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Wängi im 19. Jahrhundert
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Seine Zeit
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Wängi im 19. Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert war eine sehr bewegte Epoche. Überall, in Europa, in der Schweiz, im Murgtal und in Wängi prägten rasante Veränderungen in Gesellschaft und Politik, in Technik und Kultur die Zeit. Einer beispiellosen Aufbruchstimmung auf der einen Seite standen die Sorgen und der Kampf ums tägliche Überleben auf der anderen Seite entgegen.
Besonders tiefgreifend gestaltete sich dieser Aufbruch in der Textilindustrie auch oder gerade im Kanton Thurgau. Georg Y. Wyler spricht 1971 in einem Aufsatz denn auch nicht von Auf-, sondern von Umbruch.7
Die Herstellung von Leinwand aus Hanf oder Flachs stand schon im 17. Jahrhundert im Vordergrund der kantonalen Textilproduktion. Zahlreiche lokale Leinwandweber lieferten ihre Stoffe in die Zentren des Leinwandhandels. Zum Beispiel nach Konstanz. Am Ende des 18. Jahrhunderts begann sich dies zu ändern, und die Baumwollindustrie breitete sich aus. Im Unterschied zur Flachs- und Hanfspinnerei liess sich Baumwolle mechanisch verarbeiten. Die ersten grossen mechanischen Spinnereien entstanden in Frauenfeld (1814), Lommis (1817) und in Wängi, wo der Schaffhauser Regierungsrat Georg Michael Stierlin-Joos mit J.C. Bachmann von Schönenberg-Anetswil8 zusammen im Jahre 1823 die «Gesellschaft der Mechanischen Spinnerey in Wengi» gründete.
Die erste mechanische Weberei im Thurgau entstand 1837 in Wängi, nämlich als Nebenbetrieb der erwähnten Spinnerei. Dieser Betrieb nahm in der Folge einen solchen Aufschwung, dass der Personalbestand bald auf mehrere Hundert Arbeiterinnen und Arbeiter9 anstieg. In der sogenannten Erdbebennacht vom 16. November 1911 brannte das Spinnereigebäude nieder. Die Spinnerei wurde aufgegeben und dafür die Weberei modernisiert.
Soweit die Ausführungen von Wyler. Wovon er nicht spricht, sind die Auswirkungen dieser industriellen Entwicklungen auf das Leben der Menschen. Und damit gerade auch der Wängemer Dorfbevölkerung, wozu auch die Familie Berkmüller gehörte.
Einen ersten kleinen Hinweis auf den veränderten Alltag der Menschen in Wängi liefert die sogenannte «Webereiglocke» im Ortsmuseum. Sie ist in Bronze gegossen und trägt die Aufschrift H * IM 1594. Die Bezeichnung «Webereiglocke» ist irreführend. Der historischen Erzählung nach stammt sie ursprünglich aus der Kapelle beim Schloss Spiegelberg (bei Wetzikon Kanton Thurgau). Auf einer Zeichnung von Berkmüller ist die gesamte Schlossanlage schön zu erkennen. Allerdings hat er das Schloss nicht mehr mit eigenen Augen sehen können. Er hat die Ansicht der «Neuen und Vollständigen Topographie der Eidgnossschaft» von David Herrliberger entnommen.10 Die Schlossanlage war nach Johann Conrad Fäsi bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts «im Abgang befindlich» und «weil man sie nit ergänzet, endlich zerfallen».11 1821 wurde als letztes auch die Kapelle abgebrochen. Dieses
Datum passt dann allerdings zur Gründung der Spinnerei Wängi im Jahre 1823. Es ist gut möglich, dass die Glocke aus der Kapelle Spiegelberg tatsächlich auf dem Dachstuhl der Weberei in Wängi landete, zumal einer der Firmengründer aus der Gegend stammte und vom Abbruch der Kapelle in der Nachbarschaft wohl Kenntnis hatte.12
Als die Textilindustrie ins Murgtal einzog, gab es weit und breit keine Leute mit den erforderlichen Fachkenntnissen. Die mechanische Spinnerei Wängi benötigte bei ihrem Start 1823 aber bereits 160 Arbeiterinnen und Arbeiter. Die ansässige Landbevölkerung musste erst für die Arbeit in der Fabrik gewonnen werden. Ihre bisherige Arbeit auf dem Hof richtete sich nach Jahreszeiten, Wetter, Tieren, Pflanzen und andern Gegebenheiten. Ganz anders die Arbeitszeiten in der Fabrik. Die Maschinen starteten pünktlich um 05:00 und stellten um 19:30 ab. Bei jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter, für Alt oder Jung. Die Leute mussten in ihrem Arbeitsrhythmus umgewöhnt werden! Jeden Tag die gleichen Arbeitszeiten und das ganze Jahr dieselbe Arbeit. Die Glocke der Kapelle kam aufs Fabrikdach. Sie rief die Menschen nicht mehr zum Gottesdienst, sondern zur Arbeit. Diese folgten dem Ruf vom Fabrikdach herunter. Die Industrialisierung veränderte nicht nur ihren gewohnten Tagesablauf, sie prägte in tiefgreifendem Masse
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Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Schloss Spiegelberg. Bleistift. 11.5 x 7.5 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. Anmerkung: «nach einer Chronik». BmKat. Nr. 37. Ortsmuseum Wängi. Auf dem Burghügel das Schloss, dann der Halsgraben und die kleine Kapelle mit dem Dachreiter samt Glocke. Anschliessend Ökonomiegebäude. Als Vorlage diente Berkmüller ein Kupferstich von David Herrliberger aus dem Jahre1754. S. 96.
20 ihr Verhältnis zur Arbeit. Später wurde die Glocke durch die Fabriksirene ersetzt.13
Ob sich Berkmüller mit diesen Zusammenhängen befasst hat und ihm die Herkunft der Glocke bekannt war, wissen wir nicht. Er hat das Glockentürmchen getreu der Vorlage festgehalten. Später taucht dasselbe Glockentürmchen auf dem Dach der Spinnerei auf. Nach dem Fabrikbrand von 1911 wurde die Glocke in einem Magazin eingelagert und befindet sich heute im Besitz des Ortsmuseums Wängi.14 Bei der Suche nach Arbeitskräften kam es, nach heutigem Empfinden, auch da und dort zu Missbräuchen wie etwa der Kinderarbeit. Kinder, welche im ausgehenden 18. Jahrhundert zu Hause bei der Heimarbeit im eigenen Webkeller als Ansetzer und Aufstecker15 sowie beim Einsammeln der Baumwollfusseln unter den Webstühlen mitgeholfen hatten, wurden zusammen mit deren Eltern in die Fabrik übernommen. Sie waren kleiner und kamen unter den Maschinen eher zurecht als Erwachsene. Kam dazu, dass Kinder und Frauen sich bei der manuellen Feinarbeit wie zum Beispiel dem Einziehen der Fäden in die feinen Litzen geschickter erwiesen als die Männer mit ihren groben Bauernhänden. Die Kinderarbeit innerhalb der eigenen Familie galt bislang als allgemein üblich und zunächst stiess sich auch kaum jemand daran. Erst mit der Industrialisierung geriet dieses traditionelle Erwerbsgefüge, wo jedes Mitglied der Familie seinen Beitrag zu leisten hatte, aus den Fugen.

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Spinnerei und Weberei Wängi vom Schlossberg aus gesehen. Ausschnitt. Bleistift. Ganze Zeichnung 11.5 x 7.5 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 21. Ortsmuseum Wängi. Die Zeichnung ist auf 1848 oder kurz davor zu datieren. Das Glockentürmchen auf dem Dach der Spinnerei Wängi ist deutlich zu erkennen.
Verstösse gegen die Disziplin am Arbeitsplatz wurden teilweise noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein mit Körperstrafen geahndet.
Wie viele Arbeitskräfte zu Berkmüllers Zeiten aus dem Ausland nach Wängi zuzogen, ist nicht bekannt. Eine entsprechende Liste existiert erst ab ca. 1832. Berkmüller war also 1823 ein Zuwanderer der ersten Stunde. Wir finden im Verlaufe seines Lebens verlässliche Hinweise einer erfolgreichen Integration, doch davon später mehr.
Auch die zu jener Zeit nicht seltenen Auseinandersetzungen zwischen der Fabrikherrschaft und den Angestellten über Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen müssen Berkmüller beschäftigt haben. Die Folgen all dieser Auseinandersetzungen finden ja letztlich auch in der Buchhaltung ihren Niederschlag. Und dafür war er zuständig.
Die offen laufenden Transmissionsanlagen stellten für die Arbeiter an den Webstühlen eine ständige Verletzungsgefahr mit zum Teil fürchterlichen Folgen dar. Fabrikrechtliche Regelungen zur Sicherheit der Arbeitsplätze sowie Kranken- und Unfallversicherungen wurden im 19. Jahrhundert erst mit der Zeit politisch erstritten und in Kraft gesetzt. Die thurgauische Fabrikkommission hält denn auch fest: «Es kommt vor, dass selbst sehr augenfällige, gefährliche Stellen nicht genügend geschützt sind (…) so dass also vielfach die Möglichkeit vorliegt, dass Kleider oder Körpertheile von den Maschinen ergriffen werden.»16
Websaal mit Transmissionsantrieb. Die Rotation der Turbine draussen am Farbrikkanal wurde auf Wellen an der Saaldecke übertragen und von dort mit offen laufenden Riemen an die Webmaschinen weitergeleitet. Ort und Datum unbekannt. Reproduktion. Fotosammlung Ortsmuseum Wängi. 21

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Im Ortsmuseum befindet sich ein Verzeichnis der Arbeiterinnen und Arbeiter der Spinnerei und Weberei Wängi aus der Zeit zwischen 1832 und 1911. Ein Alphons Berkmüller kommt darin nicht vor. Möglich ist, dass Kadermitarbeiter in einer separaten Liste aufgeführt wurden. Trotzdem lohnt sich ein Blick in dieses Dokument. Neben Namen, Wohnort, Geburtsdatum und Funktion sind jeweils die Termine des Ein- und des Austritts und in der letzten Spalte der Grund für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses vermerkt. Gerade letztere vermitteln ein eindrückliches Bild der damaligen Arbeits- und Anstellungsverhältnisse. «Prahlerischen Kerlen», «Blauenmachern» sowie «Betrunkenen» und «Süffeln» wurde ebenso gekündigt wie «Eigenartigen Naturen».17 Auch «Rebellisches Benehmen gegen den Aufseher» oder «Grobheiten gegen Mitarbeiter» werden als Kündigungsgründe erwähnt. Gleich dutzendweise findet sich der Vermerk «Durchgebrannt»; einmal sogar «Durchgebrannt. Frau und Kind im Stich lassend».
Die Arbeitsverhältnisse scheinen mindestens zeitweise auffallend angespannt gewesen zu sein. Einige Einträge betreffend Entlassung «wegen Krankheit», wegen «Läusen» oder «wegen Schulden» weisen auf die damals noch mangelhafte soziale Absicherung der Arbeitnehmer hin. Auch ein Vermerk «War schon längere Zeit als unwohl zu Hause» findet sich in dieser frühen Personaldatei. 1884 hat ein Arbeiter nach seinem Austritt «beim Hinausgehen sein Zeugnis zerrissen auf den Pult gelegt». Bei einem Carderie-Arbeiter18 aus dem Deutschen steht der Hinweis «Soll nie mehr angestellt werden». Eine Ansetzerin und ein Spinner,

Ausschnitt aus dem Verzeichnis der Arbeiter in der Weberei Stierlin & Co. Fabrik in Wängi ca. 1832 bis 1911. Inv.Nr. G 358. Ortsmuseum Wängi.
beide aus Quarten am Walensee, «lebten im Concubinat und wurden durch die Polizei ausgewiesen». 1887 hat ein Arbeiter ans Statthalteramt geschrieben, dass an Samstagen die Arbeitszeit nicht richtig eingehalten werde. «Es war aber unrichtig». Der Landjäger hat den Mann dann gleich am Arbeitsort «abgefasst».19 Wer im Archiv der Bürgergemeinde Wängi nach Spuren der Familie Berkmüller sucht, stösst in der Sammlung der «Ausgegebenen Heimatscheine»20 aus dem Jahre 1853 auf folgenden Eintrag: Am 9. September stellt die Bürgergemeinde der ledigen Katharina Stutz von Waier, einen Heimatschein aus. Einen Tag später, am 10. September folgt ein weiterer Heimatschein für «das Kind von Obiger, namens Anna Stutz». Das Kind ist zu diesem Zeitpunkt 22 Wochen alt. Zweck der Ausstellung der amtlichen Dokumente: «Auswanderung nach Amerika».
Dass die ledige Mutter denselben Namen trägt wie Berkmüllers Frau Katharina zu ihren ledigen Zeiten ist ein Zufall. Das Schicksal aber berührt. Wir kennen die Gründe der Auswanderung mit einem 22 Wochen alten Kind nicht. Auf alle Fälle sah Katharina Stutz im kleinen Wängi keine Zukunft mehr für sich als ledige Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Der Aufbruch – oder die Flucht – in die Ungewissheit erschien ihr als der bessere Weg. Ob seitens der obrigkeitlichen Armenbehörde oder seitens des kirchlichen Sittengerichts Druck auf die junge Mutter ausgeübt wurde, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Denkbar wäre es.21
Solche Geschichten haben damals in Wängi mit seinen paar Hundert Einwohnern mit Sicherheit die Runde gemacht. Man hat sich gekannt.22 Dieses Einzelschicksal im Zusammenhang mit den bereits erwähnten zahlreichen Arbeiterschicksalen in der Textilindustrie hat die Leute beschäftigt. Wohl nicht zufällig sind in der Hinterlassenschaft der Familie Berkmüller denn auch Ausschnitte aus einem Buch eines Amerikaauswanderers zum Vorschein gekommen.23 Davon wird an anderer Stelle eingehender berichtet.
Ob zu den Aufgaben des Buchhalters Berkmüller in der Weberei auch die Führung
Ausschnitt mit Begründungen zur Aufhebung der Arbeitsverhältnisse aus dem Verzeichnis der Arbeiter in der Weberei Stierlin & Co. Fabrik in Wängi ca. 1832 bis 1911. Inv.Nr. G 358. Ortsmuseum Wängi. 23

24 des Arbeiterverzeichnisses gehört hat, wissen wir nicht. Gewusst hat er von den zahlreichen Arbeitskonflikten und den tragischen Einzelschicksalen aber mit Bestimmtheit. Jede Auflösung eines Arbeitsverhältnisses hinterlässt ihre Spuren in der Buchhaltung. Wie er damit umgegangen ist, wissen wir nicht. Weder in seinen Zeichnungen noch in den Gedichten seiner Frau finden sich auch nur die kleinsten Hinweise.
Solche Sozialprobleme, geschaffen durch die aufkommende Fabrikarbeit, waren weit über Wängi hinaus ein allgemein zu beobachtendes Phänomen. Schlechte Ernährung, Zerrüttung der Familien, Alkoholismus und ganz allgemein die «liederliche Lebensweise der Arbeiterschaft».24 Auch das 1803 geschaffene Schulgesetz geriet mit der Industrialisierung in Konflikt. Zwar sah das Gesetz einen allgemeinen Schulbesuch für alle Kinder vor. Gleichzeitig gingen diese vom siebenten Altersjahr an in die Fabrik. Laut Inspektoratsberichten schwänzten die Kinder den Schulbesuch massiv, um an den Spinnmaschinen arbeiten und ein paar Kreuzer zum Familienunterhalt beisteuern zu können.25
Aufschlussreich für das Verständnis von Berkmüllers beruflichem Umfeld ist auch ein Blick in den Bericht der Kommission über das Thurgauer Fabrikwesen.26 Mitverfasser des Berichts ist der Wängemer Dorfarzt Hermann Walder. Zwar datiert der Bericht erst aus dem Jahre 1869 und Berkmüller ist da bereits 67 Jahre alt. Vielleicht hat er aber die Besuche der Fabrikinspektoren oder des Amtsarztes noch erlebt. Kommt dazu, dass Berkmüllers und Walders an der Dorfstrasse in Wängi Nachbarn waren. Vielleicht wurde beim Gespräch über den Gartenzaun manchmal darüber gesprochen. Auf alle Fälle gelten die im Bericht geschilderten Umstände durchaus für ein paar Jahrzehnte vor 1869. In Bezug auf die Baumwollspinnerei Wängi heisst es unter anderem:
«Von den 35 Kindern, Winteralltagsschüler und Repetirschüler, welche zum Ansetzen und Aufstecken verwendet werden, arbeiten nur wenige zeitweise neben der Schule. 3/4 bis 4/5 zeigen gutes Aussehen und genügende Ernährung, die übrigen sind blass und kränklich, wobei die Familienarmuth und das Arbeiten neben der Schule unverkennbar Einfluss ausübt.»27
Und zur Weberei lautet der Bericht:
«Von den 3 männlichen und 68 weiblichen (Zettlerinnen und Spulerinnen inbegriffen) Arbeitern sind 10 kränklich, theils ärmeren Familien angehörig, theils bleichsüchtige Mädchen. Die Schlichter blass und kränklich.»
Die kantonale Kommission zieht ein klares und unmissverständliches Fazit:
«Es ist richtig, dass man unter denselben eine viel geringere Anzahl robuster, kräftiger Persönlichkeiten trifft, als unter einer gleich grossen Zahl Landarbeiter. Anaemie (Blutschwäche) mit ihren Folgen ist unter ersteren häufiger.»28
Viel näher an den konkreten Einzelschicksalen war aber in seinem seelsorgerischen Alltag das katholische Pfarramt
Wängi. Es beschreibt in seinem Bericht die Situation denn auch drastischer:
«Die ausschliessliche Fabrikbeschäftigung ist für die physische wie geistige Entwicklung der Generationen von bedeutendem Nachtheile, zumal bei der bisher üblichen Arbeitszeit von 13 bis 13½ Stunden per Tag. Diese Zeit ist für Erwachsene, geschweige denn für 12- und 13-jährige Kinder zu lang. (...) Beinahe alle sind darin einig, dass 12 Stunden Arbeit per Tag überaus genug sei.»
«Nachtarbeiten sind für die Arbeiter nicht bloss von physischem, sondern besonders auch von ökonomischem Nachtheil. Darum ist es auch nur billig, dass die Nachtarbeit (...) mit doppeltem Ansatze des Taglohnes bezahlt werden soll. Dass hierüber sich das Gesetz bestimmt aussprechen müsste, versteht sich von selbst.»
«Kinder, die neben der Schulzeit von Morgens 5 oder ½ 6 Uhr bis 7 oder ¼ 8 Uhr und dann Abends von 4 oder ½ 5 Uhr an bis ½ 8 Uhr in den Fabriken arbeiten müssen, sind körperlich und geistig abgemattet und betrachten die Schule als Ruheort; sie können auch keinerlei Hausaufgaben lösen, bleiben zurück, nehmen den Lehrer mehr in Anspruch und sind Hemmungen für die andern Kinder. Sie kommen dann auch mit ihren Fabrikkleidern in die Schule und verderben die Atmosphäre.»29
Der Amtsarzt Hermann Walder vermerkt in seinen Erinnerungen an Wängi, dass zwar «gegenüber der früheren Keller-Weberei, die infolge schlechter Beschaffenheit der Luft, namentlich wegen zu geringem O-Gehalt (Sauerstoff) durch die jahraus jahrein mangelnde Besonnung doch häufig zu Anämie (Blutarmut) und Tuberkulose führte, die Verhältnisse (in den neuen Fabriken) doch bedeutend besser waren.»30 1877 trat dann das erste Eidgenössische Fabrikgesetz in Kraft. Es untersagte die Fabrikarbeit für Kinder unter 14 Jahren vollständig. Zudem wurde die tägliche Arbeitszeit auf elf Stunden beschränkt.31
In diesem Umfeld also lebte und bewegte sich Alphons Berkmüller. Seine Lebenszeit fiel zusammen mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Er hat in einer Welt tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche gelebt. Als verantwortlicher Buchhalter der Spinnerei und späteren Weberei Wängi war er – wenn auch als Kaderangestellter vielleicht nicht persönlich betroffen – so doch über all diese Zustände bestens informiert. Es fällt schwer zu glauben, dass er sich darüber nicht seine Gedanken gemacht hat.
Er musste zur Kenntnis nehmen, dass seine Zeit für viele Menschen keine Blütezeit war. Vielmehr war das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert der grossen Widersprüche: Aufbruchsstimmung und hohe Erwartungen auf der einen und grenzenlose Enttäuschungen und ein bislang unvorstellbares Elend auf der andern Seite. Auch auf dem Lande herrschten Armut, Ausbeutung, Kinderarbeit, Alkoholismus sowie soziale und politische Ungleichheit. 1847 musste der
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