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Herausforderung Polypharmazie

Vor allem bei älteren Menschen: Ein Medikament kommt selten allein

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© Anditsch, privat Medikamente sind für viele Menschen (lebens-)wichtig. Müssen mehrere Arzneien gleichzeitig eingenommen werden, kann der Schuss allerdings nach hinten losgehen, weil sich gewisse Medikamente miteinander nicht vertragen. Dadurch kann es zu verschiedenen unerwünschten Interaktionen der einzelnen Wirkstoffe und folglich zu Symptomen kommen. Bei täglicher Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten spricht die WHO von Multimedikation bzw. Polypharmazie oder Polypharmakotherapie. Vor allem betrifft dies ältere Menschen, da mit fortschreitendem Alter auch die Multimorbidität zunimmt. Ab dem 65. Lebensjahr zählt ein Viertel der Bevölkerung zu den Polypharmaziepatienten. Bei den über 80-Jährigen ist es bereits jeder Zweite. Bei dieser Personengruppe kommt hinzu, dass die Nierenfunktion und damit die Ausscheidung gewisser Arzneistoffe nachlässt. Dadurch können Nebenwirkungen verstärkt werden. Aber auch unter jüngeren Personen, vor allem jenen mit psychischen Erkrankungen, findet man Polypharmaziepatienten. Polypharmazie beeinflusst nicht nur die medikamentöse Behandlung der Patienten, sondern stellt auch ein ökonomisches Problem dar.

Vier Arzneien, sechs Interaktionen möglich

„Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 6,5 Prozent aller stationären Aufnahmen auf unerwünschte Arzneimittelereignisse zurückzuführen sind“ , so Mag.a Martina Anditsch, Leiterin der Anstaltsapotheke am AKH Wien. „Studien zufolge sind zwischen 30 und 70 Prozent dieser Unverträglichkeiten potenziell vermeidbar. Von diesen möglicherweise abwendbaren Ereignissen werden etwa 60 Prozent auf unangemessene Verordnungen zurückgeführt (bspw. inadäquate Dosierungen, Arzneimittelinteraktionen, Nichtbeachtung von Kontraindikationen) – und etwa 20 Prozent auf mangelnde Therapietreue von Patienten.“ Generell gilt: Mit der Anzahl der verordneten Medikamente steigt auch das Risiko unerwünschter Wirkungen. Bei Einnahme von vier Arzneien sind sechs Interaktionen möglich. Bei zehn Medikamenten steigt das Wechselwirkungspotential auf 45. Eine Therapie mit mehreren Medikamenten ist nicht per se schlecht. Allerdings gilt es, die Balance zwischen unangemessener auf der einen Seite und einer für den Patienten relevanten Untertherapie auf der anderen Seite zu finden.

EXPERTIN: Mag.a Martina Anditsch

Leiterin der Anstaltsapotheke des AKH Wien

Verschreibungskaskaden vermeiden

Personen mit Mehrfacherkrankungen, die zusätzlich indikationsbedingt bei mehreren Fachärzten in Behandlung sind, gehören zum hausärztlichen Alltag. Werden alle Krankheiten dieser Patienten einzeln leitliniengerecht behandelt, kann das eine unüberschaubare Fülle von Medikamenten zur >

Folge haben. Um die aus Nebenwirkungen resultierenden Symptome zu behandeln oder vor ihnen zu schützen, werden weitere Medikamente verabreicht, und es kommt zu regelrechten Verschreibungskaskaden. Ein weiterer Grund für Polymedikation liegt in der zusätzlichen Einnahme von OTC-Präparaten, etwa Nahrungsergänzungsmitteln. Für den Hausarzt wird die Koordination der Arzneimittel zur Herausforderung. Medikamente, die ein problematisches Risiko-Nutzen-Verhältnis haben und deshalb nicht routinemäßig verordnet werden sollen, sind in der sogenannten PIM- (potenziell inadäquate Medikamente) bzw. in der PRISCUS-Liste (potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen) angeführt. Diese sollen das Management von Arzneimitteln erleichtern. Weitere Hilfestellungen bieten etwa der MAI (Index Medication Appropriateness) oder der „Pocket-Guide Polypharmazie im Alter“ der Universität Bern. e-Medikation, eine neue Funktion der elektronischen Gesundheitsakte (ELGA), bietet zudem einen Überblick über alle verordneten und abgegebenen Medikamente. Diese werden in der sogenannten „e-Medikationsliste“ für ein Jahr gespeichert. Und zwar nicht nur rezeptpflichtige Arzneimittel, sondern auch im Hinblick auf Wechselwirkungen relevante rezeptfreie Präparate. Die Medikamentenliste sollte regelmäßig überprüft werden. Eventuell gibt es zu bestimmten Arzneimitteln Alternativen, die nachweislich weniger Nebenwirkungen aufweisen. Arzneien, die der Symptomkontrolle dienen (beispielsweise Schmerzmittel), sind möglicherweise bereits obsolet, weil die Beschwerden gar nicht mehr vorhanden sind. Beim Absetzen von Medikamenten, die bereits über einen längeren Zeitraum eingenommen wurden, kann es allerdings zu unerwünschten Reaktionen kommen. Das „Ausschleichen“ sollte deshalb nur unter ärztlicher Kontrolle erfolgen. „Eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung komplexer Problemlagen bei Mehrfacherkrankungen ist hinreichend Zeit für die Kommunikation zwischen Arzt und Patient zwecks gemeinsamer Entscheidungsfindung. Hierzu gehören Rahmenbedingungen, bei denen die nötige Zeit dafür gegeben ist. Es erfordert eine vertrauensvolle Atmosphäre, um Themen wie die Lebensqualität und Lebenslänge, Ziele und Erwartungen der oft älteren und gebrechlichen Menschen anzusprechen“ , meint die Pharmazeutin.

Auch Eigenverantwortung gefragt

Dringend abzuraten ist von Selbstmedikation ohne Absprache mit dem Arzt, denn selbst vermeintlich harmlose, frei verkäufliche Präparate bzw. Nahrungsergänzungsmittel können die Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen. Johanniskraut etwa interagiert mit der Antibabypille, Blutgerinnungshemmern, Immunsuppressiva, bestimmten Antidepressiva und Cholesterinsenkern. Pfefferminzöl verzögert den Abbau

bestimmter Blutdruckmittel. Selbst die Nahrung bzw. Getränke können die Wirksamkeit von Medikamenten beeinflussen. Alkohol etwa verstärkt den Effekt von Beruhigungsmitteln, Schwarztee und Milch verringern die Aufnahme vieler Medikamente. „Schätzungen gehen davon So paradox es klingen mag: Polypharaus, dass etwa 6,5 Prozent mazie kann auch zu einer medikamentösen Unterversorgung führen. Grund aller stationären Aufnah- dafür sind Probleme mit der Complimen auf unerwünschte Arzneimittelereignisse ance der Patienten, die mit mehreren Arzneimitteln behandelt werden. Mit der wachsenden Anzahl der Medikazurückzuführen sind.“ mente nimmt die Einnahmetreue nämlich stark ab: Je mehr Arzneien eingenommen werden sollten, desto weniger nehmen viele Patienten diese auch Mag.a Martina Anditsch tatsächlich richtig bzw. regelmäßig ein. Das kann zu einer Unterversorgung und somit zu einer Verschlechterung der Krankheit führen. Um eine optimale medikamentöse Therapie zu gewährleisten, empfiehlt Mag.a Anditsch: „Die verordneten und von den Patienten zusätzlich angegebenen Arzneimittel sollten regelmäßig überprüft werden. Zudem ist es ratsam, mindestens viermal jährlich Elektrolyte und Nierenfunktion zu überprüfen. Einen hohen Stellenwert haben außerdem ausführliche Aufklärungsgespräche mit den Patienten über mögliche Nebenwirkungen.“

Ein Beispiel aus der Praxis:

Eine 72-jährige Frau wird bewusstlos in ihrer Wohnung aufgefunden. Im

FÜR ÄLTERE PATIENT:INNEN POTENZIELL GEFÄHRLICHE MEDIKAMENTE Arzneimittel Mögliche unerwünschte Wirkungen

Gerinnungshemmende Medikamente Blutungen, Thromboembolien Orale Antidiabetika, Insulin Hypoglykämie Opiate Stürze, Verwirrtheitszustände, gastrointestinale Nebenwirkungen, Pflegenotfälle Nichtsteroidale Antirheumatika und Kortisonpräparate Magenblutungen, Hypertonie, Hyperglykämie, Nierenversagen Psychopharmaka, z. B. Benzodiazepine und Neuroleptika Stürze, Verwirrtheitszustände, Abhängigkeit, Pflegenotfälle

Spital weist das Akutblutbild auf eine massive innere Blutung hin. Was war passiert? Die Patientin war bereits seit zwei Jahren aufgrund von Vorhofflimmern, Hypertonie, Diabetes und Schlafstörungen stabil auf sechs Medikamente eingestellt. Dann verschlossen sich zwei große Gefäße am Herzen, die akut geöffnet und mit einem Stent versehen wurden. Damit sich diese Stents nicht wieder verschließen, bekam sie zusätzlich zu ihrer bestehenden Therapie zwei Medikamente zur Hemmung der Blutgerinnung und einen Magenschutz verschrieben. Aufgrund starker depressiver Verstimmung wurde auch ein Antidepressivum verordnet. Nach drei Tagen stationären Aufenthalts wurde sie mit neuer Medikation (insgesamt zehn Medikamente) entlassen: Clopidogrel, ASS 100 Milligramm, Rivaroxaban, Bisoprolol, Lisinopril, Metformin, Empagliflozin, Esomeprazol, Trazodon und Escitalopram. Aufgrund von Rückenschmerzen nahm die Patientin zu Hause noch Ibuprofen ein. Vier Tage später wird sie mit Blaulicht ins Spital gebracht: lebensbedrohliche Darmblutung. Sechs Arzneimittel ihrer Multimedikation bargen das Risiko, eine Blutung auszulösen. In der Kombination stieg das Risiko exponentiell an. Fazit: Bei Patienten, die wegen Vorhofflimmerns und eines Zustands post Stenting blutgerinnungshemmende Arzneimittel benötigen, muss besonders bei der Auswahl zusätzlich benötigter Schmerzmittel oder Psychopharmaka auf jene ohne Blutungsrisiko geachtet werden.

„Die verordneten und von den Patienten zusätzlich angegebenen Arzneimittel sollten regelmäßig überprüft werden.“

Mag.a Martina Anditsch Margit Koudelka

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