Ernst Trachsler «Auf Spurensuche im 19. Jahrhundert · Gedichte von Katharina Berkmüller-Stutz

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Ihr Leben

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Es ist unmissverständlich: Katharina Berkmüller zweifelt die damalige kirchliche Gepflogenheit des Verscharrens ausserhalb des Friedhofes an. Sie bricht nicht den Stab über die Unglücklichen. Sie masst sich kein moralisches Urteil an; sie verdammt nicht. Auf sanfte Art opponiert sie aber klar und deutlich gegen die harten Urteile und unmenschlichen Rituale der Kirche. Wir erinnern uns: Katharina war reformiert. Und wir erinnern uns zweitens, dass ihre beiden Knaben kurz nach der Geburt verstarben. Der jüngere starb ohne Taufe. Die Frage, wie sich die Kirche in solchen Situationen verhält, hat die aufgeklärte Katharina mit Bestimmtheit beschäftigt. Die beiden Konfessionen hielten ihre Gottesdienste in Wängi ja auch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in derselben paritätisch genutzten Kirche ab. Gemäss traditioneller katholischer Theologie war das ungetauft verstorbene Kind noch mit der Erbsünde behaftet und konnte deshalb nicht an der Auferstehung teilhaben. Die Kirche stand vor der Frage, wie ein solches Kind begraben werden konnte. So entwickelte sich im Laufe der Zeit die Lehre des sogenannten Limbus Puerorum. Umgangssprachlich kamen die Seelen, welche «ohne eigenes Verschulden vom Himmel und der ewigen Anschauung Gottes ausgeschlossen waren», in die Vorhölle für Kinder. 59 Laut Meinung der Kirche konnten sie nicht in der geweihten Erde des Friedhofs bestattet werden. Sie wurden ausserhalb der Kirchhofmauern und in aller Regel ohne Zeremonie beigesetzt. Diese Vorhölle wird beschrieben als ein Ort der Finsternis unter der Erde, aus der

es für alle Zeiten keine Rückkehr mehr gibt. Auch nach der Reformation blieb dieser Glaube im Volk tief verwurzelt, Nicht nur dass man glaubte, ein solches Kind würde nicht selig und geistere als unerlöste Seele umher; ein ungetauftes war auch bedrohlich. Es hätte sich rächen und zum Auslöser von Seuchen, wie zum Beispiel der Pest, werden können. Solche Vorstellungen lassen die Not der Eltern nachvollziehen und erklären, warum man alle Mittel ergriff, um ein solches «ungfreuts Chindli» 60 nicht ungetauft zu bestatten. Vermutlich wurde der erste Knabe der Familie Berkmüller, welcher gemäss Angaben im Haushaltregister nur einen einzigen Tag überlebte, ebenfalls per Nottaufe auf den Namen Conrad getauft. Dass sich die Kirche über Jahrhunderte hinweg in Bezug auf diese Fragen selbst nicht einigen konnte, zeigen etwa die teilweise üblichen Bestattungen längs der Kirchengebäude, die sogenannten «Traufkinder». Sie sind wohl als Zeichen dieser Ambivalenz zu deuten. Durch das niederrieselnde Dachwasser des Kirchengebäudes wurden die Kinder sozusagen postmortal getauft. Auch im protestantischen Volksglauben war diese Auffassung noch lange vertreten. 61 Am 20. April 2007(!) bewertete Papst Benedikt XVI die Lehre des Limbus puerorum «als eine nicht vom Lehramt unterstützte, ältere theologische Meinung. (...) Es bleibe jedoch eine Theorie, die die Kirche nicht verurteile und den Gläubigen zubillige». 62 Im Jahr 1713 wurden in der Landgrafschaft Thurgau die paritätischen Friedhöfe vermessen und zwischen den beiden Konfessionen aufgeteilt. Das hatte zur Folge, dass die evangelischen ungetauften Kinder ohne


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