4 minute read

TECHNOLOGIE

Next Article
FÜR SIE DA

FÜR SIE DA

TECHNOLOGIE

Das Exoskelett nach Mass

Forscher der École Polytechnique Fédérale von Lausanne (EPFL) arbeiten seit 2015 an einem Exoskelett, welches sich den Wünschen und Zielen der Nutzer anpassen lässt.

Von Gabi Bucher

Jeder Mensch ist einzigartig. Auf dieser Erkenntnis ist das Exoskelett TWIICE aufgebaut. Der Name TWIICE ist abgeleitet vom englischen Wort twice (deutsch: zweimal, doppelt). Das DoppelI steht für das Zusammenspiel zwischen dem Exoskelett und seinem Piloten, sowohl physisch als auch verhaltensmässig. Mensch und Maschine bewegen sich parallel und perfekt ausgerichtet. Das von Tristan Vouga geleitete Projekt begann 2015 in der REHAssistForschungsgruppe der EPFL, unter der Leitung von Dr. Mohamed Bouri. Enttäuschte Querschnittgelähmte, welche die strikten Kriterien der bestehenden Exoskelette nicht erfüllten, bewegten die Forscher dazu, ein modular aufgebautes Gerät zu entwickeln. Dieses soll sich den verschiedenen Morphologien, Pathologien, Erfahrungen und Zielen der Nutzer anpassen. Jeder Nutzer soll profitieren, indem er ei ne selbst gewählte Aktivität ausübt, welche ihn interessiert und ihm Spass macht.

Ausgefeilte Technik

Wer nach 2014 in Nottwil hospitalisiert war, hat wohl bereits ein Exoskelett ausprobiert, dieses Gerät, welches die Beine mobilisiert und es erlaubt, aufzustehen und aufrecht zu gehen. Das Gelenksystem wird an den Schienbeinen und Oberschenkeln des Patienten befestigt und unterstützt Beine und Oberkörper. Leistungsstarke und kompakte Elektromotoren beugen und strecken Knie und Hüftgelenke und ahmen die natürlichen Bewegungen des Körpers beim Gehen nach. Beim TWIICE zum Beispiel helfen dem Nutzer zwei Krücken, das Gleichgewicht zu halten und den Apparat zu kontrollieren. Verschiedene Programme erlauben es, auf ebenem Gelände zu gehen, Treppen zu steigen, Steigungen von bis zu 35 Grad zu bewältigen und sogar Hindernisse von bis zu 10cm zu überwinden. Die Batterie, die im dorsalen Teil des Systems untergebracht ist, hält bei durchgehendem Gebrauch etwa drei Stunden. Ersatzbatterien, die weniger als ein Kilo wiegen, können in einem separaten Rucksack mitgenommen werden. Und, nicht unwichtig, TWIICE wiegt gerade mal 16kg.

Die Gesundheit profitiert

Exoskelette erlauben gewisse Tätigkeiten, welche im Rollstuhl nicht ausgeführt werden können, haben aber auch klare Grenzen. Sie gehören zwar noch nicht zum alltäglichen Gebrauchsgerät, der Gewinn ei ner gelegentlichen Verwendung ist jedoch beträchtlich. Einerseits ist da die bessere gesellschaftliche Integration durch die Möglichkeit, aufrecht zu stehen. Andererseits sind die physischen Vorteile einer aufrechten Haltung vielseitig. Verschiedene Studien legten dar, dass Patienten, welche das Exoskelett während einer gewissen Zeitspanne nutzten, Verbesserungen bei Spasmen, Knochenschwund, Darmtransit und neuropathischen Schmerzen zeigten. Auch Muskelmasse und Körperfett werden positiv beeinflusst. Gewisse Studien stellten sogar Verbesserungen in der Mobilität und Sensibilität der gelähmten Körperteile fest.

Spuren im Schnee

Die Equipe von TWIICE arbeitet eng mit Querschnittgelähmten zusammen, immer ausgehend von ihren Wünschen. Die Athletin Silke Pan zum Beispiel belegte 2016 mit TWIICE am Cybathlon den vierten Rang und 2020 gewann sie in diesem Wettbewerb sogar die Silbermedaille. Das Modell erlaubt schnelle und vielfältige Bewegungen und lässt sich sehr gut manövrieren.

Der Paraplegiker Martin Loos, vor seinem Unfall ein passionierter Skitourenfahrer, wünschte sich, endlich wieder einmal im Pulverschnee seine Spuren ziehen zu können. Sein grosser Traum: Eine Version, welche sich mit Tourenskiern nutzen lässt.

Tristan Vouga erinnert sich: «Die Entwicklungsarbeit vom Designprozess bis zur Produktion von Spezialteilen wurde in der Rekordzeit von nur einem Monat abgeschlossen.» Das adaptierte Exoskelett mit dem Namen WIITE lässt sich nun mit normalen Tourenskischuhen verwenden und erlaubt das Aufstehen und Klettern auf schneebedeckten Pisten. Einzige Bedingung: Der Anwender muss in der Lage sein, mit dem Oberkörper die Stöcke zu kontrollieren, die für Gleichgewicht und Kontrolle sorgen. Das Exoskelett wird manuell gesteuert, jede Aktion wird durch kurzes Drücken eines Auslösers an den Griffen der Krücken bzw. Skistöcke ausgelöst. «Bereits bei der dritten Trainingseinheit war Martin Loos in der Lage, auf Skiern herumzulaufen», erklärt Tristan Vouga. Nach einem weiteren Dutzend Sitzungen machte Martin Loos sich in Begleitung des gesamten Entwicklungsteams auf, einen mehrstündigen Ausflug zu unternehmen. «Zuerst war ich sehr konzentriert, bei jedem Schritt hatte ich Angst, das Gleichgewicht zu verlieren. Aber schon nach wenigen Minuten war ich zuversichtlich – und dann war es wie Zauberei», erzählt er. Im März 2020 erklomm er seinen ersten Gipfel auf 2300 m.ü.M. in 45cm tiefem Pulverschnee. Im Rahmen des Giro Suisse zeigANGEBOT

Ein Exoskelett für alle

Das Start-up TWIICE will diese Technologie zum Nutzen aller einsetzen: Jeder Interessierte kann eine Sitzung buchen, Zeitpunkt und Ort nach seiner Wahl. Ein Bewegungs-Coach bringt ein entsprechend eingestelltes Exoskelett mit, sei es für eine Übungssession zu Hause, für einen Ausflug mit der Familie in den Park, einen Spaziergang in der Stadt oder einen Apéro in einer Bar. Die Begleitung des Coaches garantiert ein angenehmes und sicheres Erlebnis. Diese Art von «Miete» erlaubt dem Benutzer, sich mit tiefen Kosten, langsam und ohne Risiko dem Exoskelett anzunähern. Zudem arbeiten die TWIICEIngenieure daran, ihr Exoskelett an andere Aktivitäten, Behinderungen und Körpertypen anzupassen.

te Martin Loos, wie es funktioniert. «Ich musste dafür zehn Meter Teppich kaufen gehen», erinnert er sich lachend. Auch seine Trainingseinheiten absolviert er in der Bibliothek der EPFL auf Teppich. «Es wäre zu umständlich, sich jeweils mit der ganzen Ausrüstung irgendwohin in den Schnee zu begeben.»

Im Handel gibt es verschiedene Anbieter. Wir haben uns entschieden, hier eines der Schweizer Produkte vorzustellen.

Informationen www.twiice.ch www.cybathlon.ethz.ch

This article is from: