PIM(potenziell inadäquate Medikamente) verordneten und von den Patienten zuAuch Eigenverantwortung bzw. in der PRISCUS-Liste (potenziell sätzlich angegebenen Arzneimittel sollgefragt inadäquate Medikation für ältere Menten regelmäßig überprüft werden. Zuschen) angeführt. Diese sollen das Madem ist es ratsam, mindestens viermal Dringend abzuraten ist von Selbstmenagement von Arzneimitteln erleichtern. jährlich Elektrolyte und Nierenfunkdikation ohne Absprache mit dem Arzt, Weitere Hilfestellungen bieten etwa der tion zu überprüfen. Einen hohen Steldenn selbst vermeintlich harmlose, frei MAI (Index Medication Appropriatelenwert haben außerdem ausführliche verkäufliche Präparate bzw. Nahrungsness) oder der „Pocket-Guide PolypharAufklärungsgespräche mit den Patienergänzungsmittel können die Wirkung mazie im Alter“ der Universität Bern. ten über mögliche Nebenwirkungen.“ von Arzneimitteln beeinflussen. Johane-Medikation, eine neue Funktion der niskraut etwa interagiert mit der Antibabypille, Blutgerinnungshemmern, elektronischen Gesundheitsakte (ELGA), Ein Beispiel aus der Praxis: Immunsuppressiva, bestimmten Anbietet zudem einen Überblick über alle tidepressiva und Cholesterinsenkern. verordneten und abgegebenen MedikaEine 72-jährige Frau wird bewusstPfefferminzöl verzögert den Abbau mente. Diese werden in der sogenannten los in ihrer Wohnung aufgefunden. Im > „e-Medikationsliste“ für ein Jahr gespeichert. Und zwar nicht nur rezeptpflichtige Arzneimittel, sondern auch im Hinblick FÜR ÄLTERE PATIENT:INNEN POTENZIELL GEFÄHRLICHE MEDIKAMENTE auf Wechselwirkungen relevante rezeptfreie Präparate. Die MedikamentenlisArzneimittel Mögliche unerwünschte Wirkungen te sollte regelmäßig überprüft werden. Gerinnungshemmende Medikamente Blutungen, Thromboembolien Eventuell gibt es zu bestimmten Arzneimitteln Alternativen, die nachweislich Orale Antidiabetika, Insulin Hypoglykämie weniger Nebenwirkungen aufweisen. Arzneien, die der Symptomkontrolle dieOpiate Stürze, Verwirrtheitszustände, gastrointestinale nen (beispielsweise Schmerzmittel), sind Nebenwirkungen, Pflegenotfälle möglicherweise bereits obsolet, weil die Beschwerden gar nicht mehr vorhanden Nichtsteroidale Antirheumatika und Magenblutungen, Hypertonie, Hyperglykämie, sind. Beim Absetzen von Medikamenten, Kortisonpräparate Nierenversagen die bereits über einen längeren Zeitraum eingenommen wurden, kann es allerdings zu unerwünschten Reaktionen kommen. Psychopharmaka, z. B. Benzodiazepine und Stürze, Verwirrtheitszustände, Abhängigkeit, Neuroleptika Pflegenotfälle Das „Ausschleichen“ sollte deshalb nur unter ärztlicher Kontrolle erfolgen.

„Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 6,5 Prozent aller stationären Aufnahmen auf unerwünschte Arzneimittelereignisse zurückzuführen sind.“

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Hausärzt:in pharmazeutisch zehn Medikamente) entlassen: ClopiSpital weist das Akutblutbild auf eine dogrel, ASS 100 Milligramm, Rivaroxamassive innere Blutung hin. Was war ban, Bisoprolol, Lisinopril, Metformin, passiert? Die Patientin war bereits seit Empagliflozin, Esomeprazol, Trazodon zwei Jahren aufgrund von Vorhofflimund Escitalopram. mern, HypertoAufgrund von nie, Diabetes und RückenschmerSchlafstörungen zen nahm die Pastabil auf sechs tientin zu Hause Medikamente einnoch Ibuprofen gestellt. Dann verein. Vier Tage schlossen sich später wird sie zwei große Gefämit Blaulicht ins ße am Herzen, die Spital gebracht: akut geöffnet und lebensbedrohlimit einem Stent che Darmbluversehen wurMag.a Martina Anditsch tung. Sechs Arzden. Damit sich neimittel ihrer diese Stents nicht Multimedikation bargen das Risiko, wieder verschließen, bekam sie zusätzeine Blutung auszulösen. In der Komlich zu ihrer bestehenden Therapie bination stieg das Risiko exponentiell zwei Medikamente zur Hemmung der an. Blutgerinnung und einen Magenschutz Fazit: Bei Patienten, die wegen Vorverschrieben. Aufgrund starker dehofflimmerns und eines Zustands pressiver Verstimmung wurde auch ein post Stenting blutgerinnungshemAntidepressivum verordnet. Nach drei mende Arzneimittel benötigen, muss Tagen stationären Aufenthalts wurde besonders bei der Auswahl zusätzlich sie mit neuer Medikation (insgesamt

„Die verordneten und von den Patienten zusätzlich angegebenen Arzneimittel sollten regelmäßig überprüft werden.“

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benötigter Schmerzmittel oder Psychopharmaka auf jene ohne Blutungsrisiko geachtet werden. Margit Koudelka

Literatur: Davies, E.C., et al., Adverse drug reactions in hospital in-patients: a prospective analysis of 3695 patientepisodes. PloS one, 2009. 4(2): p. e4439. Pirmohamed, M., et al., Adverse drug reactions as cause of admission to hospital: prospective analysis of 18 820 patients. BMJ (Clinical research ed.), 2004. 329(7456): p. 15–19. Steinman, M.A., et al., Polypharmacy and prescribing quality in older people. Journal of the American Geriatrics Society, 2006. 54(10): p. 1516–1523. Gurwitz, J.H., et al., Incidence and preventability of adverse drug events in nursing homes. The American Journal of Medicine, 2000. 109(2): p. 87–94. Gurwitz, J.H., et al., Incidence and preventability of adverse drug events among older persons in the ambulatory setting. JAMA, 2003. 289(9): p. 1107–1116. Davies EC, Green CF, Taylor S et al (2009) Adverse drug reactions in hospital in-patients: a prospective analysis of 3695 patient-episodes. PLoS One 4(2):e4439. Frohnhofen H, Michalek C, Wehling M (2011) Bewertung von Medikamenten in der Geriatrie mit der neuen FORTA-Klassifikation. Dtsch med Wochenschr 136(27):1417–1421. Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA (2010) Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUSListe. Dtsch Arztebl Int 107(31–32):543–551.


Hausärzt:in pharmazeutisch

Allergien haben immer Saison

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Über neue Ausbildungsmöglichkeiten, verpasste Behandlungsoptionen und die Angst vor Impfreaktionen

Heuer startete der Pollenflug früher als in den letzten Jahren und auch die Prognose für die nächsten Monate ist nicht sonderlich erfreulich – so die Meinung der Expertinnen und Experten bei einem Pressegespräch* Mitte März in Wien. Nach wie vor stelle zudem die Pandemie eine Hürde in puncto frühzeitiger Diagnose und Behandlung dar.

Handlungsbedarf und neue Chancen Univ.-Prof.in Dr.in Erika Jensen-Jarolim, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (ÖGAI), wies auf die Folgen von einem verzögerten Beginn einer Immuntherapie hin: „Das Asthma-Risiko wird erhöht, denn: Bleibt die allergische Entzündung unbehandelt, wandert sie in die unteren Atemwege. Für Menschen mit einer potenziell lebensbedrohlichen Insektengift-Allergie kann die Allergen-Immuntherapie sogar lebensrettend sein.“ In Österreich begegne eine zunehmende Zahl von Allergikern einem Mangel an Spezialisten, zeigte ÖGAI-Vizepräsident Univ.-Prof. DDr. Wolfram Hötzenecker, MBA, eine Problematik auf. Die positive Nachricht: „Ein Blick in die nähere Zukunft gibt Hoffnung, denn eine neue Weiterbildung soll Nachwuchs an allergologisch versierten Ärzte bringen.“ Ab dem Sommer können Fachärzte und Allgemeinmediziner mit der 18 Monate dauernden fächerübergreifenden Ausbildung „Spezialisierung in Allergologie“ beginnen. Schließlich griff Prof. Hötzenecker das Thema Corona-Impfungen auf, welches auch bei Allergikern für Verunsicherung sorgen könne. Bei der Mehrheit seien keine Allergietests vor der Injektion notwendig.1 Für Patienten, die etwa zuvor allergische Impfreaktionen gezeigt hätten, gebe es in jedem Bundesland ein Kompetenzzentrum, an das Impfärzte überweisen könnten. „Dort werden diese Patienten abgeklärt und unter erhöhten Vorsichtsmaßnahmen geimpft.“ PA/InR * Hybrides Pressegespräch „Start in die Pollensaison 2022“ der MedUni Wien und der Interessensgemeinschaft Allergenvermeidung (IGAV) am 17. März 2022 im APA-Pressezentrum Wien. Quelle: 1 Klimek L et al. Allergo J Int. 2021; 30(3): 79–95.

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Hausärzt:in pharmazeutisch

Nicht nur ein Allergen-Problem

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Ragweed stellt eine zunehmende und kostspielige Belastung dar

Ambrosia gehört zur Familie der Korbblütlergewächse und verursacht in Österreich Gesundheitsprobleme zu einem hohen Preis: Jährlich fallen rund 275 Millionen Euro für Medikamente, medizinische Leistungen, aber auch aufgrund von Fehltagen und geminderter Leistungsfähigkeit an – so lauten die Schätzungen des österreichischen Pollenwarndienstes der MedUni Wien.1 In Europa belaufen sich die durch die Adventivpflanze verursachten Gesundheitsausgaben auf etwa acht Milliarden Euro jährlich.2 Dr. Burkhard Dworan, Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde vom Allergie Zentrum Neusiedl, schätzt den Anteil von Menschen mit RagweedAllergie auf mittlerweile zehn bis 35 Prozent: „Der Neopyth hat eine lan-

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ge Saison – von August bis Oktober. Er weist zudem eine fünfmal stärkere Allergenität auf als Gräserpollen.“ Um für diesen Zeitraum gerüstet zu sein, wird Betroffenen mit starken Beschwerden empfohlen, eine Immuntherapie mindestens zwölf Wochen vorher zu beginnen. Dadurch können Allergikerinnen und Allergiker von einer reduzierten Symptomlast profitieren.3 Neben weiteren Maßnahmen wie der Allergenkarenz ist generell der Umgang mit dem „Problem Ragweed“ zu überdenken.

Die Verbreitung in Schach halten Bekanntlich sind der Klimawandel und die Zunahme von Allergien eng miteinander verflochten. Bereits 2015 prog-

nostizierte ein Forscherteam um Assoz. Prof. Mag. Dr. Franz Essl, Biodiversitätsforscher an der Universität Wien, für das Jahr 2050 eine Vervierfachung der Ragweed-Pollenbelastung in Europa.4 „In Österreich war die Pflanze noch vor ein paar Jahren fast ausschließlich im Osten zu finden“, berichtet Dr. Dworan. Umweltfaktoren wie Luftverschmutzung durch Stickstoffdioxide würden die Aggressivität der Pollen verstärken, so der Mediziner. Das sogenannte Traubenkraut blüht in Österreich von August bis September. Hinzu kommt allerdings der Ferntransport der Pollen von östlichen Nachbarländern – dort ist das Gewächs sehr verbreitet. Bis in den Oktober hinein können daher auch bei uns relevante Konzentrationen verzeichnet werden.5 Wegen der massiven Verbreitung ist


© Helmreich fotografiert

Hausärzt:in pharmazeutisch nicht nur eine Allergenkarenz für Bebestehe die Gefahr eines Etagenwechtroffene anzustreben, sondern auch gesels: „Wird die Rhinitis nicht behandelt, nerell eine Dezimierung der Pflanze.5 so führt die Erkrankung häufiger zu einem allergischen Asthma und Erste Impulse dazu liefern die Wahrscheinlichkeit, weibeispielsweise das Burgentere Allergien zu entwickeln, ländische Ragweed-Bekämpsteigt“, macht der Mediziner fungsgesetz, das mit Juli 2021 aufmerksam. Kreuzreaktioin Kraft getreten ist, sowie der nen sind mit Goldrute, SonRagweed-Finder der MedUni nenblume, Kamille, Arnika Wien. Beide verfolgen das und anderen Korbblütlern Ziel, die Ausbreitung des Neomöglich.7 phyten zu vermindern. RagEXPERTE: weed-Funde können über die In puncto Therapieoptionen Dr. Burkhard Dworan HNO-Facharzt, Webseite oder mit der dazugeverweist Dr. Dworan auf die Neusiedl am See hörigen Ragweed-Finder-App bekannten drei Säulen: Allgemeldet werden.1 Davon profitiert die ergenkarenz, symptomatische Therapie und – wenn diese beiden Optionen nicht Forschung und es wird ein Bewusstsein den gewünschten Erfolg bringen – eine für die Problematik geschaffen. Zudem spezifische Immuntherapie. Die Maswerden Meldungen an zuständige Inkenpflicht habe in Pandemiezeiten die stitutionen weitergeleitet, um Gegenpositive Wirkung, dass auch die Allermaßnahmen ergreifen zu können.1 Das genkarenz optimiert werde. Zusätzlich neue Gesetz im Burgenland verpflichtet sollten Betroffene in der Hochsaison Grundstückseigentümer dazu, die Liejedoch so wenig wie möglich ins Freie genschaft frei von Ragweed zu halten gehen: „Starke Belastungen sind vor albzw. eine Verbreitung zu verhindern.6 lem bei einsetzendem Regen, am Land In diesem Zusammenhang gilt es zu in den Morgenstunden und in der Stadt beachten: Menschen mit Allergien ist mittags und nachmittags zu erwarten.“ unbedingt davon abzuraten, selbst eine Zudem können dem Experten zufolge Entfernung von Ambrosia vorzunehAllergenfilter bei Belüftungssystemen men. Alle anderen sollten indessen Vorund Klimaanlagen – beispielsweise im sichtsmaßnahmen wie das Tragen von Auto – Erleichterung bringen. Handschuhen und Atemmasken treffen. Für die symptomatische Therapie stünInformationen zur effizienten Dezimieden antiallergische Medikamente in topirung sind im Handbuch „Praxis-Tipps scher und systemischer Form (antiallerzur Ragweed-Bekämpfung“6 zu finden. gische Nasensprays, Augentropfen und Tabletten), begleitet von Nasenspülungen Schadensbegrenzung auf (Nasendusche), zur Verfügung. Depotmedizinischer Ebene Kortikoide sollten hingegen nicht zur Anwendung kommen, betont der Facharzt. Ragweed-Pollen gelten als besonders Die dritte Säule umfasst die spezifische aggressiv, da bereits wenige PollenkörImmuntherapie, welche die einzige ner pro Kubikmeter Luft ausreichen, kausale Therapieoption allergischer Erum Symptome hervorzurufen. Außerkrankungen darstellt. „Hierbei gibt es dem produziert eine einzige Pflanze drei Anwendungsmöglichkeiten: die Tabis zu einer Milliarde hoch allergener bletten-, die Tropfen- und die SpritzenPollen.6 „Patienten mit einer nicht diakur. Alle drei Therapieformen dauern gnostizierten Ragweed-Allergie stellen drei Jahre.“ sich häufig mit Rhinitis, Konjunktivitis, Atembeschwerden und Gaumenjucken Mag.a Ines Riegler, BA Quellen: vor – seltener mit einem Globusgefühl. 1 ragweedfinder.at (abgerufen am 23.3.22). Diese Symptome treten in den Monaten 2 Schaffner U et al., Nat Commun 11, 1745 (2020). 3 pollenwarndienst.at (abgerufen am 23.3.22). von August bis Oktober auf“, berich4 Hamaoui-Laguel L et al., Nature Clim Change 5, tet der Facharzt aus Erfahrung. Zu den 766–771 (2015). 5 MedUni Wien: Ragweed Finder-App der MedUni Wien seltenen Beschwerden bei Ragweedals „Aktionsplan“ für ganz Österreich, 25.7.19. Allergikern zählen laut Dr. Dworan 6 burgenland.at/themen/natur/ragweed (siehe Downloads). Hautsymptome, allerdings nur bei di7 Bastl K & Berger M: Pollen und Allergie, Wien: Manz rektem Pflanzenkontakt. Ohne Therapie Verlag, 2021.

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SCIENTIFIC

UPDATE Unterstützt von Dr. Böhm®

WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE ZU PHYTOTHERAPIE UND MIKRONÄHRSTOFFEN

MAG. PHARM. DR. RER. NAT.

XUEHONG NÖST WISSENSCHAFTLICHE MITARBEITERIN APOMEDICA

Olivenblätter (Oleae folium)

Die umfassende Wirkung der antiken Heilpflanze auf das Herz-Kreislauf-System

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Die Blätter des Olivenbaums sind bereits seit der Antike als Heilmittel bekannt. Volksmedizinisch finden sie bei Bluthochdruck, Arteriosklerose oder Diabetes Einsatz. Klinische Studien belegen ihre antihypertensive Wirkung: Im direkten Vergleich zeigten 1000 mg Olivenblatt-Extrakt einen vergleichbaren blutdrucksenkenden Effekt wie der ACE-Hemmer Captopril bei Hypertonie Grad I. Zusätzlich bewirkten Olivenblatt-Extrakte eine Regulierung der Blutlipide und Glucose-Homöostase. Die enthaltenen Polyphenole sind potente Antioxidantien. Aufgrund dieses Wirkspektrums sind sie gerade für PatientInnen mit beginnender, milder Hypertonie und metabolischem Syndrom eine sinnvolle Unterstützung für ein gesundes Herz-Kreislauf-System. Der Olivenbaum oder Ölbaum (Olea europaea L.) ist eines der wichtigsten und ältesten Gewächse im orientalischen und europäischen Raum. Bereits in der Antike wurde er nicht nur als Nahrungsquelle, sondern auch als Schönheitsund Heilmittel geschätzt. Die gezielte Kultivierung diente vor allem zur Gewinnung des Olivenöls aus den Früchten. Als Arzneipflanze spielte der Olivenbaum vor allem im Mittelmeerraum eine große Rolle. Teezubereitungen aus seinen Blättern wurden traditionell zur Behandlung von Fieber, Bluthochdruck, Gicht, Arteriosklerose, Rheuma oder Diabetes eingesetzt.1

Inhaltsstoffe Neben der Ölsäure (Omega-9-Fettsäure) enthält der Olivenbaum eine Reihe phenolischer Verbindungen, die sogenann-

ten Olivenpolyphenole. Dazu gehören Hydroxytyrosol und Tyrosol, sowie die Secoiridoide Oleuropein, Oleocanthal und Ligustrosid. Bei der Trocknung der Blätter entsteht zudem Oleacein. Dane-

HO O

HO OH

O

O

COOCH3

COOCH3

Glucose

O

Oleuropein

OH

HO

O

OH

O

OH

CH2OH

O

OH OH

Hydroxytyrosol

OH

Abb.1: Natürlicher Abbau von Oleuropein zu Hydroxytyrosol.

Elenolsäure


Das Secoiridoidglycosid Oleuropein ist der Hauptinhaltsstoff der Olivenblätter. Nach Abspaltung der Glucose durch β-Glucosidasen wird das OleuropeinAglykon weiter zu Hydroxytyrosol und Elenolsäure hydrolysiert (Abb.1). Diese Reaktion tritt im Rahmen des natürlichen Reifeprozesses der Früchte auf, weshalb der Oleuropeingehalt in den reifen Oliven nur mehr gering ist. In den Blättern hingegen findet man hö-

here Mengen an Oleuropein.3 Entsprechend ist auch der Polyphenolgehalt im Olivenöl niedriger als im Blattextrakt. Gehaltsbestimmungen zeigten, dass virgines Olivenöl etwa 0,15-0,4 g/kg Gesamtpolyphenole enthält. Im Vergleich dazu können qualitativ hochwertige Olivenblatt-Extrakte bis zu 250 g Polyphenole pro Kilogramm aufweisen.4,5

Olivenpolyphenole und ihre Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System Die Olivenpolyphenole zeigen sowohl in vitro als auch in vivo antioxidative,

140 135 130 125

**

120 Woche 0 Woche 1 Woche 2 Woche 4 Woche 6 Woche 8

Diastolischer Blutdruck unter 1000 mg Olivenblatt-Extrakt täglich Diastolischer Blutdruck (mm Hg)

Systolischer Blutdruck (mm Hg)

Systolischer Blutdruck unter 1000 mg Olivenblatt-Extrakt täglich

entzündungshemmende, blutdrucksenkende und antiatherogene Wirkungen. Aufgrund ihrer chemischen Struktur sind Oleuropein und Hydroxytyrosol potente Radikalfänger. Durch Chelatierung von freien Kupfer- oder Eisenionen verhindern sie die Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) und hemmen die Lipidperoxidation. Beide Substanzen sind in der Lage, die Oxidation von LDL-Cholesterin zu hemmen.6,7 Benavides et al. zeigten darüber hinaus, dass die antioxidative Aktivität des Olivenblatt-Extraktes stärker ist als jene der aus den Blättern isolierten Einzelsubstanzen. Dies lässt darauf schlie-

84 79

*

74 69 64 Woche 0 Woche 1 Woche 2 Woche 4 Woche 6 Woche 8

Abb. 2: Signifikante Senkung des systolischen und diastolischen Blutdrucks mit 1000 mg Olivenblatt-Extrakt im Verlauf von 8 Wochen (** p < 0,01; * p < 0,2).12

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ben wurden auch Flavonoide wie Luteolin, Luteolin-7-O-glucosid, Apigenin, Apigenin-7-O-rutosid und Rutin in der Literatur beschrieben.2


Senkung des systolischen Blutdrucks unter Olivenblatt-Extrakt und Captopril 0

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In einer Studie nahmen 40 monozygoten Zwillingen mit suboptimalem Blutdruck (bis 139/89 mmHg) teil. Die Studie wurde als zwei parallel ablaufende Experimente konzipiert. Im Experiment I bekam ein Zwilling 500 mg Olivenblatt-Extrakt täglich, während der zweite Zwilling keine Intervention erhielt. Experiment II stellte den Effekt von täglich 500 mg Olivenblatt-Extrakt dem einer 1000 mg Dosierung gegenüber. Im Gegensatz zur Gruppe ohne Intervention konnte nach 8 Wochen bei beiden Dosierungen eine blutdrucksenkende Wirkung festgestellt werden, wobei Experiment II zeigte, dass die höhere Dosis einen stärkeren Effekt erzielt.

3

Behandlungswoche 4

5

6

7

8

7

8

-2 -4 -6 *

-8 -10 -12 -14

* Olivenblatt-Extrakt

Captopril

Senkung des diastolischen Blutdrucks unter Olivenblatt-Extrakt und Captopril 0

1

2

3

Behandlungswoche 4

5

6

1 Blutdrucksenkung (mmHg)

Der standardisierte Olivenblatt-Extrakt EFLA® 943 (entsprechend 20 % Oleuropein) zeigte in zwei Studien eine signifikante antihypertonische Wirkung und darüber hinaus eine positive Beeinflussung des Lipidprofils der StudienteilnehmerInnen.

2

-16

Die genauen Mechanismen der blutdrucksenkenden Wirkung in vivo sind noch nicht abschließend geklärt. Als mögliche Wege werden in diversen Studien die Hemmung des Angiotensin-Converting-Enzyms (ACE), die Blockade von Ca2+-Kanälen, die Wiederherstellung der endothelialen Funktion, die direkte Vasodilatation oder auch die Radikalfängerwirkung diskutiert.11

Olivenblatt-Extrakt senkt Blutdruck und Blutfettwerte

1

0 Blutdrucksenkung (mmHg)

ßen, dass im Blattextrakt synergistische Wirkungen zum Tragen kommen.8 Oleuropein ist außerdem ein Inhibitor der Lipoxygenase und vermindert damit die Freisetzung verschiedener Entzündungsmediatoren.9 Hydroxytyrosol inhibiert pro-inflammatorische Kaskaden wie die induzierbare NO-Synthase (iNOS), die Cyclooxygenase-2 sowie die Expression von TNF-α und IL-1β.10 Des Weiteren wurde gezeigt, dass Hydroxytyrosol über eine Aktivierung der endothelialen NO-Synthase (eNOS) die NO-Produktion in den Gefäßen erhöht und somit vasodilatierend wirkt.6

0 -1 -2 -3 -4 -5 -6 -7 Olivenblatt-Extrakt

Captopril

Abb. 3: Die Senkung des milden Bluthochdrucks (Hypertonie Grad I) ist mit 1000 mg OlivenblattExtrakt ist vergleichbar wie mit 25 mg Captopril (* p < 0,05).11

Hier kam es zu einer signifikanten Senkung des Blutdrucks um durchschnittlich 11/4 mmHg (systolisch/diastolisch, Abb. 2).12 Eine doppelblinde, randomisierte Studie belegte für 1000 mg OlivenblattExtrakt EFLA® 943 (entsprechend 200 mg Oleuropein) eine vergleichbare blutdrucksenkende Wirkung wie 25 mg Captopril. Insgesamt 232 Personen mit mildem Bluthochdruck (Hypertonie Grad I) nahmen an der Studie teil.

Nach 8 Wochen führte der OlivenblattExtrakt zu einer Reduktion des systolischen Blutdrucks um 11,5 ± 8,5 mmHg (verglichen mit 13,7 ± 7,6 mmHg unter Captopril) und des diastolischen Blutdrucks um 4,8 ± 5,5 mmHg (6,4 ± 5,2 mmHg unter Captopril). Weiters kam es in der Olivenblattgruppe zu einer Verbesserung des Lipidprofils. Hier wurde, im Vergleich zur Captoprilgruppe, eine signifikante Minderung von Gesamtund LDL-Cholesterin sowie der Triglyceride festgestellt (Abb. 3 und 4).13


Gesamtcholesterin

LDL-Cholesterin

8

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Triglyceride 8

0

3

0

0

2

-2

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1 0 -1 -2 -3 -4 -5

Olivenblatt-Extrakt

*

Reduktion/Erhöhung (mg/dl)

1 Reduktion/Erhöhung (mg/dl)

Reduktion/Erhöhung (mg/dl)

0

Behandlungswoche 4

Behandlungswoche 4

8

-4 -6 -8 -10 -12 -14

Captopril

Abb. 4: Verbesserung des Lipidprofils durch Olivenblatt-Extrakt im Vergleich zu Captopril (* p < 0,05).13

Die moderne Lebensweise begünstigt vermehrt das Auftreten typischer Wohlstandskrankheiten. Neben erhöhtem Blutdruck spielt auch ein gestörter Glucosestoffwechsel eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung von kardiovaskulären Erkrankungen. Auch hier zeigten die Inhaltsstoffe des Olivenblatts einen Nutzen. In einer doppelblinden, randomisierten CrossOver-Studie erhielten 46 übergewichtige Männer (BMI 25-30 kg/m2) täglich einen standardisierten Olivenblatt-Extrakt (entsprechend 51,1 mg Oleuropein und 9,7 mg Hydroxytyrosol) oder ein Placebo. Nach 12 Wochen war die Insulinsensitivität in der Olivenblatt-Extraktgruppe im Vergleich zu Placebo um 15 % erhöht (p = 0,024). Zudem wurde die Funktion der β-Zellen des Pankreas

um 28 % verbessert (p = 0,013). Im oralen Glucosetoleranztest (OGTT) wurden Glucose- und Insulinspiegel nach 0, 30, 60, 90 und 120 Minuten gemessen. Die Areas under the Curve (AUC) in der Olivenblatt-Extraktgruppe waren für beide Parameter um jeweils 6 % und 10 % niedriger als unter Placebo.14

Anwendung Als Arzneidroge dienen die getrockneten Blätter des Olivenbaums (Oleae folium). Das Europäische Arzneibuch fordert einen Mindestgehalt von 5 % Oleuropein in der Droge.15 Während die Monografie der HMPC Olivenblätter als traditionelles Arzneimittel zur Förderung der renalen Wasserausscheidung beschreibt,16 so ist durch neuere Studien auch ihr blutdrucksenkender Effekt umfassend belegt und damit die volksmedizinische Anwendung als Antihypertonikum auch aus wissenschaftlicher Sicht plausibel.

Fazit Olivenpolyphenole sind starke Antioxidantien und wirken schützend auf das Herz-Kreislauf-System. Klinische Studien belegen ihre positiven Effekte auf Blutdruck, Lipidprofil und Blutzucker. Extrakte aus Olivenblättern wirken blutdrucksenkend bei beginnender, milder Hypertonie und haben zudem einen regulierenden Effekt auf das Lipidprofil. Auch PatientInnen mit Insulinresistenz profitieren von deren Wirkung, da sie die Funktion der βZellen des Pankreas verbessern und die Insulinsensitivität erhöhen. Olivenblatt-Extrakte sind damit eine sinnvolle Unterstützung für Personen mit leichter Hypertonie einhergehend mit weiteren Risikofaktoren wie Dyslipidämie oder gestörtem Kohlenhydratstoffwechsel (bspw. beim metabolischen Syndrom).

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Hausärzt:in pharmazeutisch

Wenn die CerumenBarriere durchlässig wird © shutterstock.com/Andrey_Popov

Badeotitis vorbeugen und behandeln

Eine der häufigsten HNO-Erkrankungen in der warmen Jahreszeit bei Kindern sowie Erwachsenen ist die Badeotitis. Diese Form der Otitis externa tritt vorwiegend nach dem Schwimmen oder Tauchen auf und ist meist – in etwa 90 Prozent der Fälle – bakterieller Ursache. Die häufigsten Verursacher sind Pseudomonas aeruginosa und Staphylococcus aureus. Für gewöhnlich verfügt das Ohr durch das Cerumen über einen guten Selbstschutz. Das Ohrenschmalz bildet einen wasserabweisenden Schutzmantel, der das Bakterienwachstum effizient drosselt. Langes Baden – vor allem in Chlor- oder Meerwasser – kann die empfindliche Haut im Gehörgang jedoch stark austrocknen und den Schutzfilm schädigen. Durch so entstandene Mikrorisse können Krankheitskeime weiter in das Ohr vordringen, wo sie im feucht-warmen Milieu ideale Wachstumsbedingungen vorfinden. Meist handelt es sich bei der Badeotitis um eine banale, aber äußerst unangenehme Infektion. Starker Juckreiz, Berührungsempfindlichkeit der Ohrmuschel und Schmerzen sind typische Anzeichen. Mitunter kommt es auch zu Otorrhoe. Um derartigen Beschwerden vorzubeugen, kann man den Patienten bzw. Klienten raten, das Ohr nach dem Baden – mit einem Handtuch oder durch Hüpfen auf einem Bein mit zur Seite gelegtem Kopf – gut zu trocknen. Wattestäbchen sind keine gute Option, da sie die empfindliche Haut in den Ohren zusätzlich verletzen können. Bei bekannter Neigung zu Ohrenentzündungen empfehlen sich sogenannte Tauchertropfen. Deren Inhaltsstoffe, etwa Essigsäure, Isopropanol oder Dexpanthenol, wirken dehydrierend und schaffen ein saures, antiseptisches Milieu, was das Bakterienwachstum hemmt. Tritt dennoch eine Badeotitis auf, ist eine (fach-)ärztliche Behandlung nötig. Der Gehörgang muss gründlich gereinigt werden. Gegen die Schmerzen kommen adäquate Analgetika wie Paracetamol oder Ibuprofen zum Einsatz. Zusätzlich können eine lokale antimikrobielle Therapie (Ciprofloxacin, Neomycin) sowie die Gabe von topischen Steroiden wegen ihrer abschwellenden Eigenschaften indiziert sein. Bis zum Abheilen der Entzündung – in der Regel nach etwa sieben bis zehn Tagen – sind die Ohren trocken zu halten. Margit Koudelka

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Hausärzt:in pharmazeutisch

Hilfe für gereizte Harnwege …

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… unter Berücksichtigung von Resistenzsituation und Patient:innenwünschen

Harnwegsinfekte (HWI) zählen zu den häufigsten Gründen, warum allgemeinmedizinische Praxen aufgesucht werden.1 Vornehmlich betroffen ist das weibliche Geschlecht: Laut einer britischen Erhebung haben 37 % der Frauen zumindest einmal in ihrem Leben einen HWI, fast 80 % jener Gruppe litten bereits mehrmals darunter. Die jährliche Inzidenz beträgt bis zu 11 %.2 Die Dunkelziffer muss allerdings höher angesetzt werden, da unkomplizierte HWI häufig einen selbstlimitierenden Verlauf haben bzw. eine Selbstmedikation mit bereits zuvor verschriebenen Medikamenten erfolgt.1 In der besagten Erhebung kam es in 65 % der Fälle zu einem Kontakt mit einem (Haus-)Arzt oder einer (Haus-)Ärztin.2 Anhand der jeweils typischen Symptome kann unterschieden werden zwischen … • … einer Zystitis, die mit Schmerzen beim Wasserlassen, Pollakisurie, imperativem Harndrang und Schmerzen oberhalb der Symphyse einhergeht, und … • … einer Pyelonephritis, wenn die Symptome auch Flankenschmerz, ein klopfschmerzhaftes Nierenlager und/ oder Fieber umfassen. Die Beschwerden können gemeinsam mit jenen der Zystitis auftreten oder auf sie folgen.3

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Augenmerk auf Komplikationen Für die Therapieentscheidung ist besonders relevant, ob es sich um einen unkomplizierten oder um einen komplizierten HWI handelt. Ein HWI gilt dann als unkompliziert, wenn keine funktionellen oder anatomischen Anomalien im Harntrakt vorliegen und es keine relevanten Nierenfunktionsstörungen bzw. Vor- und Begleiterkrankungen gibt, welche den Verlauf ungünstig beeinflussen könnten. Die in der Infobox gesammelten Faktoren erfordern das Augenmerk des oder der Behandelnden, ihr Vorliegen muss allerdings nicht zwangsläufig einen schweren Verlauf zur Folge haben. Als Differentialdiagnosen sind Harnröhreninfektionen, gynäkologische Infektionen bzw. eine Prostatitis in Betracht zu ziehen.3

Diagnostisches Vorgehen bei unkompliziertem HWI Bei Verdacht auf einen unkomplizierten HWI mit typischer Anamnese inkl. des Ausschlusses von pathologischem Fluor vaginalis empfiehlt sich die Anwendung eines Harnstreifentests. Folgende Ergebnisse können den Verdacht erhärten bzw. abschwächen:3 • Nitrit positiv, Leukozyten-Esterase positiv / Nitrit positiv, Leukozyten-

Esterase negativ / Leukozyten-Esterase positiv, Blut positiv: HWI sehr wahrscheinlich, keine weitere Diagnostik nötig. • Nitrit negativ, Leukozyten-Esterase positiv: HWI wahrscheinlich. • Nitrit negativ, Leukozyten-Esterase negativ: HWI weniger wahrscheinlich. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Bakterien Nitrat zu Nitrit reduzieren – der Test erfasst einige Pseudomonaden, Enterokokken und Staphylokokken nicht. Außerdem muss eine bestimmte Bakterienkonzentration gegeben sein, damit das Testfeld positiv wird. Eine Verweilzeit des Urins in der Blase von > 4 Stunden begünstigt den Nachweis.3

Partizipative Entscheidungsfindung Obwohl die Leitlinie in Bezug auf HWI nach wie vor Antibiotika bei akuter unkomplizierter Zystitis empfiehlt, unterstreicht sie, dass die Indikation einer Antibiotikatherapie kritisch gestellt werden sollte. Nur so können Ärztinnen und Ärzte unnötige Therapien vermeiden und die Entwicklung von Resistenzen vermindern.3 Laut Daten des Robert-Koch-Instituts sind knapp 48 % der getesteten E.-coli-Stämme gegen Ampicillin resistent, 28,9 % gegen


Hausärzt:in pharmazeutisch Amoxicillin/Clavulansäure und 22,6 % gegen Cotrimoxazol. Gegen Fosfomycin und Nitrofurantoin gibt es hingegen (noch) kaum Resistenzen.4 Außerdem müssen die Präferenzen der Patientinnen und Patienten bei der Therapieentscheidung unbedingt berücksichtigt werden. Berichten sie von leichten bis mittelgradigen Beschwerden, kann eine alleinige symptomatische Therapie als Alternative zur antibiotischen Behandlung angeboten werden.3 Verglichen mit einer sofortigen antibiotischen Behandlung, waren bei symptomatischer Behandlung mit Ibuprofen nach einer Woche 70 % der betroffenen Frauen beschwerdefrei, bei Antibiotikagabe waren es 80 %.5

Erprobte pflanzliche Wirkstoffe Insbesondere bei unkomplizierten rezidivierenden Zystitiden wünschen sich Betroffene oftmals sanftere therapeutische Alternativen aus dem Pflanzenreich. Nicht zuletzt zieht bei ca. 10–30 % der Frauen eine Antibiotikaeinnahme eine Scheidenpilzinfektion nach sich.6 Nachfolgend sollen einige pflanzliche Wirkstoffe vorgestellt werden, deren Einsatz sich bei Personen mit HWI bewährt hat. Natürlich können diese auch ergänzend zu Antibiotika eingesetzt werden.7 KOMPLIZIERTER HARNWEGSINFEKT1,3 Folgende Kriterien definieren einen komplizierten HWI bzw. gelten als Risikofaktoren für einen solchen: � alle HWI bei Kindern, Schwangeren und Männern � funktionelle Besonderheiten, z. B. Niereninsuffizienz � angeborene oder erworbene anatomische Veränderungen, z. B. Ureterabgangsstenose, Nierensteine, Zustand nach OP � Immunsuppression bzw. Störungen der Immunität, z. B. HIV, schlecht eingestellter Diabetes � innerhalb der letzten zwei Wochen: - Anlage eines Harnkatheters - Entlassung aus Krankenhaus oder Pflegeheim - Antibiotikatherapie

Bärentraubenblätter: Sie gehören zu den Harnwegsdesinfizientien. Allerdings sollten sie nur maximal einmal pro Monat zur Anwendung kommen.7 Die Toxizität gegenüber den bakteriellen Erregern entsteht durch das Zellgift Hydrochinon, das womöglich auch auf den Menschen mutagen wirken könnte, weswegen die Einnahmedauer kurz gehalten werden sollte.8 Birkenblätter: Sie wirken sowohl harntreibend als auch antientzündlich.7 Das Anwendungsgebiet umfasst daher die Durchspülung der Harnwege, insbesondere bei Harnwegsentzündungen und Nierengrieß, außerdem unterstützend bei bakteriellen HWI.9 Brennnesselblätter: Ihr Wirkspektrum ähnelt jenem der Birkenblätter.7 Sie werden traditionell zur innerlichen Anwendung mit dem Ziel der Durchspülung des Harntraktes eingesetzt.10 Cranberrys: Diese können als Stimulator der angeborenen Immunabwehr angesehen werden und hemmen die Adhäsion von E. coli an die Wirtszelle. Häufig unterliegen die Präparate allerdings dem Lebensmittelrecht. Man muss eine möglichst hohe Dosierung wählen, um eine Wirkung zu erzielen.8 Goldrutenkraut: Es fördert bei gleichzeitigem Konsum von ausreichend Flüssigkeit die renale Ausscheidung und wirkt darüber hinaus antiinflammatorisch.7 Auch eine analgetische Wirkung konnte in Versuchen gezeigt werden.8 Kapuzinerkressenkraut und Meerrettichwurzel: Beide wirken desinfizierend auf den Harntrakt.7 Die in ihnen enthaltenen Senfölglykoside wirken stark antibakteriell und in einem geringeren Maß antientzündlich.8 Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc Quellen: 1 Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V., S3-Leitlinie: Brennen beim Wasserlassen, Stand: 07/2018. 2 Butler CC et al., Br J Gen Pract 2015; 65(639): e702-7. 3 Deutsche Gesellschaft für Urologie et al., Interdisziplinäre S3-Leitlinie: Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten, Stand: 04/2017. 4 RKI, zitiert nach: Deutsche Gesellschaft für Urologie et al., 04/2017. 5 Gágyor I et al., BMJ 2015; 351: h6544. 6 Shukla A & Sobel JD, Current Infectious Disease Reports 2019; 21: 44. 7 Springer-Verlag Berlin Heidelberg, Pflanzliche Hilfe bei Harnwegsinfekten. CME 2017; 14: 38. 8 Hensell A, Phytotherapie.at 2020, 14(2): 6-8. 9 Kooperation Phytopharmaka, Arzneipflanzenlexikon: Birke, abgerufen am 31.03.2022. 10 Länger R, Phytotherapie.at 2020, 14(2): 12-13.

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Anleitung zum Diätwahnsinn Zahlreiche Patient:innen auf dem Weg

© unsplash.com/Diana Polekhina

zur Traumfigur – und wieder zurück

Die Corona-Pandemie hat nicht nur an den Nerven gezehrt, sondern sich auch auf die Hüften gelegt. Im Schnitt sind bei 34 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher bis zu sechs Kilogramm Körpergewicht hinzugekommen; bei den Kindern waren es mehr als viereinhalb Kilogramm binnen eines halben Jahres, wie das Österreichische Institut für Ernährungsmedizin nüchtern berechnet. Dabei hat fast die Hälfte der Bevölkerung versucht, im Lockdown abzunehmen. Eine deutliche Kluft also zwischen Wunsch und Realität, die sich in der Krise noch einmal etwas deutlicher zeigt.

Mäßig einfühlsame Mediziner:innen

OB ENTSPANNT AM WEISSEN STRAND… ACCU-CHEK INSTANT Für alle, die einfach nur messen wollen. ACCU-CHEK HAT DAS PASSENDE BLUTZUCKERMESSGERÄT Bitte beachten Sie, dass es sich bei den hier angeführten Produkten um Medizinprodukte zur Anwendung für Patienten handelt. Vor Gebrauch dieser Produkte muss die Gebrauchsinformation beachtet und ärztlicher Rat eingeholt werden.

ACCU-CHEK, ACCU-CHEK INSTANT und MYSUGR sind Marken von Roche. Alle weiteren Produktnamen und Marken gehören den entsprechenden Eigentümern. © 2022 Roche Diabetes Care | www.accu-chek.at | Roche Diabetes Care Austria GmbH | 1210 Wien | Engelhorngasse 3

In der Hausarztpraxis ist die Adipositas ein gewichtiges Argument für den wohlmeinenden Rat, abzuspecken. Und tatsächlich hat dieser Rat der Hausärztinnen und Hausärzte, sich mit dem eigenen Gewicht zu befassen, Gewicht. Es ist evident, dass man diesbezüglich der Medizin mehr vertraut als Lebenspartnern, Nachbarn oder dem Blick in den Spiegel. Allerdings beklagen viele Patientinnen und Patienten die mangelnde Sensibilität. In einer 2021 publizierten Studie zeigte sich in qualifizierten Interviews eine gewisse Unzufriedenheit mit der hausärztlichen Betreuung. Lapidare Äußerungen zur Körperfülle und das Abfertigen mit vorgefertigten Platituden und Broschüren statt einer ernst gemeinten Beratung dürften keine Ausnahme sein. Entsprechend gering ist auch die Erfolgsrate derartiger Gespräche.

Menschliches Verlangen nach Erfolgserlebnissen Das organisierte Abspecken ist meist der Anfang vom dicken Ende. Allen Diäten ist zudem gemein, dass sie die


Anwender meist unglücklicher machen, vor allem, wenn Wörter wie „Crash“, „Null“ oder „Rhizinusöl“ davorstehen. Bevor die Ernährungsexperten solche Blitzdiäten, die sowieso von jedermann und jederfrau ausprobiert werden – übrigens auch von den Ernährungsexperten selbst –, jedoch kategorisch verteufeln, sollten sie vielleicht versuchen, das menschliche Verlangen nach Erfolgserlebnissen zu akzeptieren. Schließlich kann die erste Crashdiät durchaus eine Einstiegsdroge für ein gesünderes und schlankeres Leben sein. Oder für eine Essstörung.

Spirale zunehmender Verzweiflung Die meisten Diäten reduzieren die aufgenommene Kalorienmenge. Zwar gibt es mancherorts die Empfehlung, nicht mehr als ein halbes Kilogramm die Woche abzunehmen. Aber wer, wie die meisten, Mitte Juni mit der Sommerdiät beginnt, möchte raschere Ergebnisse. Der Fantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt: Die Methoden reichen von der Atkins-Diät ohne Kohlenhydrate über skurrile Varianten wie die Glasreiniger-Diät, bei der man das Essen mit Fensterputzmittel besprüht, um es ungenießbar zu machen, bis hin zur klassischen Diät unter der Patronanz der „Heiligen Brigitte“. Der akute Mangel an Nährstoffen, der dabei provoziert wird, führt allerdings dazu, dass der Organismus in den Energiesparmodus schaltet. Wird nach der Diät das Nahrungsangebot wieder größer, freut sich der Körper, die überschüssigen Kalorien für kommende schlechte Zeiten in seinen Fett-Silos speichern zu können. Dieser Jo-Jo-Effekt ist überaus zuverlässig und bringt die Abnehmwilligen in eine Spirale zunehmender Verzweiflung. >

…ODER MOTIVIERT AUF DER SCHWARZEN PISTE ACCU-CHEK GUIDE Für alle, die mehr als nur messen wollen. ACCU-CHEK HAT DAS PASSENDE BLUTZUCKERMESSGERÄT Bitte beachten Sie, dass es sich bei den hier angeführten Produkten um Medizinprodukte zur Anwendung für Patienten handelt. Vor Gebrauch dieser Produkte muss die Gebrauchsinformation beachtet und ärztlicher Rat eingeholt werden.

ACCU-CHEK, ACCU-CHEK GUIDE und MYSUGR sind Marken von Roche. Alle weiteren Produktnamen und Marken gehören den entsprechenden Eigentümern. © 2022 Roche Diabetes Care | www.accu-chek.at | Roche Diabetes Care Austria GmbH | 1210 Wien | Engelhorngasse 3


Hausärzt:in extra

© Lukas Beck

fühlen, haben sie ausreichend Motivation, es zu ändern. Dieser Meinung sind sogar einige Ärzte – und benehmen sich auch so, wie man der oben zitierten Studie entnehmen kann. Die meisten brauchen aber gar keine Mitmenschen dazu und „beshamen“ sich gleich selbst, zumeist noch deutlich respektloser und gemeiner. Man kann Gelassenheit aber auch lernen: selig die Männer, die im Freibad mit Stolz den Bauch über die Badehose hängen lassen. Medizinisch fragwürdig, aber soziologisch einwandfrei!

Aus absurden Denkmustern wertvolle Erkenntnisse gewinnen

Von der Neurose zum Diätwahn Die andauernde Beschäftigung mit dem Thema Essen kann selbst zu einer Sucht werden und eine Art Diätneurose verursachen. Während Neurosen belastend, jedoch für den Betroffenen erkennbar sind, liegt bei der nächsten Stufe, dem Diätwahn, bereits eine nicht korrigierbare Fehleinschätzung der Realität vor. Ein solcher Wahn scheint verbreitet zu sein und hat, bemerkenswerterweise, nicht unbedingt mit dem Gewicht zu tun. So sind laut deutscher BMI-Statistik rund 50 Prozent aller Deutschen ab 40 übergewichtig. Mehr als 80 Prozent sind nicht zufrieden mit ihrem Körper. Noch Fragen? Missglückte Abnehmversuche nagen am Selbstwert, jedes Scheitern legt die persönlichen Unzulänglichkeiten noch mehr an den Tag. Nicht verwunderlich, denn wir werden mit Begriffen wie „Eigenverantwortung“ oder „innere Kraft“ konfrontiert, die nahelegen, dass wir unser Leben selbst in der Hand haben, frei entscheiden können, welches Gewicht wir in die Waagschale werfen. Doch irgendwie funktioniert das Ganze nicht so, wie wir uns das vorstellen. Zum einen ist die

Futterverwertung höchst individuell, zum anderen entwickelt ein jeder seine Süchte in einem anderen Bereich. Hier empfiehlt sich die Auseinandersetzung, weniger mit der ungeliebten Außenschicht, sondern mehr mit dem unliebenden Innenleben. Denn so festgefahren die Gedankenmuster auch sein mögen, sind sie stets mit ein wenig Übung veränderbar. Oder um den Wiener Psychiater Viktor Frankl zu zitieren: „Man muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen.“

„Das organisierte Abspecken ist meist der Anfang vom dicken Ende.“

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Mitunter kann da die paradoxe Intervention, also die umgekehrte Psychologie, im besten Sinne Paul Watzlawicks, helfen. Insofern kann eine „Anleitung zum Diätwahnsinn“ all den mit ihrem Körpergewicht Unzufriedenen Diäten wärmstens ans Herz legen. Als sinnvolle Maßnahme empfiehlt sich, neben dem stündlichen Gang auf die Waage, vor allem das eigene Wohlfühlgewicht dem aktuell gültigen Schönheitsideal anzupassen. Oder eine Bucket-List zu erstellen: „Zehn Dinge, die ich an meinem Körper ändern möchte, bevor ich sterbe!“ Durch das Erkennen absurder Denkmuster kann so manche wertvolle Erkenntnis gewonnen werden, wie man sich dem Diätwahn entziehen kann. Dr. Ronny Tekal

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Bodyshaming Man kann aber auch Schwarze Psychologie einsetzen, um die lieben Mitmenschen fertigzumachen. „Fat Shaming“ oder „Sizeism“, also die Diskriminierung aufgrund der Körperstatur, ist ein beliebter Breitensport. Man traut sich nicht, seine Meinung über die Hautfarbe eines Menschen oder über eine Behinderung laut kundzutun, doch hier fällt einem das überaus leicht: Schließlich ist die „fette Person“ selbst schuld, sie muss sich nur ein wenig zusammenreißen. Man meint es doch im Grunde nur gut, denn erst, wenn sich die Betroffenen durch ihr Übergewicht so richtig schlecht

HAUSÄRZT:IN-Buchtipp

Anleitung zum Diätwahnsinn Auf dem Weg zur Traumfigur – und wieder zurück! Von Ronny Tekal und Bernhard Ludwig Gräfe und Unzer Verlag 2021

© Grafik: Tim Jost

Prof. Bernhard Ludwig und Dr. Ronny Tekal, die Meister des Seminarkabaretts, führen in ihrem neuen Buch vergnüglich durch den Dschungel der Diätneurosen. Sie nehmen dem Thema den unnötigen Ernst – und setzen dafür auf viele Schmunzler und Aha-Erlebnisse.


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Anleitung zum Diätwahnsinn

6min
pages 60-68

Allergien haben immer Saison

1min
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Hilfe für gereizte Harnwege ...

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pages 58-59

Wenn die Cerumen Barriere durchlässig wird

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Herausforderung Polypharmazie

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Immer besser (individuell behandelbar

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Vielfältige Coronaprophylaxe

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Vorbeugung ist die beste Therapie

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Mehr Offenheit für die Integrative Medizin“

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Mit ganzem Herzen bei der Sache

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Myokarditis nach mRNA

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Der lumbale Bandscheibenvorfall

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Knochenschutz bei kranker Lunge

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Ethische Werte bei Herzinsuffizienz

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Dramatische Ereignisse

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Von den alten Kelten bis zur modernen Onkologie

4min
pages 28-29
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