Auf Spurensuche im 19. Jahrhundert · Zeichnungen und Aquarelle von Johann Alphons Berkmüller

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Seine Zeit

Wängi. Es beschreibt in seinem Bericht die Situation denn auch drastischer: «Die ausschliessliche Fabrikbeschäftigung ist für die physische wie geistige Entwicklung der Generationen von bedeutendem Nachtheile, zumal bei der bisher üblichen Arbeitszeit von 13 bis 13½ Stunden per Tag. Diese Zeit ist für Erwachsene, geschweige denn für 12- und 13-jährige Kinder zu lang. (...) Beinahe alle sind darin einig, dass 12 Stunden Arbeit per Tag überaus genug sei.» «Nachtarbeiten sind für die Arbeiter nicht bloss von physischem, sondern besonders auch von ökonomischem Nachtheil. Darum ist es auch nur billig, dass die Nachtarbeit (...) mit doppeltem Ansatze des Taglohnes bezahlt werden soll. Dass hierüber sich das Gesetz bestimmt aussprechen müsste, versteht sich von selbst.» «Kinder, die neben der Schulzeit von Morgens 5 oder ½ 6 Uhr bis 7 oder ¼ 8 Uhr und dann Abends von 4 oder ½ 5 Uhr an bis ½ 8 Uhr in den Fabriken arbeiten müssen, sind körperlich und geistig abgemattet und betrachten die Schule als Ruheort; sie können auch keinerlei Hausaufgaben lösen, bleiben zurück, nehmen den Lehrer mehr in Anspruch und sind Hemmungen für die andern Kinder. Sie kommen dann auch mit ihren Fabrikkleidern in die Schule und verderben die Atmosphäre.» 29

Der Amtsarzt Hermann Walder vermerkt in seinen Erinnerungen an Wängi, dass zwar «gegenüber der früheren Keller-Weberei, die infolge schlechter Beschaffenheit der Luft, namentlich wegen zu geringem O-Gehalt (Sauerstoff) durch die jahraus jahrein mangelnde Besonnung doch häufig zu Anämie (Blutarmut) und Tuberkulose führte, die Verhältnisse (in den neuen Fabriken) doch bedeutend besser waren.» 30 1877 trat dann das erste Eidgenössische Fabrikgesetz in Kraft. Es untersagte die Fabrikarbeit für Kinder unter 14 Jahren vollständig. Zudem wurde die tägliche Arbeitszeit auf elf Stunden beschränkt. 31 In diesem Umfeld also lebte und bewegte sich Alphons Berkmüller. Seine Lebenszeit fiel zusammen mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Er hat in einer Welt tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche gelebt. Als verantwortlicher Buchhalter der Spinnerei und späteren Weberei Wängi war er – wenn auch als Kaderangestellter vielleicht nicht persönlich betroffen – so doch über all diese Zustände bestens informiert. Es fällt schwer zu glauben, dass er sich darüber nicht seine Gedanken gemacht hat. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass seine Zeit für viele Menschen keine Blütezeit war. Vielmehr war das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert der grossen Widersprüche: Aufbruchsstimmung und hohe Erwartungen auf der einen und grenzenlose Enttäuschungen und ein bislang unvorstellbares Elend auf der andern Seite. Auch auf dem Lande herrschten Armut, Ausbeutung, Kinderarbeit, Alkoholismus sowie soziale und politische Ungleichheit. 1847 musste der

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