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Hingabe und Unrast

134 ist dort von der ersten und hier bereits von der dritten Sammlung die Rede. Man kann das nur so verstehen, dass sich das Geschäft mit den Berkmüllerschen Liedersammlungen für die Buchhandlung Scheitlin und Zollikofer ausbezahlt hat und dass dabei auch für Alphons Berkmüller Tantiemen herausgesprungen sind. In Anbetracht dieser unerwarteten Entdeckungen stellt sich in Bezug auf die Berkmüllerschen Liedtexte eine interessante Frage: Im Thurgau nimmt man Alphons Berkmüller auf Grund seiner Beziehungen zum grossen Reformer Thomas Bornhauser ebenfalls als republikanischen Freigeist wahr. Er erscheint mit seinen Vaterlandsliedern ganz in die Reihe der freigeistigen Patrioten eingereiht. Wenn nun aber die Königlich Preussische Zensurbehörde diese Lieder zulässt, kann deren Inhalt nicht ausgesprochen polit- oder systemkritisch gewesen sein. Patriotisch sicher, politisch kaum; pathetisch ja, revolutionär nein.

Vielleicht hat im fernen Preussen genau dieses vaterländische Pathos verfangen.

In der Sammlung des Ortsmuseums Wängi sind diese vierstimmigen Liedtexte nicht erhalten geblieben. Was hingegen all die Jahre im Estrichboden überdauert hat, ist die bereits erwähnte Sammlung von 12 dreistimmigen Liedsammlungen. Ebenfalls von Scheitlin und Zollikofer herausgegeben.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang noch ein kleines Gedicht auf der Umschlaginnenseite der bereits abgebildeten Liedersammlung mit zwölf dreistimmigen Gesängen für die reifere Jugend.103 Es stammt von einem gewissen Langbein. Die ersten zwei Zeilen lauten: «Menschen, die nach Schäzen trachten,/Sind stumm und grämlich, wenn man singt;». Es muss sich beim Verfasser um August Ernst Friedrich Langbein handeln, einem norddeutschen Dichter, welcher von 1734 bis 1824 gelebt hat. Er hatte zeitweise das Amt des Preussischen Zensors für schönwissenschaftliche Schriften inne. Gemäss Überlieferung soll er ein verhältnismässig milder Zensor gewesen sein. Ob die Idee, ein Zitat von Langbein an den Anfang der Liedersammlung zu setzen, von Berkmüller oder vom Verleger stammt, wissen wir nicht. Der Verbreitung des Werkes in Preussen hat es auf alle Fälle nicht geschadet.

Hingabe und Unrast

Als Zeichner haben wir Berkmüller vor unserem inneren Auge an seinem Stubentisch in seine Arbeit vertieft gesehen. Und wir haben uns ausgemalt, wie er mit bedingungsloser Hingabe und völlig in seine Bilderwelt versunken Strich neben Strich setzte, gleichzeitig höchst konzentriert und dennoch irgendwie gedankenverloren.

Als Chormusiker aber haben wir ihn von einer ganz andern Seite kennen gelernt, nämlich als Dirigent, der mit seinem Chor unermüdlich an einem Gemeinschaftswerk arbeitet und es letztlich zusammen mit seinen Sängern zur vollendeten Darbietung bringt.

Wie viel Engagement hat er in die Leitung des Männerchors am Immenberg, in seine verlegerischen Aktivitäten und in seine verschiedenen Aufgabenbereiche im Rahmen des Vorstandes des Thurgauischen Kantonalgesangverbands investiert! Regel-

mässige Chorproben in Matzingen, Vorstandssitzungen in Frauenfeld, Weinfelden, Kreuzlingen usw., «Abgeordnetenversammlungen» und Jahrestreffen, Einsitznahme in Jurys zur Bewertung von Wettbewerbsliedern, Teilnahme an kantonalen Chortreffen und Wettbewerben, Besprechungen mit dem Verleger in St.Gallen; wie wohl Berkmüller das alles bewältigt hat? Welche Unrast ihn wohl getrieben hat? Das einzige Verkehrsmittel im Murgtal – wie im ganzen Kanton – zur damaligen Zeit war die Postkutsche. Und die verkehrte ab Wängi täglich gerade einmal mit einem einzigen Kurs in jede Richtung. Frauenfeld ab 10.15 und Wil an 11.55 und in der umgekehrten Richtung Wil ab 14.00 und Frauenfeld an 15.40. Da kam es Berkmüller gelegen, dass die Chorproben des Männerchors in Matzingen jeweils am Sonntagmorgen nach dem Gottesdienst in der Kirche stattfanden. So erwischte er möglichweise die Morgenkutsche in Richtung Wil. Um einigermassen ermessen zu können, wie Berkmüller sein Reisepensum überhaupt bewältigen konnte, halten wir zwei Jahreszahlen gegeneinander: 1823 wurde die Spinnerey Wängi am Ufer der Murg gegründet, und Berkmüller trat als Buchhalter seine Stelle an. Neun Jahre später, also 1832, be-

Ausschnitt aus der Postkurskarte von 1852. PTT-Archiv, Post-199 A_0008_Wängi_TG. Reproduktion mit Genehmigung des Postarchivs. Arabische Zahlen geben die Uhrzeit am Morgen an, römische am Nachmittag und Abend. Bei der Angabe 3 4/8 in der Mitte der Strecke handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um das vormetrische Längenmass der Wegstunden1. Die definitive Einführung der metrischen Längenmasse Meter und Kilometer trat erst 1877 in Kraft. 1 Eine Wegstunde ist die Strecke, welche ein Fussgänger in einer Stunde zurücklegt. In der Schweiz galt bis 1876 eine Wegstunde = 16 000 Fuss. Dies entspricht einer Strecke von 4.8 Kilometern. 135

136 schloss der Staat, die Murg beim Nachbardorf Hunzikon zu korrigieren, was dann den Bau einer Strasse in der Talsohle erlaubte.104 Bis dahin existierte nur die Alte Landstrasse, welche von Matzingen über den Sonnenhof und den Schönenberg nach Münchwilen führte; also weit an der Fabrik vorbei. Die mit Baumwollpacken voll beladenen Pferdefuhrwerke zur Fabrik und die mit Stoffballen vollbepackten Wagen von der Fabrik mussten demnach die ersten zehn Jahre zunächst die Steigung von der Fabrik am Fluss bis zur Landstrasse in der Höhe schaffen, ehe sie nach links in Richtung Frauenfeld oder nach rechts in Richtung St. Gallen abbiegen konnten. In Richtung St. Gallen war bereits nach etwa zwei Kilometern im Schönenberg der Wegzoll fällig, nämlich «Von jedem Pferd oder Zugvieh, so vor einer geladenen Kutsche, Chaise, Wagen oder Karren gespannen 2 Kreuzer».105

Wer die Karte von 1839 genau betrachtet, erkennt an der Strasse zum einen ein «Z». Das ist die Zollstation im Schönenberg. Zum andern entdeckt man der Strasse entlang zwei stiellose Kelchgläser. Das sind Kartensymbole für die beiden Wirtschaften Schönenberg und Stegenhof. Im wenige Kilometer entfernten Matzingen wartete dann bereits die nächste Möglichkeit auf eine Einkehr der Fuhrleute und der Wanderer.

Ausschnitt aus einer frühen Landkarte aus dem Jahre 1839. 1 Die sogenannte «Alte Landstrasse» von Frauenfeld nach Wil führt als einzige Verbindung zwischen den beiden Städten über die Hügelzüge längs des Murgtales. Dort blieb die Strasse vor den jährlichen Überschwemmungen der Murg geschützt. Die Strasse in der Talsohle, und damit an der Weberei vorbei, wurde erst nach der Murgkorrektion in den Jahren 1841/42 gebaut. Inv.Nr. G 5494. Ortsmuseum Wängi. 1 Der Canton Zürich mit seinen näheren Angränzungen. Gezeichnet und herausgegeben von Heinrich … dler, Zürich Untere Zäune Nr. 367. vermehrt und …. 1839. Es könnte sich um eine frühe Ausgabe im Stil der kurz darauf erscheinenden Dufourkarten handeln.