Paracontact d 1/2022

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LEBENSBERATUNG

SUIZIDGEDANKEN

Wenn alles zu viel wird

Maurizio Coldagelli, Paraplegiker und teilweise sehbehindert, erzählt von seinem beschwerlichen Weg zurück ins Leben.

Von Gabi Bucher

Es war an einem Montagabend, am 6. August 2012. Maurizio Coldagellis Arbeitstag war eigentlich zu Ende, aber sein Arbeitge­ ber bat ihn, auf einer Baustelle noch kurz etwas zu überprüfen. «Und dann wollte es das Schicksal, dass ich in einem Aufzugsschacht über zehn Meter in die Tiefe stürz­te. Ich habe mir den Rücken gebrochen, einen Teil meines Sehvermögens verloren, ich kann nicht mehr gehen und lebe im Rollstuhl.» So fasst Maurizio die Geschichte seines Unfalls zusammen, mit ein paar wenigen Worten, fast lakonisch mit einem Achselzucken, und doch spürt man seine Betroffenheit. In der Blüte des Lebens Der Verunfallte wurde sofort ins Spital Chur gebracht. An die ersten Tage dort erinnert er sich nicht mehr. Nach zwei Mo-

naten und mehreren grossen Operationen war er stabil genug für den Transfer ins Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. «Dort begann ich, zusammen mit den Ärztinnen, Pflegenden, den Therapeuten und den Mit­ arbeitenden der Sozialberatung, den riesigen Berg, der sich vor mir aufgebaut hatte, zu erklimmen.» Es werde viel Zeit brauchen und viel Geduld, hätten die Ärzte ihm erklärt, und sie seien nicht sicher, ob er das Bett je verlassen könne. «Ich war aufgrund der grossen Wunde über Monate hinweg nahezu ohne Bewegung im Bett. Als ich dann in den Rollstuhl transferieren konn­te, merkte ich erst, was mit mir passiert war.» Er habe realisiert, dass nun die Rä­ der seine Beine waren und dass er all das, was er vorher gemacht habe, nicht mehr machen konnte. «Das war ein ganz schwerer Moment», meint er rückblickend. «Ich

Die Familie trägt Maurizio Coldagelli durch herausfordernde Zeiten

war damals gerade 40 Jahre alt, in der Blüte meines Lebens. Ich habe so viel gemacht, ich lebte mein Leben in vollen Zügen, ging gerne fischen, jagen und war unglaublich gerne in den Bergen unterwegs! Der Unfall hat mich komplett ausgebremst.» Der Sinn des Lebens Er habe gemeint, wenn er mal oben auf dem Berg angekommen sei, werde alles einfacher. «Der Abstieg war zwar einfacher, aber es gab immer noch viele Probleme.» Es habe so viel Kraft gebraucht, so viel Geduld, und dazu immer diese Schmerzen. Maurizio ist direkt, er beschönigt nichts. Er war während seines Aufenthaltes im SPZ auch bekannt dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. «Manchmal waren die Kollegen im Rollstuhl peinlich berührt, wenn ich sie auf heikle Themen wie zum Beispiel das Darmmanagement ansprach. Aber wir sassen alle im selben Boot. Es bringt nichts, alles in sich hineinzufressen, man muss es aussprechen, das hilft.» Es habe viele schwarze Tage gegeben, wo er sich gefragt habe, wie es weitergehen soll. «Ich sah den Sinn des Lebens nicht mehr. Es brauchte alles so viel Kraft und ich fragte mich, warum ich das meiner wunderbaren Frau und meinen beiden Söhnen, damals erst zwei und neun Jahre alt, antun sollte. Ich empfand mich als Last.» Man wünsche sich doch nur, dass je­ne, die man liebe, glücklich und zufrieden seien. Einen Moment der Schwäche Trotz der permanenten Umsorgung, dem Rückhalt seiner Familie und der Freunde gab es eine Zeit, wo Maurizio die Hoffnung zusehends verlor. Er hatte keine Perspek-

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