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Sehgewohnheiten früher und heute

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Wängener Hefte

Wängener Hefte

14 nügend Zeit gehabt, nach Hause zurückzukehren und zu berichten. Und Berkmüller hätte genügend Zeit gehabt, die Szene in seine Zeichnung einzufügen. Das Bourbakiereignis wird uns später nochmals begegnen.

Bevor wir vollständig in die faszinierende Berkmüllersche Bilderwelt eintauchen, und bevor wir vor lauter Staunen und Bewunderung die Zeit rund um uns herum vergessen, sind zum besseren Verständnis des Menschen Berkmüller und zur besseren Würdigung seines Wirkens ein paar grundsätzliche Überlegungen sinnvoll. Aus diesem Grund wollen wir uns eingangs einige wenige historische und kunsthistorische Fakten in Erinnerung rufen und uns schrittweise der Frage nähern, inwiefern sich Berkmüllers Bilderwelt mit seinem Weltbild deckt.

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Sehgewohnheiten früher und heute

Mit welchen Augen betrachten wir Menschen des 21. Jahrhunderts Darstellungen aus der Zeit zwischen 1840 und 1880? Was erzählen uns die Zeichnungen und Aquarelle von Alphons Berkmüller? Was berührt uns an seinen Darstellungen? Oder anders gesagt: Was macht deren Faszination aus?

Heute sind wir in unserem modernen Alltag gezwungen, die ständig auf uns einwirkende Flut analoger und digitaler Bilder zu filtern und einzudämmen. Permanent reagieren wir auf immer neue Reize, wechseln andauernd den Blick und eilen schon weiter zum nächsten Bild. Versonnenes Verweilen auf einem einzelnen Ausschnitt liegt nicht drin. Wir könnten ja etwas Wichtiges verpassen. Langsamkeit ist aus unserem Alltag, sei es am Arbeitsplatz, im öffentlichen Verkehr oder zu Hause im privaten Bereich, verschwunden oder gar zum Ärgernis geworden. Unsere Sehgewohnheiten sind nicht mehr diejenigen unserer Vorfahren. Wir haben uns den Erfordernissen des digitalen Zeitalters angepasst. Wir sind schneller. Wir wechseln gleich zum nächsten Bild. Wir fassen ganzheitlicher auf. Wir ordnen rascher ein. Wir haben in unserer modernen Welt gar keine Wahl. Berkmüller aber hat seine Darstellungen nicht für unsere Sehgewohnheiten gemacht. Unser heutiges Sehen war ihm gänzlich fremd.

Zwar schuf auch er seine Werke in einer Zeit des Umbruchs. Als Angestellter in der Textilindustrie spürte er die für damalige Verhältnisse rasante Mechanisierung und die Umstellung von Hand- auf Maschinenarbeit aus nächster Nähe. Er war Teil einer technischen Revolution, ganz ähnlich, wie wir heute im 21. Jahrhundert Teil der digitalen Revolution sind.

Warum ist von diesem Umbruch und den damit verbundenen Unsicherheiten in Berkmüllers Werk so wenig zu spüren?

Wir wissen aus der Geschichte, dass in schwierigen Phasen historischer Umbrüche rasch einmal der Wunsch nach dem Einfachen aufkommt. Damals wie heute. Wohl schon immer mochten die Menschen die Verhältnisse lieber einfacher, als sie in Wirklichkeit sind. Das gilt nicht zuletzt für die historische Rückblende. Zu gerne erliegen wir solch zeitlichen Verkürzungen und romantischen Verklärungen. Nehmen wir den Schäfliplatz 1871 mit seinem emsigen und geschäftigen Treiben: Alles geordnet, alles verlorene Vergangenheit.

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