FOKUS
INCLUSION HANDICAP
Meldestelle für Opfer von IV-Willkür Regelmässig werden Missstände bei den IV-Gutachten publik. Seit Februar 2020 betreibt Inclusion Handicap eine Meldestelle, an die sich Betroffene wenden können. Von Nadja Venetz
Immer wieder steht die IV in der Kritik. Gutachter sollen tendenziöse Einschätzun gen und fehlerhafte Beurteilungen zur Ar beitsfähigkeit der Betroffenen liefern. Da mit werden Menschen mit Behinderung Versicherungsleistungen verwehrt, die ihnen zustehen. Ende 2019 gerieten mehrere Fälle, die ein haarsträubendes Vorgehen der Gutachter aufzeigten, an die Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Berichterstattung sowie mehrerer parlamentarischer Vorstösse gab Bundesrat Alain Berset eine externe Unter suchung der Vorkommnisse in Auftrag. In der Annahme, dass es sich nur um die Spitze des Eisbergs handle, richtete Inclu sion Handicap per Ende Februar 2020 eine Meldestelle ein. Wer glaubt, dass er ein Opfer von IV-Willkür ist, kann seine Erleb nisse hier platzieren. Der politische Dach verband der Behindertenorganisationen will so Hinweise sammeln, wie viele Per sonen und in welcher Art und Weise sie von unfairen Gutachten betroffen sind. Die Meldestelle eruiert mit einem anonymi sierten Fragebogen die Geschehnisse und die unterschiedlichen Einschätzungen der verschiedenen involvierten Personen (be troffene Person, Anwalt, Arzt usw.) dazu. 100 Prozent arbeitsfähig Bereits 48 Stunden nach Inbetriebnahme verzeichnete die Meldestelle 80 Eingaben. Anfang Oktober 2020 veröffentlichte In clusion Handicap einen Zwischenbericht. Nach sieben Monaten gingen 256 Meldun gen von Versicherten ein. Hinzu kamen Meldungen von Rechtsvertretern und Ärz ten. 53 Meldungen allein betrafen die Ar beitsfähigkeit. Gutachter stuften die Ver sicherten zu 100 Prozent arbeitsfähig ein, Paracontact I Frühling 2021
während die behandelnden Ärztinnen aber eine Arbeitsfähigkeit von 0 Prozent attes tierten. Diese Fälle zeigen die klare Ten denz der harten Gangart in den Gutach ten auf. Zweifelhafte Praktiken Ebenfalls besorgniserregend: 10 Versicher te gaben an, dass das Abklärungsgespräch nicht mehr als 20 Minuten dauerte. Es kam also vor, dass ein 15-minütiges Gespräch darüber entschied, ob jemand eine IVRente erhält oder nicht, unabhängig da von, zu welchem Schluss der behandelnde Arzt gekommen ist. Solche Zustände sind für Versicherte schwer zu ertragen. Denn die IV-Stellen und die Gerichte folgen prak tisch ausschliesslich den Gutachten. 20 Mal meldeten Ärztinnen und Ärzte, dass die Gutachten nicht dem medizinischen Stan dard entsprachen. Die überwiegende Mehr heit der Versicherten berichtete, dass die Diagnosen nicht oder nur teilweise über einstimmen. Mehr als die Hälfte äusserten, die Gutachtergespräche hätten in schlech tem Klima stattgefunden. Teilweise seien sie beleidigt worden. Mehrfach meldeten Versicherte, dass ihnen die Gutachter un terstellten, zu simulieren. Oder die Gut achter interessierten sich nicht für die An
forderungen, welche die jeweiligen Berufe voraussetzen, und fällten dennoch Urteile über die Arbeitsfähigkeit der betreffenden Person. Qualität sicherstellen Aufgrund der Meldungen stellt Incusion Handicap folgende Forderungen: 1. Die Behörden müssen die Qualität der Gutachten in jedem Fall sicher stellen. Fehlbare Gutachter gehören aus dem Verkehr gezogen. 2. Fälle, bei denen Versicherte keine oder zu wenig IV-Leistungen erhalten haben, weil die Qualität der Gutachten nachweislich schlecht war, müssen neu aufgerollt werden. 3. Alle Gutachten müssen nach dem Zufallsprinzip vergeben werden. 4. Eine Drittperson soll beim Gutachter gespräch dabei sein. Die allermeisten Versicherten, die sich bei der Melde stelle gemeldet haben, stehen dem Vorschlag positiv gegenüber.
Mit der IV-Weiterentwicklung, die ab 2022 in Kraft treten soll, sind erste Verbesserun gen geplant. So sind z. B. die Gutachtergespräche aufzunehmen. Ein guter Schritt in die richtige Richtung.
MELDESTELLE Haben auch Sie negative Erfahrungen gemacht? Dann melden Sie dies auf: www.umfrageonline.ch/s/IV_AI. Die SPV ist Mitglied bei Inclusion Handicap und mit Olga Manfredi im Vorstand vertreten. Wir unterstützen das Anliegen nach mehr Transparenz der politischen Dachorganisation und verfolgen die Diskussion aktiv.
47