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Wenn alles zu viel wird

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Yvonne Rölli

Yvonne Rölli

SUIZIDGEDANKEN

Maurizio Coldagelli, Paraplegiker und teilweise sehbehindert, erzählt von seinem beschwerlichen Weg zurück ins Leben.

Von Gabi Bucher

Es war an einem Montagabend, am 6. August 2012. Maurizio Coldagellis Arbeitstag war eigentlich zu Ende, aber sein Arbeitgeber bat ihn, auf einer Baustelle noch kurz etwas zu überprüfen. «Und dann wollte es das Schicksal, dass ich in einem Aufzugsschacht über zehn Meter in die Tiefe stürzte. Ich habe mir den Rücken gebrochen, einen Teil meines Sehvermögens verloren, ich kann nicht mehr gehen und lebe im Rollstuhl.» So fasst Maurizio die Geschichte seines Unfalls zusammen, mit ein paar wenigen Worten, fast lakonisch mit einem Achselzucken, und doch spürt man seine Betroffenheit.

In der Blüte des Lebens

Der Verunfallte wurde sofort ins Spital Chur gebracht. An die ersten Tage dort erinnert er sich nicht mehr. Nach zwei Monaten und mehreren grossen Operationen war er stabil genug für den Transfer ins Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. «Dort begann ich, zusammen mit den Ärztinnen, Pflegenden, den Therapeuten und den Mitarbeitenden der Sozialberatung, den riesigen Berg, der sich vor mir aufgebaut hatte, zu erklimmen.» Es werde viel Zeit brauchen und viel Geduld, hätten die Ärzte ihm erklärt, und sie seien nicht sicher, ob er das Bett je verlassen könne. «Ich war aufgrund der grossen Wunde über Monate hinweg nahezu ohne Bewegung im Bett. Als ich dann in den Rollstuhl transferieren konnte, merkte ich erst, was mit mir passiert war.» Er habe realisiert, dass nun die Räder seine Beine waren und dass er all das, was er vorher gemacht habe, nicht mehr machen konnte. «Das war ein ganz schwerer Moment», meint er rückblickend. «Ich

Die Familie trägt Maurizio Coldagelli durch herausfordernde Zeiten war damals gerade 40 Jahre alt, in der Blüte meines Lebens. Ich habe so viel gemacht, ich lebte mein Leben in vollen Zügen, ging gerne fischen, jagen und war unglaublich gerne in den Bergen unterwegs! Der Unfall hat mich komplett ausgebremst.»

Der Sinn des Lebens

Er habe gemeint, wenn er mal oben auf dem Berg angekommen sei, werde alles einfacher. «Der Abstieg war zwar einfacher, aber es gab immer noch viele Probleme.» Es habe so viel Kraft gebraucht, so viel Geduld, und dazu immer diese Schmerzen. Maurizio ist direkt, er beschönigt nichts. Er war während seines Aufenthaltes im SPZ auch bekannt dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. «Manchmal waren die Kollegen im Rollstuhl peinlich berührt, wenn ich sie auf heikle Themen wie zum Beispiel das Darmmanagement ansprach. Aber wir sassen alle im selben Boot. Es bringt nichts, alles in sich hineinzufressen, man muss es aussprechen, das hilft.» Es habe viele schwarze Tage gegeben, wo er sich gefragt habe, wie es weitergehen soll. «Ich sah den Sinn des Lebens nicht mehr. Es brauchte alles so viel Kraft und ich fragte mich, warum ich das meiner wunderbaren Frau und meinen beiden Söhnen, damals erst zwei und neun Jahre alt, antun sollte. Ich empfand mich als Last.» Man wünsche sich doch nur, dass jene, die man liebe, glücklich und zufrieden seien.

Einen Moment der Schwäche

Trotz der permanenten Umsorgung, dem Rückhalt seiner Familie und der Freunde gab es eine Zeit, wo Maurizio die Hoffnung zusehends verlor. Er hatte keine Perspek-

Suche nach dem neuen Lebenssinn

Wenn ein Mensch mit heftigen Krisen wie bei einer Erkrankung oder einem Unfall mit schwerwiegenden Folgen konfrontiert wird, kommen Gefühle wie Angst, Wut, Verzweiflung, Trauer auf.

Die Person durchlebt die unterschiedlichen Phasen der Verarbeitung mit Fragen wie: «Warum musste das passieren? Wie komme ich am schnellsten wieder in mein altes Leben zurück? Werde ich es je schafen, wieder unter meinen Freunden zu sein, arbeiten zu können, eine gute Mutter, guter Vater, guter Partner zu sein? Will ich so weiterleben?»

Das Leben verändert seine bekannte Farbe und das neue Bild muss noch entstehen. Da sich alte Erfahrungen, bisherige Visionen und Überzeugungen sowie Gefühle von Verlust vermischen, können die inneren Zustände auch mal sehr grau werden. Dies kann dazu führen, das Leben, so wie es jetzt ist, nicht mehr als lebenswert zu empfinden.

Auch wenn diese Zeiten sehr schwer sind und im Moment kein Ausweg sichtbar ist, gehören sie bei einem einschneidenden Ereignis oft zum Teil des Verarbeitungsprozesses. Viele Aspekte sind unbekannt und dies stellt jede betrofene Person vor existenzielle Fragen. In diesen Zeiten ist es hilfreich, sich Unterstützung zu holen und darüber zu reden mit Freunden, Angehörigen oder mit Fachpersonen. Als Sozialarbeiterin nehme ich Suizidäusserungen sehr ernst und eruiere als erstes, ob eine akute Gefahr zur Umsetzung besteht und ob weitere Fachpersonen zugezogen werden müssen.

Auch anerkenne ich die aktuelle Empfindung von Ausweglosigkeit. Dabei stelle ich mich zur Verfügung, diese gemeinsam näher zu erkunden. Der Wunsch, dem Leben ein Ende setzen zu wollen, hat in der Zeit kurz nach dem Er eignis häufig mit der Suche nach dem neuen Sinn zu tun. Ich erlebe es als hilfreich, die konkreten Handlungen im Alltag oder die Interessen durchzugehen und gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen: Was davon läuft gut? Was kann noch geweckt werden? Manchmal ist es dabei möglich, Teilaspekte der neuen Lebenswelt zu klären. Wichtig ist, möglichst viel zu konkretisieren: Wie werden die finanziellen Leistungen aussehen? Wie werde ich wohnen? Wie mobil und selbstständig kann ich sein? Kann ich mich meinen Angehörigen so zumuten? Wie können sich Beziehungen zu Freunden gestalten?

Mit Maurizio Coldagelli haben mehrere Trefen stattgefunden, um möglichst viele Mosaiksteine des neuen Bildes zu beleuchten. In solch intensiven Phasen ist es wichtig, Ansprechpersonen zu haben, um all seine Gedanken und Gefühle auszudrücken und sich dadurch getragen zu fühlen.

Daniela Vozza, Lebensberatung

tiven mehr, keinen Lebensinhalt. Der Boden war ihm sprichwörtlich unter den Füssen weggezogen worden, er war am Ende. «Wenn ich jeweils auf dem Balkon sass, um etwas frische Luft zu schnappen, sah ich die Züge in Nottwil vorbeifahren und langsam reifte der Entschluss, meinem Leben ein Ende zu setzen.» Eines Tages war er so weit – er fuhr Richtung Bahngleis. «Ich hatte einen Moment der Schwäche», erklärt er. Was ihn im letzten Moment davon abgehalten habe, die Tat wirklich umzusetzen, wisse er nicht genau. «Ich glaube, es war der Gedanke an meine Familie und an all jene Menschen, die mir nahe sind und mich lieben.»

Maurizio tat, was er immer noch tut, wenn es ihm schlecht geht: Er hielt inne, dachte nach und beschloss, vorwärts zu schauen und weiterzumachen. Er ist überzeugt, dass dieser Moment sehr wichtig gewesen sei für ihn und sein weiteres Vorwärtskommen. «Ich hatte den absoluten Tiefpunkt erreicht und es gab nur zwei Auswege: Entweder mein Leben zu beenden oder vorwärtszugehen.» Als er kurz danach seiner Frau gestand, was er beabsichtigt hatte, habe sie erwidert: «Was würde ich denn tun, wenn du nicht mehr da wärst? Wer würde mit mir die Kinder grossziehen?»

Es gebe immer noch viele Schwierigkeiten in seinem Alltag, meint er, auch wenn er jetzt zu vielem fähig sei, was er anfänglich nie für möglich gehalten habe. «Es gibt Tage, wo ich aufwache und nichts geht. Da frage ich mich wieder, was ich hier eigentlich mache.» Dann denke er an all das, was er bereits erreicht habe und wundere sich, warum dieser Tag so sei, wie er sei. «Will ich das oder kann ich etwas dran ändern, verbessern?» Wie er es schaffe, dies alles auszuhalten? «Ich weiss es nicht», sagt er lachend, «ich hätte mir nie so viel Geduld zugetraut und ich weiss auch nicht, woher sie kommt. Vielleicht entwickelt sie sich einfach in dieser Situation?» Und wie gelingt es ihm trotz allem, stets zu lächeln? «Es bringt nichts, wütend zu sein. Ja, es gibt Schwierigkeiten, fast täglich, aber ich gebe nicht auf, man darf einfach nicht aufgeben», wiederholt er mit Nachdruck.

ORTE DER HOFFNUNG

Maurizio erzählt seine Geschichte im Kurzfilm «Verankerung» aus der Serie «Orte der Hofnung».

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