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Strom für die Blase

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Yvonne Rölli

Yvonne Rölli

UROLOGIE

Neuromodulative Verfahren können Störungen der Blasen- und Darmfunktion mindern. Stromimpulse über Elektroden wirken auf das Nervensystem und verbessern die Steuerung des Organs.

Von Dr. Jens Wöllner, Prof. Dr. med. Jürgen Pannek, SPZ

Eine Querschnittlähmung führt in vielen Fällen zu einer irreversiblen Störung der Blasen-, Darm- und Sexualfunktion. In Abhängigkeit von Höhe und Ausprägung der Rückenmarksläsion können verschiedene Funktionsstörungen resultieren. Grundsätzlich unterscheidet man Störungen der Blasenspeicherphase, mit ungehemmten Kontraktionen des Blasenmuskels, die zu einer Harninkontinenz führen können, sowie Störungen der Entleerungsphase, mit fehlender Aktivität des Blasenmuskels und inkompletter oder fehlender Entleerung der Blase. Auch die Darmfunktion ist beeinträchtigt, was sich in massiver Verstopfung (Obstipation) oder auch in unfreiwilligem Stuhlverlust (Stuhlinkontinenz) äussern kann. Die genaue Funktionsstörung wird im Rahmen der Erst-Rehabilitation diagnostiziert und therapeutisch begleitet. Wenn immer möglich, kommen zu diesem Zeitpunkt konservative Verfahren zum Einsatz. Nach einem Jahr stellt sich meist ein chronischer Zustand ein; sollten sich zu dieser Zeit die Funktionsstörungen nicht konservativ (manuelle Therapie, Urotherapie, medikamentös) beheben lassen, kommen zum Teil minimal-invasive Verfahren zum Einsatz wie etwa die Botox-Behandlung der Blase oder die perkutane und invasive Neuromodulation.

In der Regel wird diese Therapie als Kaskade bzw. als Eskalationstherapie durchgeführt. Man beginnt mit einem konservativen Verfahren und wechselt, falls dieses nicht die gewünschte Wirkung zeigt, auf die nächsthöhere bzw. invasive Therapiemethode.

Neuromodulation

Es gibt zwei neuromodulative Verfahren. Beim perkutanen Verfahren, auch PTNS genannt, erfolgt die Stromapplikation für einen bestimmten Zeitraum über Klebelektroden durch die Haut. Bei der sakralen Neuromodulation geben Elektroden an die Nervenfasern im Kreuzbeinbereich permanent Strom ab. Die Verfahren können sowohl bei Spastik der Blase als auch bei chronischer Harnretention (Unfähigkeit, die Blase komplett zu entleeren) eingesetzt werden. Auch bei Darmfunktionsstörungen findet die sakrale Neuromodulation Anwendung. Beide Verfahren transportieren den applizierten Strom über periphere Nerven und das Rückenmark zum Gehirn, wo der Impuls verarbeitet, in absteigende Nervenimpulse umgeleitet und dem Endorgan (Blase/Darm) zugeführt wird. Aus diesem Grund ist für eine erfolgreiche Therapie eine ausreichende Restfunktion des Rückenmarks notwendig, um die Impulse weiterzuleiten.

Es bedarf zunächst einer ausführlichen Diagnostik, um die Art der Funktionsstörung genau zu erfassen und zu klassifizieren. In besonderen Situationen können

Sakrale Neuromodulation

Einliegende Elektroden für die Neuromodulation der Sakralnerven S3 mit Impulsgebern

noch zusätzliche Untersuchungen der Nervenfunktion oder eine zusätzliche Bildgebung (z.B. MRI der Wirbelsäule) notwendig werden.

Wenn alle Ergebnisse vorliegen, werden die Befunde und die Therapieoptionen miteinander besprochen. Hierbei spielen die Art und Schwere der Funktionsstörung, Eigenschaften der Betroffenen (z.B. Alter, Mobilität), die Wünsche der Patientinnen und Patienten sowie die Erfolgsaussichten eine Rolle.

Therapie mit PTNS

Die PTNS-Therapie erfolgt meist aufgrund von Drangbeschwerden und Dranginkontinenz als Folge einer überaktiven Blase. Ist die Therapie durch Medikamente nicht ausreichend, oder werden die Medikamente nicht vertragen bzw. nicht gewünscht, kann diese Art der «Stromtherapie» durchgeführt werden. Wichtig ist die genaue Kenntnis, wie ausgeprägt die Blasenfunktionsstörung ist. Daher wird die Entscheidung zur Therapie anhand von objektivierbaren, medizinischen Messwerten in Verbindung mit den Beschwerden der Betroffenen getroffen. Ist diese Therapie medizinisch sinnvoll, erfolgt ein Kostengutsprache-Gesuch an die Kostenträger, da das Verfahren nicht automatisch von den Krankenkassen bezahlt wird.

Das PTNS-Verfahren erfolgt über Klebelektroden an der Innenseite des Fusses im Knöchelbereich oder oberhalb des Kreuzbeins. Nach einer ausführlichen Einweisung durch das Fachpersonal führen die Betroffenen über drei Monate diese Therapie zu Hause durch, in der Regel einmal täglich für 20 bis 30 Minuten.

Durch die PTNS-Therapie erfolgt eine Art Langzeittraining des Nervensystems, d.h. ein direkter Effekt nach wenigen Tagen ist nicht zu erwarten. Während der dreimonatigen Therapiephase wird der Verlauf durch regelmässige Dokumentation im Blasentagebuch erfasst. Nach sechs Wochen erfolgt eine erste Kontrolluntersuchung. Nach Abschluss der dreimonatigen Stimulation erfolgt eine weitere Kontrolluntersuchung, in der abgeklärt wird, ob sich auch eine objektive Besserung eingestellt hat. Der Vorteil dieses Verfahrens ohne Nebenwirkungen liegt in der einfachen Anwendung im häuslichen Umfeld.

Sakrale Methode

Die sakrale Neuromodulation kann sowohl bei überaktiver Blase als auch bei chronischer Restharnbildung eingesetzt werden. Hierbei werden die Sakralnervenäste S2 bis S4 mittels implantierter Elektroden stimuliert. Das Einbringen der Elektroden erfolgt im Rahmen einer kurzen Operation unter Narkose (40–60 Minuten). Unter radiologischer Kontrolle und Elektrostimulation werden die Elektroden platziert. Diese Elektroden werden mit Verlängerungskabeln verbunden. Diese Kabel werden aus der Haut ausgeleitet. Die Elektrode liegt folglich nichtsichtbar im Körper. An den Verlängerungselektroden befinden sich kleine, etwa fünf Franken grosse Teststimulatoren, die man an einem Gürtel trägt. Je nach zu Grunde liegendem Krankheitsbild kann das Einbringen von Elektroden ein- oder beidseitig erfolgen. In den folgenden drei bis sechs Wochen wird die optimale Programmierung der Elektroden getestet und die Blasen-/Darmfunktion in einem Tagebuch dokumentiert. Am Ende der Testphase wird über den Erfolg oder Misserfolg entschieden. Haben sich die Symptome und Blasenfunktion zufriedenstellend gebessert, erfolgt die Implantation der definitiven Impulsgeber. Hierbei werden diese im Bereich der Gesässregion unter der Haut eingebracht, ohne dass diese von aussen sichtbar sind. Die Betroffenen können über einen externen Kontroller, quasi eine Fernbedienung, die Geräte steuern und so z.B. bei Bedarf die Stromstärke reduzieren. Die sakrale Methode bewirkt eine dauerhafte Modulation des Nervensystems, im Gegensatz zur PTNS-Therapie ist kein Lerneffekt zu erwarten. Wenn kein Strom fliesst, lässt der Effekt schnell nach. Daher handelt es sich um eine Dauertherapie. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der guten Wirksamkeit und einfachen Anwendung, sobald das System eingestellt ist.

Keine allgemeingültige Lösung

Die neuromodulativen Verfahren sind moderne Therapieoptionen der Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Sie stimulieren das Nervensystem und setzen damit am Ursprung der Störung an; sie führen zu keinen Veränderungen an Blase und Darm, sondern sie versuchen, die Steuerung der betroffenen Organsysteme zu verbessern. Aufgrund der unterschiedlichen Wirkweise der Systeme kann, falls eine Technik nicht erfolgreich sein sollte, das andere Verfahren dennoch hilfreich sein. Es ist jedoch vor Beginn einer solchen Behandlung zwingend eine ausführliche Diagnostik notwendig, um die Funktionsstörung exakt zu erfassen und den Betroffenen eine Therapie anbieten zu können. Denn auch hier gilt: Keine Lösung passt für alle.

Es erfolgen regelmässige Kontrollen beim Implantations-Zentrum. Die Geräte werden über eine Bluetooth-Verbindung ausgelesen, kontrolliert und bei Bedarf auch umprogrammiert. Aktuell existieren zwei Anbieter. Alle Geräte inklusive der Elektroden sind MRI-gängig, so dass auch mit einem dauerhaft implantierten Gerät eine MRI-Untersuchung möglich ist. Es gibt Geräte, die mit Batterie betrieben werden, die je nach Stromverbrauch alle fünf bis acht Jahre in einer kleinen Operation ausgetauscht werden muss. Zum anderen gibt es Systeme, die man durch die Haut ein- bis zweimal wöchentlich auflädt und die 10 bis 15 Jahre halten. Welches System am besten geeignet ist, wird vor dem Eingriff gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten besprochen und festgelegt. Anschliessend ist in der Regel eine jährliche Kontrolle notwendig.

Kontakt Urologie Schweizer Paraplegiker-Zentrum urologie.spz@paraplegie.ch Tel. 041 939 59 22

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