Hausarzt 05/2021

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Hausarzt medizinisch

Die Vielfalt im Menschen erkennen Möglichkeiten einer multimodalen Behandlung psychischer Erkrankungen

Jedes medizinische Fachgebiet verfügt über ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten – dabei sollte die psychische Komponente nie außer Acht gelassen werden. Doch auch in der Psychiatrie selbst fand in den letzten Jahren ein Wandel hin zur Integration von Therapiekonzepten statt, wie Prim. Dr. Christian Wunsch, Vorstand der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin des LKH Neunkirchen, im Gespräch mit dem HAUSARZT erläutert. HAUSARZT: Welche Vorteile bietet die integrative psychiatrischpsychotherapeutische Behandlung für Patienten und Ärzte? Prim. Dr. Christian WUNSCH: Wir Ärzte haben die Möglichkeit, bei dieser Form der Behandlung viel breiter zu denken – wir eruieren, welche Ressourcen vorhanden sind, und können dann, im Sinne eines Shared Decision Making, gemeinsam mit den Patienten einen Behandlungspfad vereinbaren. Die integrative psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ist außerdem interessant, weil dadurch eine gestufte Therapie möglich wird. In Phasen mit ausgeprägter Klinik einer psychischen Erkrankung macht ein klassischer psychotherapeutischer Zugang noch keinen Sinn, weil die psychische Beeinträchtigung so stark ist. Hier steht eine

psychiatrisch-medikamentöse Therapie im Vordergrund, die stabilisierend und ausbalancierend wirkt. An sie kann eine psychotherapeutische Behandlung anschließen. Neben dieser sequenziellen Variante können die Behandlungsmöglichkeiten aber auch parallel eingesetzt werden. Welche Entwicklungen beobachten Sie derzeit in Ihrem Fachbereich? Momentan befinden wir uns meiner Meinung nach auf einem sehr guten Weg. Während die unterschiedlichen Disziplinen in den letzten Jahrzehnten noch mit ihrer eigenen Entwicklung beschäftigt waren, kommt es nach und nach zu einem Umdenken, wie mir scheint. So haben Fachärzte für Psychiatrie nicht mehr nur das Thema Psyche und Medikamente im Fokus – sie sehen Körper, Geist und Seele nicht mehr getrennt, sondern als untrennbare Einheit, die es in ihrer Gesamtheit zu behandeln gilt. Es entwickelt sich ein Bewusstsein, dass es therapeutische Methoden gibt, welche Erkrankten durch Arbeit mit dem Körper über den Geist zu seelischem Wohlbefinden verhelfen, oder solche, die – umgekehrt – durch Therapie zum geistig-seelischen Wohlbefinden und weiter zur körperlichen Gesundheit beitragen. Ich glaube, dass sich die integrativen Modelle noch stark in diese Richtung

Für psychische Erkrankungen wie Angst- und bipolare Störungen gibt es eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten (siehe Infobox 1 und 2). Welchen Stellenwert hat die integrative psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung hier? Bei beiden Erkrankungsbildern ist es wichtig, zuerst eine klare Diagnose zu stellen – es existieren verschiedenste Formen von Angststörungen, ebenso gibt es eine gewisse Bandbreite von bipolar-depressiv bis bipolar-manisch. Aus der Anamnese und Befragung des Patienten kann man ganz klare Behandlungselemente ableiten – sowohl psychodynamische und psychosoziale als auch biologische und medizinische. Es sind zwar unterschiedliche Sichtweisen, aber diese schließen einander nicht aus. Hier kann der integrative Zugang die Patienten spürbar entlasten: Häufig glauben Menschen mit bipolaren oder Angststörungen, selbst an ihrer Situation schuld zu sein, und machen sich Vorwürfe. Angesichts solch einer massiven Beeinträchtigung der Selbstsicherheit hilft es oft, den Patienten klarzumachen: Im ersten Schritt geht es rein um die biologische Erkrankung. Man kann die Patienten darüber aufklären, dass es bei beiden Erkrankungsbildern eine genetische Komponente gibt, auf die sie gar keinen Einfluss haben. Genauso wenig können sie die Erziehung, die sie

Experte zum Thema: Prim. Dr. Christian Wunsch Vorstand der Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin des LKH Neunkirchen www.wunscharzt.at

Mai 2021

> Foto: © Christian Wunsch, privat

Foto: © shutterstock.com/ Lightspring

weiterentwickeln werden, Stichwort ist z. B. die Darm-Hirn-Achse – die Ernährung hat einen erheblichen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden. Ebenso ist ein kräftiges Immunsystem gut und wichtig für die Psyche und vice versa: Wer psychisch stabil ist, verfügt meist über ein stärkeres Immunsystem.

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