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Heimweh
ein Tellerchen, eine Dose sowie verschiedene Papiere. Vielleicht sind Schreibutensilien dabei. Es würde zu Katharina Berkmüller passen. Hinter den Spiegel ist zudem ein Abreisskalender geklemmt. Die darauf sichtbaren Figuren nehmen mit ihren dekorativ geschwungenen Linien figürliche Elemente des Jugendstils vorweg. Es handelt sich wohl um ein Werbegeschenk einer Firma. Mit etwas Fantasie lässt sich sogar der Firmenname entziffern: Schoop & Cie. Zürich. Das Bild darunter zeigt eine vornehm gekleidete Dame in Rückenansicht beim Tanz. Ein Werbekalender einer Modefirma oder eines Textilunternehmens würde sich in der Stube der Familie Berkmüller ausgesprochen passend ausnehmen. Aufgenommen wurde das Foto an einem Einundzwanzigsten. Monat und Jahr sind leider nicht lesbar. Wir datieren die Aufnahme in die Zeit um 1870, wenige Jahre vor Katharinas Tod.
Heimweh
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Wer über Katharina Berkmüller-Stutz mehr erfahren will, muss sich mit ihren Gedichten befassen. Dies zunächst aus dem einfachen Grund, weil sonstige Quellen ausgesprochen rar sind. Katharina ging auch während ihrer Zeit in Wängi – wie schon zuvor in ihrer Zürcher Jugendzeit – fleissig ihrer literarischen Beschäftigung nach. Erhalten sind zahlreiche Gedichte. Hingegen sind Briefe und Prosatexte in der Sammlung des Ortsmuseums Wängi nicht zu finden. Katharina goss ihre Empfindungen in Verse; seien es nun Leid und Schmerzen oder seien es Fröhlichkeit und Freude. Beim Dichten fand sie zu sich.
Im Ortsmuseum Wängi umfasst der Bestand um die 140 Gedichte. Diese erlauben uns einen sehr persönlichen Einblick in Katharinas Leben und Fühlen. Eine Auswahl davon ist samt Transkription im letzten Kapitel zu finden.
Ihr Heimweh nach dem Zürcher Oberland durchzieht als Grundthema ihr ganzes literarisches Werk: Dort hat sie Kindheit und Jugend verbracht. Dort hat sie ihre Freunde, ihre Bekannten, ihre gesamte Familie zurückgelassen. Den Thurgau, wo sie immerhin 40 Jahre bis zu ihrem Tode gelebt hat, erwähnt sie während all den Jahren lediglich an einer einzigen Stelle.
Doch was mag ich sehnsuchtsvoll Noch so oft hinüber schauen? Hier in Thurgaus schönen Auen Ist mir ja auch innig wohl.8
Und selbst in diesen Zeilen wirkt der Hinweis auf die Thurgauer Auen eher wie eine Art Selbsttrost. Es fiel Katharina offensichtlich schwer, nach dem Verlassen ihres Zürcher Oberlandes im Thurgau eine neue Heimat zu finden. Ein anderes Gedicht trägt den Titel «Kirchturm Wängi». Aber bei genauerem Hinsehen wird rasch klar: das Gedicht ist nicht ortsbezogen gedacht. Katharina Berkmüller versteht den Kirchturm als Symbol für Standhaftigkeit und Gottvertrauen. Die Ortsbezeichnung Wängi könnte ausgetauscht werden, ohne dass man eine einzige Zeile ändern müsste.
Mit bewegenden Worten schildert sie den Verlust der «unvergesslichen» Heimat im Gedicht «Abschied vom Dörfchen B…». Sie verspricht ihrer alten Heimat – und wohl
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20 auch sich selbst! – , dass sie «dorten» in der neuen Thurgauer Heimat das «Dörfchen B...», ihr «trautes Stübchen» und die «Meinen» niemals vergessen werde.
Abschied vom Dörfchen B…
* Nun so muss ich einmal scheiden, Kleines Dörfchen, lebe wohl! Felsen, Berge, grüne Waiden, Hört mein letztes Lebewohl!
Mir war oft so wohl im Herzen! Doch der meinen Missgeschick Machte mir so viele Schmerzen, Trübte öfters meinen Blick.
Was ich hier auch innig liebte, Bist, mein trautes Stübchen, du! Oft, wenn mich ein Leiden trübte, Schenktest du mir Fried’ und Ruh’.
Jetzo muss ich von dir scheiden, Kann mich nimmer hier erfreun, Kann dir nur für diese Freuden Eine stille Träne weihn. Nehmt den Dank für alle Treue, Ihr, die mich geliebet hier; Dorten lieb’ ich euch aufs Neue, Unvergesslich bleibt ihr mir.9
*Mit «B…» könnte Bettswil oder Bäretswil gemeint sein. Auch an andern Stellen stösst man auf diese Heimweh-Melancholie. Katharina muss unter dem Wegzug aus ihrem Zürcher Oberland in den fremdem Kanton Thurgau wirklich gelitten haben. Im folgenden Gedicht zeigt sich auf ergreifende Weise ihr Hinund-hergerissen-Sein zwischen ihrem Heimweh und der ungewissen Zukunft in Wängi. Momente des Glücks und Trost findet sie einzig in ihrem Glauben. Allein auch hier: erst im Tode wird sie endgültig von ihrem Heimweh-Schmerz erlöst.
Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Kirche Wängi vor dem Umbau von 1865. Bleistift. 9.7 x 6.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 81. Ortsmuseum Wängi.
An den Mond.10 Du schaust so treulich auf mich nieder, O Mond mit deinem sanften Strahl; Bescheinst mich hier so freundlich wieder, Wie dort im heimatlichen Thal.
Oft sass ich dort in trauter Stille In meinem Stübchen ganz allein, Tief denkend wie des Vaters Wille Für mich in Zukunft möchte sein.
Dann schaut ich mit gerührter Seele, Mit Tränen oft zu dir hinan, Und ob du wüsstest was mir fehle, Du blicktest mich so tröstend an.
Dann konnt ich beten, Gott vertraun, Wie ward mir dann so innig wohl! Und hoffend in die Zukunft schaun, Nicht fürchtend was da kommen soll.
Dann floss mit deinem sanften Flimmer Mir Trost herab und Lebensmut; Ich sah der Hoffnung goldnen Schimmer, Gott macht’s mit seinem Kinde gut.
Und jetzt, nach so viel hundert Tagen, Die schwanden in der Zeiten Flut, Kann ich dir, Lieber, freudig sagen, Gott führte mich stets treu und gut.
Du siehst mich nicht allein wie drüben, In stiller Wehmut tief versenkt; Du siehst mich ja bei meinen Lieben, Die mir der gute Gott geschenkt. Du scheinst mich aber still zu fragen, Ob ich jetzt denn auch glücklich sei? –Ja, lieber Mond, doch ganz von Klagen Wird nur das Herz im Tode frei.11
Eines ihrer Gedichte aus dem Jahre 1836 trägt den Titel «Abschied von Pfeffikon. Oct: 1836». Nochmals nimmt sie kurz vor ihrem Wegzug in berührender Weise Abschied von ihrer Zürcher Heimat; von der «geliebten theuren Hütte», von der «geliebten Wiesenquelle», vom «schönen Rebenhügel» und vom «geliebten Seenspiegel». Das Gedicht beginnt mit den Zeilen: Lebt wohl ihr meine Lieben alle! Aus eurem trauten, schönen Tale Ruft mich nun jetzt mein Schicksal ab. Nehmt meinen Dank für alle Freuden Für euer Mitgefühl im Leiden, Und was mir eure Liebe gab.12
Den poesievertrauten Leserinnen und Lesern fällt an dieser Stelle das eher ungewohnte Reimschema auf. Wir wollen diese Zeilen später unter diesem Aspekt nochmals unter die Lupe nehmen. Das Gedicht endet mit den beiden schon schwermütig anmutenden Strophen: Lebt nochmals wohl, ihr Lieben alle, Am stillen See, im trauten Thale, Ich trenne mich mit nassem Blick. Doch weiss ich, dass zu allen Zeiten Ein treuer Vater mich wird leiten Und folge ruhig dem Geschick.
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