Ernst Trachsler «Auf Spurensuche im 19. Jahrhundert · Gedichte von Katharina Berkmüller-Stutz

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Ihr literarisches Werk – eine Einordnung

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dem Legendenschema in aller Regel ein Epilog oder ein Gebet. An der Stelle, wo es im Märchen heisst: «Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch» lautet der Schluss in unserer Geschichte von der Waldkapelle: «Bei Eintracht, Fleiss und Frömmigkeit / Wohnt himmlische Zufriedenheit.» Dieses Legendenschema, von welchem bei Christoph von Schmid zahlreiche weitere Beispiele zu finden wären, finden wir – wenn auch oft in leicht abgewandelter Form – ebenfalls in Katharinas Gedichten. 117 Zu Beginn treffen irgendwelche Sorgen, Nöte oder Schicksalsschläge ein, welche dann in der Folge mit Tugend und Bescheidenheit, Gottesfurcht und Vertrauen gemeistert werden. Am Schluss folgen die Verheissungen eines besseren Lebens im Himmel als Lohn für den demütigen und gottesfürchtigen Lebenswandel. Katharina hat sich dieses Erzählmuster und die moralische Botschaft dieser Art Volksliteratur – vermutlich unbewusst – zu eigen gemacht und bis an ihr Ende in ihrem literarischen Werk gepflegt. Lesen war also Katharina seit ihren Kinder- und Jugendjahren ein leidenschaftliches Bedürfnis. Nicht nur, dass sie einfach las, was an Literatur eben erreichbar war. Sie setzte sich zusammen mit ihrem Bruder auch mit dem Inhalt auseinander. Man kann ohne Übertreibung von einer Phase der literarischen und weltanschaulichen Prägung sprechen. Ihr Bruder Jakob hält denn auch fest, dass er und seine Schwester in ihren Jugendjahren von den Geschichten des Christoph von Schmid tief ergriffen waren. «Christof Schmid lehrte uns so einfach und heiter in die schöne Gotteswelt hineinschauen, lehrte durch so anmutige Beispiele,

Gott und Christentum und alle Menschen lieb haben, die Sünde scheuen, zeigte, wie man auch bei wenigem unterm niedrigen Strohdach zufrieden und vergnüglich leben könne. (...) O das alles gefiel mir überaus wohl.» 118 Zwei Dinge sind zum Schluss noch einer Erwähnung wert: In der Geschichte «Die Waldkapelle» mit den beiden Geschwistern trägt der Bruder den Namen Konrad und seine jüngere Schwester heisst Luise. Wir erinnern uns: Die Tochter von Katharina und Alphons Berkmüller hiess Louise und der erstgeborene Knabe, welcher gleich nach der Geburt wieder verstarb, trug den Namen Conrad. Zufall? Fügung? Absicht? In der erwähnten Ausgabe des Kinderbüchleins von ca. 1910 ist die Waldkapelle in einem Stich abgebildet: Es ist die Tellskapelle am Vierwaldstättersee. Wie der Illustrator E. Klein aus Stuttgart 1889 ausgerechnet auf dieses Vorbild kam, entzieht sich unserer Kenntnis. Allerdings wissen wir, dass die Tellskapelle zur Zeit des aufkommenden Tourismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts und der gleichzeitigen vaterländischen Mythologisierung (vermeintlich) historischer Orte ein weit verbreitetes Sujet war. Wenigstens nach der historischen Erzählung hat sich schliesslich genau hier Wilhelm Tell mit einem gewaltigen Sprung auf einen Felsvorsprung aus den Klauen seiner habsburgischen Häscher befreit! In dieser Zeit müssen Jakob und Katharina begonnen haben, selbst eigene Gedichte zu verfassen. Vor allem Katharinas erste Versuche sind unverkennbar geprägt von ihrer Lektüre und den Gesprächen mit ihrem älteren Bruder. Es entstand in kurzer Zeit jene


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