Auf Spurensuche im 19. Jahrhundert · Zeichnungen und Aquarelle von Johann Alphons Berkmüller

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Berkmüller als Chormusiker

Auch wenn für heutige Ohren das Lied etwas gar pathetisch tönt und stellenweise in den Vaterlandskitsch kippt, hat es sich erstaunlicherweise bis heute gehalten. Es spiegelt den Zeitgeist der Gründungszeit, und Berkmüller hat sich dem nicht entzogen. Heute würde man von einer gelungenen Integration eines Deutschen Einwanderers in den Thurgau sprechen. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich sowohl die politische Rolle der Chöre als auch die Einstellung zum gemeinsamen Gesang verändert. «Die Hauptaufführung bildet den Glanzpunkt des Festes. Am Schlusse der Einzelvorträge sammeln sich die Sänger, um in gemeinsam gesungenem Liede der Verbrüderung und dem Zusammengehen Ausdruck zu geben! ( … ) «Man sang für Freiheit und Vaterland,» schrieb Emil Brenner 1928 im Jubiläumsheft 100 Jahre Kantonalgesangverein. 96 Ganze vier Jahrzehnte hielt dieses vaterländische Denken die Sänger zusammen. Mit der Zeit gerieten aber die Vorträge der einzelnen Chöre immer mehr zum Wettbewerb. Juroren übernahmen die Bewertung. Ab 1848 nannte man sie «Kampfrichter». Diese bewerteten die Liedvorträge und erteilten Punkte, welche zu einer Rangierung führten. Das Misstrauen der Sänger in die «Kampfgerichte» wuchs und führte zu «Hader und Zwietracht». Statt wie früher 600 Sänger beteiligten sich nur noch 200 an der Hauptaufführung, immerhin dem Höhepunkt jedes Sängerfestes. Der Aktuar des Verbandes hielt mit unverhohlener Enttäuschung fest: «Viele Sänger betraten die Bühne, gaben dort ihre Kontrollkarten ab und verliessen das Podium gleich wieder,

bevor der Gesang begann.» Verschiedene Vereine kehrten zudem dem Verband den Rücken und traten aus. 97 Kantonale Gesangsfeste wurden nur noch alle zwei Jahre durchgeführt. Man schaffte auch die «patriotische Vielrederei» an den Gesangsfesten ab. Der inbrünstige Liedvortrag wurde allmählich abgelöst vom Bemühen um musikalische Qualitäten. Beurteilt wurden nun die stimmliche Reinheit, die korrekte Tonbildung, die Aussprache, der Rhythmus und die Dynamik. Allerdings hat dies die Kritik gegenüber der intransparenten Bewertung nicht beruhigt. Auch der Sängerbund am Immenberg passte sich der Zeit an und zerfiel in einzelne Dorfchöre. 1872 wurde der «Sängerbund Wängi» gegründet und gehörte von Beginn weg zu den zehn grössten des Kantons. Zwei Jahre später errang er mit seinem Liedvortrag am 43. kantonalen Gesangsfest den Ehrenkranz aus Eichenlaub. Alfons Berkmüller war da schon 72 Jahre alt und wohl nicht mehr Chordirigent. Wie sehr ihn dieser politische Bedeutungsverlust der Thurgauer Männerchöre und später der Gemischten Chöre beschäftigt oder gar geschmerzt hat, wissen wir nicht. Auf alle Fälle stopfte er seine Sammlung an Chornoten als Isolationsmaterial in den Estrichboden seines 1870 erworbenen Hauses an der Dorfstrasse und überlieferte sie so – wohl unbeabsichtigt – der Nachwelt.

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Zwischenhalt auf unserer Spurensuche

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Berkmüllers Beitrag zum Thurgauer Chorwesen

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Die Männerchöre im 19. Jahrhundert

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Wängi im 19. Jahrhundert

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