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IM GESPRÄCH
IM GESPRÄCH
Gesundheit ist auch Kopfsache
Nadira Hotz ist Psychologin im SPZ. Als Rollstuhlfahrerin begegnet sie ihren Klienten nicht nur sprichwörtlich auf Augenhöhe.
Von Gabi Bucher und Nadja Venetz
Wie sieht dein Werdegang aus?
Ich arbeite seit zwölf Jahren als Psychologin, zuerst im Balgrist und nun seit elf Jahren hier im SPZ. Psychologie hat mich schon immer interessiert, in die Tat umgesetzt habe ich diesen Studienwunsch erst mit 40. Nach meiner Matura dachte ich zwar an Psychologie. Aber da ich zu diesem Zeitpunkt meine Querschnittlähmung noch nicht vollständig verarbeitet hatte (Motorradunfall mit 16 Jahren), zweifelte ich, ob ich genügend Empathie für «kleinere» Probleme aufbringen kann. Ich entschied mich für Wirtschaft, brach das Studium aber ab, gründete mit 24 Jahren eine Firma und verkaufte Rollstühle und Medizintechnik. Das machte ich bis zu meinem 40. Lebensjahr, dann verkaufte ich die Firma und fing mit dem PsychologieStudium an.
Die Psychologie hat dich also nie ganz losgelassen, was begeistert dich daran?
Ich mag Menschen, sie interessieren mich. In meiner Firma hatte ich oft mit Mitarbeitenden und Kunden zu tun, dabei faszinierte mich die Vielfältigkeit der Charaktere. Etliche meiner damaligen Kundinnen waren Mütter von mehrfach behinderten Kindern. Sie waren oft am Anschlag. Wenn ich ihnen sagte, sie sollten sich Hilfe holen,
erklärten sie meist, das bringe nichts, Psychologen würden ihre Probleme nicht verstehen. Als ich nach dem Verkauf meiner Firma ein PsychologieStudium begann, geschah das anfänglich aus reiner Neugier. Aus Spass legte ich die Prüfungen ab. Dann habe ich Blut geleckt und wollte einen Abschluss machen (lacht).
Und wie kamst du ins SPZ?
Ich kannte das Haus, weil ich damals Produkte meiner Firma ans SPZ verkaufte. Mir war früh klar, dass ich mein Praktikum hier machen wollte. Ich habe mich noch während des Bachelors als Praktikantin beworben. Aber die damalige Verantwortliche, Astrid König, winkte zunächst ab. Sie hätten so viele Bewerbungen, sie würden keine Studierende aus dem Ausland einstellen (Nadira Hotz studierte in Frankreich). Ich habe insistiert und argumentiert, worauf sie mich mit einer Wartezeit von zwei Jahren vertröstete. Ich erklärte ihr, das sei perfekt, ich würde das Praktikum eh erst während des Masters machen. Sie entgegnete nur: «Sie werde ich wohl nicht so einfach los!» Daraus entwickelte sich dann eine wunderbare Zusammenarbeit und Freundschaft.
Also war für dich klar, wenn Psychologie, dann mit Rollstuhlfahrern?
Ich habe in meiner Firma die Bedürfnisse erkannt. Zudem war ich als junge Frau in der deutschen Nationalmannschaft der RollstuhlBasketballerinnen aktiv. Vielen meiner Teamkolleginnen ging es psychisch nicht gut. Aber wenn ich ihnen sagte, sie sollten sich Hilfe holen, winkten sie ab. Sportpsychologie hätte mich zwar auch interessiert, aber als es im SPZ mit dem Praktikum klappte, beschloss ich, mich dem Thema Querschnittlähmung zu widmen. So kam das ins Rollen. Nach dem Praktikum konnte ich nicht bleiben, aber im Balgrist wurde eine Stelle frei. Nach einem Jahr konnte ich dann im SPZ anfangen. Letzten Sommer habe ich auf 40% reduziert und arbeite nebenbei selbstständig in meiner Praxis. warum sie Hilfe suchen, haben ein spezifisches Problem wie Alkohol, Albträume, Grübeleien usw. Mit einer gewissen Anzahl Sitzungen lässt sich dies meist lösen. Hier im SPZ läuft das anders. Als Erstes stellen wir uns dem Patienten vor und erklären ihm, dass wir für ihn da sind. Immer wieder sind Patienten überrascht, uns zu sehen, in der Überzeugung, doch nicht «krank im Kopf» zu sein. Dann müssen wir erklären, dass wir zur Unterstützung da sind, damit die Reha gut verläuft. Der Patient hat aber meistens keine Ziele. Ihn beschäftigen somatische Probleme, er denkt nicht an die Psyche.

Es ist also ein Angebot, das die Patienten annehmen können, wenn sie es wünschen?
Die Psychologie gehört zum ganzheitlichen RehaKonzept, das auch Angebote wie Kunst, Musik und Feldenkrais umfasst. Beim ErstrehaGespräch evaluieren wir die psychische Situation des Patienten und entscheiden, ob wir ihn regelmässig unterstützen und in welchem zeitlichen Rahmen. Falls der Patient die Unterstützung nicht in Anspruch nehmen will, muss er das nicht. Aber wir erfahren jeweils beim interdisziplinären Austausch, wie es ihm geht. Zudem kennen wir unsere Patienten mit der Zeit, wir haben unsere fix zugeteilte Station. Wenn wir merken, dass es jemandem nicht gut geht, steigen wir ein. Eine Reha verläuft ja nicht linear, der Patient macht am Anfang Fortschritte, dann stagniert er, die psychische Verfassung verschlechtert sich dann unter Umständen. Oder ein körperliches Problem taucht plötzlich auf und die Stimmung fällt wieder ab. Wir versuchen, den Patienten zu unterstützen, damit er psychisch stabil ist, die Reha gut verläuft und er mit Elan und Antrieb vorwärtskommt.
Bietet ihr auch Sitzungen mit den Angehörigen an?
Wir sind offen und flexibel und beziehen bei Bedarf Partner, Kinder, Eltern usw. mit ein. Oft sind die Angehörigen anfänglich mehr betroffen als der Patient selber. Er wird ja «umsorgt», die Angehörigen müssen sich aber um sehr vieles kümmern, während ihr Alltag normal weiterläuft. Bei regelmässiger Betreuung der Familien bieten wir die Unterstützung eher zu Hause an. Aber es ist durchaus möglich, bei einem Patientenbesuch zusammenzusitzen.
Gibt es bestimme Themen, die in der Erstreha immer wieder aufkommen?
Es gibt so viele unterschiedliche Themen wie es unterschiedliche Menschen gibt. Aber für alle ist die zentrale Frage nach dem Unfall oder der Krankheit jene nach dem Selbstbild: Wer bin ich und wo stehe ich? Der Rollstuhlfahrer hat seinen «laufenden Körper» nicht mehr, das ändert alles! Er muss wieder einen Zugang finden zu seinem Körper, ihn akzeptieren. Das ist schwieriger für Menschen, die sich vor allem über ihren Körper definiert haben, als
Was ist der Unterschied zwischen deiner Tätigkeit hier und in deiner Praxis?
Klienten, welche in die Praxis kommen, haben ein klares Ziel vor Augen. Sie wissen,
für jene, die nicht so körperorientiert sind. Dann ist da die Frage nach dem Stellenwert in der Familie. Wie kann ich weiterhin Mutter oder Vater sein? Wer sorgt für das Familieneinkommen? Jeder hat ein eigenes Bild seiner Rollen. Das kann auch etwas ganz Einfaches sein: Wer trägt denn jetzt die Wasserkisten hoch? Wenn beispielsweise ein Patient 50 Jahre lang das Bild des starken Mannes in sich trägt, kann ihn die neue Situation stark belasten. Das Selbstbild ist von zentraler Wichtigkeit. Dazu kommt auch immer die Thematik der Sexualität, die sich komplett neu und anders gestaltet. So sind die Themen eines jeden ganz unterschiedlich. Auch je nach der Höhe der Lähmung, der körperlichen Schmerzen oder den zusätzlichen Problemen wie Druckstellen ist die Bewältigung unterschiedlich. Wenn jemand körperlich gesund bleibt, ist ein Aufbau einfacher und schneller. Immer wieder auftauchende Probleme wirken wie eine permanente Traumatisierung. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass dies zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen kann. Das ist auch bei Querschnittgelähmten nicht anders.

Du bist selbst im Rollstuhl. Spielt das eine Rolle für die Patienten?
Ich hätte nie gedacht, dass das so wichtig ist. Ein Patient sagte mal, es sei schön, auf Augenhöhe zu sein. Ob er es buchstäblich oder im übertragenen Sinn gemeint hat, weiss ich nicht. Die Patienten fühlen sich wohler bei jemandem, der all die «unsichtbaren» und «seltsamen» Probleme kennt. Diese sind ja oft mit Scham behaftet und die Patienten schätzen es, dass sie nicht alles auf den Tisch bringen müssen. Zudem denke ich, ist es ähnlich wie bei den Peers: Die Patienten sehen, dass ich im Rollstuhl bin und arbeite. Wenn sie erfahren, wie lange ich das schon tue, sind sie positiv überrascht. Ich bestätige sie in der Hoffnung auf ein normales Leben, das gibt ihnen Kraft.
Im Moment dominiert Corona alles, wie wirkt sich das auf deine Arbeit aus?
Es war bereits im März während des Lockdowns schlimm und ist es auch jetzt wieder. Die Patienten dürfen kaum Besuch empfangen, können übers Wochenende nicht nach Hause, so wird die Zeit noch länger und sie können noch mehr grübeln. Das braucht zusätzliche Kraft, um die eh schon schwierige Zeit zu bewältigen. Ein Problem ist auch die fehlende Mimik wegen der Maske. Der Patient sieht nicht, ob ich bestätige, ob ich wohlwollend bin, ob ich ihn verstehe. Ich muss aufpassen, was ich mit meinen Augen mache. Kneife ich sie zusammen, weil ich vielleicht etwas nicht verstanden habe, kann das bedrohlich wirken. Das macht die Arbeit schwieriger. Eine Patientin erklärte mir, sie ertrage es nicht mehr, dass sie keinen Menschen mehr lachen sehe.
Welche Faktoren begünstigen die psychische Gesundheit?
Das ist schwierig zu definieren. Soziale Kontakte und sportliche Aktivitäten sind wichtig, aber man kann nicht einfach eine Liste erstellen und sagen, das hilft. Wenn jemand depressiv ist, schafft er es ja eben gerade nicht, soziale Kontakte zu pflegen oder sportlich aktiv zu sein. So gesehen gibt es keine Betriebsanleitung für innere Ausgeglichenheit. Tipps sind gut, aber am besten ist es, sich Unterstützung zu holen. Wenn jemand dies aber nicht will, kann man nicht viel machen.
Die Motivation muss also von der Person selber kommen?
Ja. Es ist eine grosse Herausforderung, wenn sich jemand, dem es schlecht geht, nicht helfen lassen will. Wer zum Psychologen geht, aber nur stumm dasitzt, dem ist nicht geholfen. Ich hatte einmal eine Patientin, die kam zwar zu den vereinbarten Sitzungen, blieb aber passivaggressiv und sagte nichts. Nach einer Weile habe ich zu ihr gesagt: «Ok, Sie dürfen hier bleiben, ich arbeite währenddessen weiter.» Sie blieb, irgendwann habe ich ihr eine Tasse Tee angeboten. Sie kam weiterhin regelmässig zu ihren Sitzungen und mit der Zeit ist das Eis gebrochen. Das geschieht ab und zu bei jungen Patienten. Sie merken zwar, dass es ihnen nicht gut geht, aber sie haben
Seit elf Jahren im SPZ engagiert
keine Worte für diese neuen Emotionen. Es braucht Zeit, Geduld und Einfühlungsvermögen, damit sie sich öffnen. Es passiert aber selten, dass Patienten Hilfe verweigern, wenn es ihnen schlecht geht. Früher oder später nehmen sie die Unterstützung an.
Die SPV ist der Dachverband der Rollstuhlclubs. Wie wichtig ist der Austausch untereinander?
Der Austausch untereinander ist sehr wichtig, darum wünschte ich mir auch mehr Gruppentherapien. Ich sage den Patienten jeweils, sie sollen einem Verein beitreten. Menschen, die bereits älter sind, wenn sie in den Rollstuhl kommen, waren zum Beispiel vorher oft in Kreisen eingebunden, wo sie gemeinsam wanderten, Sport betrieben, mit dem Velo unterwegs waren. Ihre Freunde sind Fussgänger, jetzt funktioniert das nicht mehr mit den Treffen und sie isolieren sich. Frauen haben das Problem etwas weniger, sie gehen ins Café und plaudern. Männer treffen sich oft nicht einfach so, die «machen» etwas zusammen. Sie sollten den Mut haben, einfach mal zu sagen: «Wandern und Velofahren geht nicht mehr, kommt doch mal ein Bier trinken mit mir.» Männer möchten oft nicht schwach sein und andere bitten müssen, Rücksicht zu nehmen. Darum fühlen sie sich in einer Gruppe mit Rollstuhlfahrern oft besser aufgehoben. So sind sie keine Last für die anderen. Aber wie auch immer, ob Rollstuhlfahrer mit Fussgängern oder mit Rollstuhlfahrern, wichtig ist, dass man sich nicht isoliert.
Informationen Ambulante Psychotherapie im SPZ paraplegie.ch/spz