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Die Beziehung zu ihrem Bruder Jakob Stutz

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Die Beziehung zu ihrem Bruder Jakob Stutz

Noch ein Thema zieht sich durch ihr ganzes Leben und somit auch durch ihre Gedichte: die enge und dennoch leidvolle Beziehung zu ihrem Bruder Jakob Stutz.

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Ein kurzer Blick auf das Leben ihres Bruders ergänzt in verschiedener Hinsicht unser Verständnis für kulturelle, soziale und politische Aspekte im Leben der Familie Berkmüller-Stutz in Wängi.

Jakob Stutz wurde am 27. November 1801 in Isikon (Hittnau) als neuntes von sechzehn Kindern geboren. Dem frühen Tod der Eltern im Jahre 1813 folgte der soziale Abstieg; Jakob Stutz musste fortan sein Brot als Hirt, Knecht und Heimweber selbst verdienen. Seine magere Dorfschulbildung erweiterte er mit autodidaktischen Studien, die später durch Privatunterricht bei wohlwollenden Förderern ergänzt wurden, so dass er 1827 eine erste Stelle als Unterlehrer antreten konnte.23

Irmiger, Karl Friedrich. 1848. Jakob Stutz. Zeichnung. Reproduktion aus Müller, Walter. (2001). Jakob Stutz 1801 – 1877. Stationen eines Lebens. Original in der Zentralbibliothek Zürich Graphische Sammlung und Fotoarchiv.

«Lasset uns das häusliche Leben verbessern und verschönen; denn hier muss das Glück der Bürger, des Staates und des ganzen Vaterlandes Wurzeln schlagen, wenn es dauerhaft sein soll.» J. Stutz. 25

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Erwähnenswert ist eine Stelle in seinem Werk «Siebenmal sieben Jahre aus meinem Leben», wo er seine – kritische – pädagogische Überzeugung in Bezug auf die damalige Schulreform darlegt: «Doch was kam bei dieser Schulverbesserung heraus? – Wir lernten Buchstaben schöner schreiben und die Wörter deutlicher aussprechen, aber keines wusste, was es las, und keines, was es schrieb, und doch wurde sehr viel Mühe auf beides verwendet. Das Ganze der Verbesserung galt demnach nur der Schale, an den Kern dachte niemand. Von Erklären und Erzählen war bei uns keine Rede. Bisweilen wurde aus dem Testament abgefragt, aber nur so, dass wir die Antwort im Buch selbst lesen konnten und also nichts weiter zu denken hatten. ...Aber sonderbar – wo tüchtige Schulmeister waren, lernten fähige Schüler trotz den mangelhaften Lehrmitteln doch etwas Rechtes.»24

1841 musste Jakob Stutz seine Lehrtätigkeit wegen pädophiler Verfehlungen aufgeben, worauf er sich 1842 auf den Sternenberg zurückzog.

In den rund 15 Jahren, die Jakob Stutz dort als Klausner in seiner Einsiedelei «Jakobszelle» verbrachte, entfaltete er eine rege schriftstellerische Tätigkeit und wirkte gleichzeitig als Dichtervater, Erwachsenenbildner und Sozialreformer. Wie sehr er selber unter seiner Veranlagung litt, beschreibt Jakob Stutz am 4. September 1841 in seinem Tagebuch: «Warum gibt es Menschen, denen man Vernunft und Verstand nicht absprechen kann, die einen verkehrten widernatürlichen Geschlechtstrieb gleichsam mit auf die Welt bringen? Die sich auch unter günstigsten Umständen nie und nimmer entschliessen können, zu heirathen? Sag mir doch ein Mensch, woher das kommen möge? Schreiber dies gehört leider auch unter diese

Manz. Jakobszelle in Sternenberg. Lithographie. Zentralbibliothek Zürich Graphische Sammlung und Fotoarchiv. Inv.Nr. Manz, Lithographie, Jakobszelle in Sternenberg (Sys 011126193). Reproduktion mit Genehmigung. Hierher zog sich Jakob Stutz 1842 zurück.

unglückliche Klasse von Menschen, die gewiss die unglücklichsten auf Erden sind.»25

Wegen erneuter homosexueller Handlungen musste er Sternenberg im Jahre 1856 endgültig verlassen. Als Vorbestrafter, Vertriebener und Heimatloser führte er dann während mehr als zehn Jahren ein unstetes, rastloses Wanderleben. Erst 1867 fand er eine letzte Heimstätte bei seiner Nichte in Bettswil (bei Bäretswil), wo er am 14. Mai 1877 starb. Ein Jahr nach seiner Schwester Katharina Berkmüller.

Vor allem sein Buch «Siebenmal sieben Jahre aus meinem Leben» ist heute noch lesenswert und erlaubt einen sozial- und kulturhistorischen Blick auf das damalige Zürcher Oberland.

Von der erwähnten «Jakobszelle» existiert eine kolorierte Zeichnung von einem Lithographen namens Manz.

Wie schon sein Schwager Johann Alphons und seine Schwester Katharina Berkmüller hatte auch Jakob Stutz eine musikalische Seite. In seinen Erinnerungen «Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben» berichtet er an verschiedenen Stellen vom damals durchaus üblichen gemeinsamen Singen von Volksliedern; – auch innerhalb der Familien wurde viel und oft gesungen. Eine besonders schöne Episode erwähnt Christian Schmid in seinem Aufsatz «Jakob Stutz und das Volkslied»:

«Wenn beim gemütlichen Zusammensitzen gesungen wurde, wurde dies meist nicht gemeinsam gemacht, sondern die einzelnen begabten Sängerinnen und Sänger sangen ihre Lieder vor – und liessen sich auch etwa dafür bezahlen. So mussten Jakob und seine Schwestern dem Grossvater ein «Gütterli Bränz» versprechen, damit er ihnen das Lied von der «Müllerin unter den Räubern» beibringe.26

Von Jakob Stutz ist wie schon von seiner Schwester ebenfalls ein Gedicht mit dem Titel «An die Gitarre» überliefert. Er war es auch, der seiner Schwester Katharina um 1820 herum eine Gitarre schenkte nachdem er selbst im Alter von 22 Jahren im Pfarrhaus Sternenberg Pfarrer Tobler bei einem Liedervortrag mit Gitarrenbegleitung gehört hatte. «Im Pfarrhaus [Sternenberg] sah ich die erste Gitarre. Schon das Äussere derselben, sie hatte die Form einer Laute oder Zither [gemeint ist hier die Halszither], entzückte mich ungemein. Den Augenblick, sie zu spielen oder zu hören, vermochte ich kaum zu erwarten. Eines Abends, ich werde ihn nie vergessen, griff Herr Pfarrer auf meine Bitte in die Saiten und sang mit voller, gemütlicher Stimme. (…) Nach einigen Tagen gab ich meine letzte Barschaft für diejenige Gitarre hin, welche mich [seither] schon mehr als dreissig Jahre als treueste Freundin durchs Leben begleitet hat.»27 Ein paar Seiten weiter hinten schreibt Jakob Stutz, wie er seiner Schwester Katharina eine Gitarre schenkte.

Im Besitz der Antiquarischen Gesellschaft Pfäffikon sind Gedichte von Katharina zum Namenstag ihres Bruders Jakob sowie eine kleine Korrespondenz zwischen den beiden Geschwistern erhalten. Auch schickte Jakob seiner Schwester eine Sammlung ihr gewidmeter Gedichte, welche diese wiederum in Gedichtform beantwortete.

Aus Gedichten und Briefwechsel geht hervor, wie zu jener Zeit innerhalb der Familie Stutz die Verbundenheit gepflegt wur-

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28 de.28 Katharina hat die Trennung von ihrem Bruder in einem tief empfundenen Gedicht «Heimweh nach meinen lieben Geschwistern» festgehalten. Die folgenden Strophen sind ein Ausschnitt: Wenn ich so alleine bin, Denk ich oft an meine Lieben, Die in ferner Heimath drüben, Alle kommen mir zu Sinn.

Und mit stiller Sehnsucht Weh Fliegt mein Geist zur Klausner Hütte,29 Wo ich dann in ihrer Mitte Meinen lieben Bruder seh.30

In einem weiteren Gedicht «Als ich meinen Bruder erwartete» wird die enge Geschwisterbindung Katharinas zu ihrem Bruder Jakob nochmals deutlich: Ach, schon lange wart’ ich hier, Auf des Hügels steiler Höhe, –Dass ich ihn doch kommen sähe! Ach, er kommt so lange nicht!

Warten macht die Zeit so lang! Hat er, dass er nicht willkommen, einen andern Weg genommen? Oder bleibt er gänzlich aus?

Nein er kommet nicht mehr heut, Denn die Sonne will schon sinken. Wie im Osten Sternlein blinken, Und der Halbmond silbern glänzt!

Ach, so muss ich denn allein Meinen Weg zur Hütte nehmen. Mich erfüllt ein stilles Grämen. –Gott! wenn er nur glücklich ist!31

Jakob und Heinrich Senn schreiben in ihrem Buch über einige Zürcher Oberländer Zeitgenossen, dass Jakob Stutz im Oktober 1836 an der Hochzeit seiner Schwester Katharina «mit Alfons Berkmüller aus dem thurgauischen Wängi» teilgenommen hat.32

Auch sonst hat er seine Schwester Katharina in Wängi ab und zu besucht. Zwar sind sich nicht alle Quellen einig, wie oft dies geschah. Walter Müller schreibt: «Bei seiner jüngeren Schwester Katharina, die seit 1836 mit Alfons Berkmüller verheiratet war, fand der heimatlose Dichter vorerst eine Unterkunft. Schon in den Jahren zuvor hatte er von Zürich aus einen regen Briefwechsel mit der poetisch ebenfalls begabten Katharina geführt.»33 Der Wängemer Chronist Hermann Walder schreibt hingegen: «Die Berkmüllers pflegten (...) keine Beziehungen zu ihren Verwandten.»34 Entweder meint Walder hier Beziehungen zur Berkmüllerschen Verwandtschaft nach Kaufbeuren, oder er bezieht sich im Zusammenhang mit der Familie Stutz auf die späte Zeit nach 1856. Belegt ist, dass Jakob Stutz jeweils zu Fuss aus dem Zürcher Oberland über den Sternenberg nach Wängi wanderte.

Jakob Stutz schreibt in seiner Biografie «Sieben mal sieben Jahre»: «Ich gedachte bald zu Schwester Kathrine ins Thurgau zurückzukehren, welche sich am 4. Oktober 1836 mit ihrem jetzigen Gatten Alfons Berkmüller in Wängi, verheiratet hatte.»35 Warum zurückkehren? War er schon einmal dort?

Eine weitere Begebenheit mit einem Bezug zu seiner Schwester Katharina schildert Jakob Stutz von seinem fünfzigsten Geburtstag am 27. November 1851. Vor dem Ga-

bentisch hielt Ulrich Furrer (ein enger Vertrauter) eine Gratulationsrede, von welcher Jakob Stutz mit eigenen Worten «tief ergriffen» war. Furrer sagte: «Das weisse Tuch [auf welchem sich die zahlreichen Gaben befanden] ist dasselbe, welches Euere selige Mutter über das Kissen legte, in welchem ihr vor fünfzig Jahren zur heiligen Taufe getragen wurdet; Schwester Kathrine, die es der Familie aufbewahrte, hat es Euch auf diesen Tag gesendet, – da musste ich meinen Tränen freien Lauf lassen».36 Ein ausgesprochen persönliches Geschenk. Der weite Weg von Wängi nach Sternenberg Ende November war für Katharina offenbar nicht möglich. Es ist indessen kaum denkbar, dass sie dem Geschenk nicht noch ein persönlich gewidmetes Gedicht beigelegt hat. Ob es noch irgendwo existiert, wissen wir nicht.

Wenn wir nochmals dem Tagebuch von Jakob und Heinrich Senn folgen, finden wir über die Jahre allerdings doch noch einige Hinweise. Am 12. April 1852 reiste Jakob Senn nach Sternenberg, um dort seinen Freund Jakob Stutz zu besuchen. Er traf ihn indessen nicht zu Hause an. Er erfuhr, dass Stutz seit längerer Zeit bei seiner Schwester Katharina in Wängi weilte.37 Es ist das Jahr, als sich Gerüchte um die pädophile Veranlagung von Jakob Stutz verdichten. Heinrich Senn schreibt: «Es sind diese sehr teuflisch gesponnenen Verläumdungen, die von verschiedenen Individuen über ihn ausgestreut wurden (...) Allerdings ist Stutz wirklich als überwiesener Täter auf besagtem Gebiet mehr als einmal schon gebüsst worden.»38 Gut denkbar, dass Stutz sich gewissermassen nach Wängi absetzte, um dem Gerede zu entgehen. Bei seiner Schwester findet er offenbar wenigstens vorerst Verständnis und Zuflucht. In einem Gedicht setzt sie sich mit den «Verleumdungen» auseinander.

Trost in Verleumdung. Trifft dich der Verleumdung Zahn, Fange sacht zu forschen an; Findst dich frei von aller Schuld, O dann trag es mit Geduld! Dein Gewissen gut und rein Muss dir ja viel teurer sein Als ein Lob der Schmeichelei, Wär es nicht so gut und treu. Denk, die böse Zunge sticht selten einen Bösewicht. Nur wer lebt wie sichs gebührt, Stets von ihr verleumdet wird.39

Weder verteidigt, noch verurteilt Katharina ihren Bruder. Sie betrachtet die Geschichte aus Distanz. Etwa im Sinne von «Wer unschuldig ist und ein gutes Gewissen hat, der hat auch nichts zu befürchten». Mit den Verleumdern allerdings geht sie unmissverständlich ins Gericht. Ganz im Sinne des Bibelwortes «Wer unter euch unschuldig ist, der werfe den ersten Stein».

Als Jakob Senn im selben Jahre am 5. Dezember 1852 Stutz wiederum in seiner Klause im Sternenberg besuchen will, erfährt er, dass dieser abermals bei seiner Schwester in Wängi weilt.

Jakob Stutz macht leidvolle Zeiten durch. Seine zahlreichen Freunde verlassen ihn, einer um den andern. In seinem Tagebuch klagt er wohl im Frühjahr 1856 (dem Jahr seiner Verurteilung): «Wie innig beteten ich und meine Schwestern (Anna, Barbara und Katharina), dass Gott mich be-

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30 hüten möchte. Ich lebte in süssem Seelenfrieden gar manches Jahr, aber da trat eines Tages der Versucher zu mir.»40

Am 2. September 1856 schreibt Stutz aus dem Gefängnis seinem Freund Jakob Senn: «Den meisten Kummer habe ich, indem ich immer noch (nach der bevorstehenden Entlassung) nicht weiss, wo ich ein Obdach finden kann.» Und in einem nächsten Brief: «O dass ich irgendwo ausser dem Kanton so ein einsames Haus und solche eine Familie wüsste wie bei euch im Leimacker.»41

Seine Entlassung aus dem Gefängnis erfolgt am 28. Oktober 1856. Senn schreibt: «Da ihn seine Schwester in Wängi nicht aufnehmen will, und er aufgrund des über ihn verhängten Urteils nicht im Kanton Zürich bleiben darf, ist er gezwungen, in die Fremde zu ziehen.»42 Stutz führt in der Folge ein unstetes Leben. Er fasst nirgends mehr richtig Fuss und verstirbt 1877.

Andere Spuren im Zusammenhang mit der Beziehung Katharinas zu ihrem Bruder Jakob liessen sich nicht finden. Insbesondere fehlen Hinweise auf weitere Aufenthalte in Wängi bei seiner Schwester. Damit wissen wir auch nichts über die Beziehung zwischen Jakob und seinem Schwager Alphons Berkmüller. So bleibt etwa die Frage offen, welchen Einfluss Berkmüller bei der Weigerung hatte, den aus der Haft entlassenen Schwager für einige Zeit in Wängi aufzunehmen.

Doch nun zurück zu den Beständen des Ortsmuseums Wängi. Da existiert noch ein zweites – einige Jahre früheres – Foto von Katharina Berkmüller. Es handelt sich um eine Atelieraufnahme eines unbekannten Fotografen. Auf den ersten Blick fällt auf, wie ganz anders sie uns hier entgegenblickt. Ihr Blick zeugt gleichzeitig von Bescheidenheit als auch von Selbstbewusstsein. Vielleicht ist sie da um die 50 Jahre alt. Auch von der Tochter Louise existiert eine entsprechende Aufnahme. Beide wurden offensichtlich zur selben Zeit aufgenommen. Wir werden ihr später noch begegnen.

Die Aufnahme gehört – wie bereits das Foto ihres Gatten Alphons Berkmüller – fotohistorisch in die Kategorie der sogenannten «Cartes de Visites». Diese lösten etwa ab den 1860er Jahren die Miniaturmalerei der späten Biedermeierzeit ab. Dieser Umstand verdient hier besondere Erwähnung, da Katharina Berkmüller an einem schwarzen Sammetband um den Hals und auch am Kragen ihres hochgeschlossenen Kleides sehr wahrscheinlich je ein Medaillon mit Bild trägt. Ob ihr Mann Alphons Berkmüller diese gemalt hat, ist auf der Foto nicht zu erkennen. Denkbar wäre es immerhin. Wenn wir nämlich die beiden Medaillons extrem vergrössern, sind sowohl auf dem oberen um den Hals als auch auf demjenigen am Kragen eher Landschaften mit Häusern als eines der damals üblichen Portraits zu erkennen. Damit wird die Möglichkeit, dass tatsächlich ihr Mann als Maler in Frage kommen könnte nochmals etwas wahrscheinlicher. Auch die eher untypische breitovale Form des Medaillons könnte diese Vermutung unterstützen.

Katharina Berkmüller-Stutz. Atelieraufnahme eines professionellen Fotografen. Vermutlich um 1870. 6.6 x 11.5 cm. BmKat. Nr. 01c. Ortsmuseum Wängi. Vergrösserung der beiden Schmuck-Medaillons aus der Portraitfoto von Katharina Berkmüller. Mit etwas Fantasie lassen sich Darstellungen von Landschaften mit Gebäuden erkennen. Normalerweise trugen die Frauen damals aber Portraits von nahestehenden Personen auf ihren Schmuck-Medaillons. Katharina Berkmüller wäre somit eine Ausnahme. Auch eignet sich die hier getragene breitovale Form gut für landschaftliche Darstellungen. Abbildungen von Personen wurden in aller Regel auf hochovale Formate gemalt. 31

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