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BERICHT EINER BETROFFENEN

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FÜR SIE DA

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BERICHT EINER BETROFFENEN

Mit dem Schmerz leben

Wenn Schmerzen allgegenwärtig werden, sind die psychosozialen Folgen oft katastrophal. Aber es gibt Lösungen. Ein Mitglied der SPV berichtet.

Von Jeanne Rüsch, Sozialarbeiterin, HES

In der letzten und der aktuellen Ausgabe des Paracontact hat uns Dr. Gunther Landmann in die multimodale Schmerzthematik eingeführt. Laut einer aktuellen Umfrage (SwiSCIStudie) sind 74% der Querschnittgelähmten in der Schweiz täglich mit Schmerzen konfrontiert.

Dies zeigt sich auch in unserem Bereich «Lebensberatung». Wir begleiten regelmässig Menschen, welche mit diesem Problem zu kämpfen haben. Für einige sind die Schmerzen so gross, dass sie mit der Zeit ihr gesamtes Leben negativ beeinflussen. Wir sehen aber auch immer wieder, wie beharrlich und mutig sich diese Menschen der Situation stellen und tagtäglich versuchen, ihre Schmerzen in den Griff zu bekommen. So auch Nasrine, welche seit Jahren mit sehr starken Schmerzen kämpft. Bis heute hat noch keine therapeutische Massnahme eine signifikante Linderung erbracht.

Wie es dazu kam

Nasrine erinnert sich noch gut an den Tag, an dem alles begann: Es ist der 18. November 1993 um 20.00 Uhr. Nasrine ist 14 Jahre alt. Sie hat unerträgliche Schmerzen, die in den ganzen Rücken ausstrahlen. Als sie auf dem Parkplatz des Spitals in Sion aus dem Auto ihrer Mutter steigt, um sich in die Notaufnahme zu begeben, kann sie kaum noch gehen. Sie wird hospitalisiert. Vier Wochen später wird sie für weitere eineinhalb Monate ins Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) verlegt. Hier fällt die Diagnose: Entzündung des Rückenmarks im Bereich der Halswirbelsäule, die eine spastische Tetraplegie verursacht.

Nach einem weiteren Aufenthalt im Spital in Sion kehrt Nasrine nach Hause zurück, wo sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern lebt. Es beginnt eine lange Zeit der Rehabilitation. Unzählige Physio und Ergotherapiebehandlungen folgen, gleichzeitig beendet sie ihre obligatorische Schulzeit. Ihre Emotionen sind spürbar, wenn sie erzählt von den Anstrengungen, welche diese Erkrankung ihr abverlangt hat und von ihrem Willen, ein Maximum an Mobilität zurückzugewinnen.

Vorübergehende Heilung

Nach der obligatorischen Schulzeit absolviert Nasrine eine zweijährige Anlehre am «Institut de NotreDame de Lourdes» in Sierre, einem Kompetenzzentrum in den Bereichen Pädagogik, Therapie und Rehabilitation für junge Menschen zwischen 4 und 18 Jahren. Anschliessend findet sie eine Lehrstelle in der Region bei einem Unternehmen, das sich auf den Verkauf von Teppichen spezialisiert hat, und absolviert dort erfolgreich ihren Abschluss als Innendekorateurin. Nasrine erinnert sich mit grosser Freude an diese Zeit in ihrem Leben, an das Glück darüber, ihre Lehre abgeschlossen zu haben und an die Zufrieden

heit ihres Arbeitgebers mit ihrer Arbeit. Und sie erinnert sich auch daran, dass sie damals keine Schmerzen hatte.

Rückfall bringt das Paar in Gefahr

2004 heiratet sie und zieht einige Jahre später nach Zürich, wo ihr Mann eine Stelle gefunden hat. Leider nehmen aber ein Jahr nach diesem schönen Ereignis die Schmerzen wieder zu, werden immer stärker und beeinträchtigen Nasrines Alltag noch zusätzlich zu den bereits bestehenden Einschränkungen durch die inkomplette Tetraplegie. Das brennende Gefühl strahlt mittlerweile in den ganzen Körper aus. Nur die eine Hälfte ihres Gesichts bleibt verschont.

Das Paar kehrt 2013 ins Wallis zurück und erwirbt eine schöne Wohnung im Herzen eines kleinen Winzerdorfes. Die Jahre vergehen. Trotz der Harmonie zwischen den beiden beeinflussen die gesundheitlichen Probleme zusehends das Eheleben auf negative Weise. Nasrine hat grosse Schwierigkeiten, sich zu bewegen und muss jedes Mal begleitet werden, wenn sie das Haus verlässt. Der Zufahrtsweg zu ihrem Wohnhaus ist viel zu steil, es wäre gefährlich, diesen allein zu bewältigen. Sie fühlt sich immer mehr gefangen in ihrer Wohnung und ist völlig abhängig von ihrem Mann. Er seinerseits wird durch seine Arbeit, den Haushalt, das Einkaufen, das Kochen und die Pflege seiner Frau bis zur Erschöpfung gefordert. Trotz ihrer Liebe und des Wunsches, zusammenzuhalten, werden Spannungen spürbar. Suizidgedanken und Depressionen kommen dazu und erschweren die Situation zusätzlich.

Lichtblick am Horizont

Am 25. September 2017 treffen wir Nas rine zum ersten Mal. Sie vertraut uns ihre Schwierigkeiten an, und wir stellen mit grosser Betroffenheit fest, wie sehr sie durch ihre gesundheitlichen Probleme leidet und eingeschränkt ist. An manchen Tagen sind die Schmerzen so stark, dass sie alles dafür geben würde, sich eine Stunde Gesundheit kaufen zu können. Und Nasrine erzählt uns auch von ihrem Mann, den sie in all seinen Aufgaben so gern mehr unterstützen würde.

Gemeinsam leiten wir bei der IV schnell die notwendigen Schritte ein, damit sie zusätzlich zu ihrer vollen Invaliditätsrente eine Hilflosenentschädigung und einen Assistenzbeitrag bekommt. Das würde einen Teil der Probleme lösen. Und wir schlagen ihr vor, der SPV beizutreten, damit sie deren Leistungen vollumfänglich in Anspruch nehmen kann.

Alles geht sehr schnell und einige Wochen später treffen die positiven Entscheide der IV ein. Nasrine macht sich unverzüglich daran, die nötigen Schritte einzuleiten. Dabei kann sie auf die wertvolle Unterstützung von Herrn Cicero der «Association intercommunale ADom» zählen. Er koordiniert die Umsetzung des Assistenzbeitrages und bringt Nasrine in Kontakt mit sehr kompetenten Mitarbeitenden. Am 24. Dezember 2017 unterzeichnen Nasrine und Sandra den ersten Arbeitsvertrag. Einige Tage nach dem Beginn ihrer Zusammenarbeit vertraut uns Nasrine an, wie glücklich und erleichtert sie ist, von ihrer Anwesenheit profitieren zu dürfen.

Zeit für eine Bilanz

Am 22. Dezember 2020 treffen wir Nasrine und ihren Mann zu Hause, um diesen Artikel zu schreiben. Seit der Vertragsunterzeichnung mit Sandra sind genau drei Jahre vergangen. Zwei weitere Mitarbeiterinnen, Myriam und Isabelle, wurden eingestellt. Nasrine nutzt die Gelegenheit, um allen drei von ganzem Herzen zu danken.

«Ohne diese Unterstützung wäre alles viel schwieriger.»

Dank der wertvollen Hilfe, Unterstützung und Freundlichkeit dieser Frauen habe sie ihren Platz in der Familie wieder gefunden, vertraut uns Nasrine an. Bereits die blosse Tatsache, dass sie beim Einkaufen oder beim Besuch ihrer Angehörigen begleitet wird, bedeutet ihr sehr viel. Aber vor allem ist sie nicht mehr nur auf ihren Mann angewiesen, wenn sie etwas braucht. Ein Anruf bei Myriam genügt und schon ist alles organisiert. Und ihre Anwesenheit tue ihr sehr gut, meint Nasrine, vor allem, wenn ihr Mann berufsbedingt tagelang abwesend sei. Er müsse sich jetzt keine Sorgen mehr machen um sie, und sie habe jetzt nicht mehr das Gefühl, sie falle ihm zur Last. Die Freude am gemeinsamen Leben ist zurück, sie konnten das Gleichgewicht in ihrer Ehe wiederherstellen. «Die Schmerzen kann ich nicht vergessen», sagt Nasrine, «aber die Unterstützung, die ich erhalte, hilft, sie wenigstens für ein paar Stunden beiseite zu legen».

Abschliessend möchte Nasrine festhalten, dass es bei einer schweren Krankheit wichtig sei, die von den Patienten angesprochenen Schmerzen ernst zu nehmen. Andernfalls könnten diese Menschen das Vertrauen verlieren und sich so noch mehr isolieren.

Informationen zum Assistenzbeitrag Lebensberatung der SPV Telefon 041 939 54 00 oder bei www.proinfirmis.ch (Rechtsratgeber)

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