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Die Vielfalt im Menschen erkennen
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Möglichkeiten einer multimodalen Behandlung psychischer Erkrankungen
Jedes medizinische Fachgebiet verfügt über ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten – dabei sollte die psychische Komponente nie außer Acht gelassen werden. Doch auch in der Psychiatrie selbst fand in den letzten Jahren ein Wandel hin zur Integration von Therapiekonzepten statt, wie Prim. Dr. Christian Wunsch, Vorstand der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin des LKH Neunkirchen, im Gespräch mit dem HAUSARZT erläutert.
HAUSARZT: Welche Vorteile bietet die integrative psychiatrischpsychotherapeutische Behandlung für Patienten und Ärzte?
Prim. Dr. Christian WUNSCH: Wir Ärzte haben die Möglichkeit, bei dieser Form der Behandlung viel breiter zu denken – wir eruieren, welche Ressourcen vorhanden sind, und können dann, im Sinne eines Shared Decision Making, gemeinsam mit den Patienten einen Behandlungspfad vereinbaren. Die integrative psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ist außerdem interessant, weil dadurch eine gestufte Therapie möglich wird. In Phasen mit ausgeprägter Klinik einer psychischen Erkrankung macht ein klassischer psychotherapeutischer Zugang noch keinen Sinn, weil die psychische Beeinträchtigung so stark ist. Hier steht eine psychiatrisch-medikamentöse Therapie im Vordergrund, die stabilisierend und ausbalancierend wirkt. An sie kann eine psychotherapeutische Behandlung anschließen. Neben dieser sequenziellen Variante können die Behandlungsmöglichkeiten aber auch parallel eingesetzt werden.
Welche Entwicklungen beobachten Sie derzeit in Ihrem Fachbereich?
Momentan befinden wir uns meiner Meinung nach auf einem sehr guten Weg. Während die unterschiedlichen Disziplinen in den letzten Jahrzehnten noch mit ihrer eigenen Entwicklung beschäftigt waren, kommt es nach und nach zu einem Umdenken, wie mir scheint. So haben Fachärzte für Psychiatrie nicht mehr nur das Thema Psyche und Medikamente im Fokus – sie sehen Körper, Geist und Seele nicht mehr getrennt, sondern als untrennbare Einheit, die es in ihrer Gesamtheit zu behandeln gilt. Es entwickelt sich ein Bewusstsein, dass es therapeutische Methoden gibt, welche Erkrankten durch Arbeit mit dem Körper über den Geist zu seelischem Wohlbefinden verhelfen, oder solche, die – umgekehrt – durch Therapie zum geistig-seelischen Wohlbefinden und weiter zur körperlichen Gesundheit beitragen. Ich glaube, dass sich die integrativen Modelle noch stark in diese Richtung weiterentwickeln werden, Stichwort ist z. B. die Darm-Hirn-Achse – die Ernährung hat einen erheblichen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden. Ebenso ist ein kräftiges Immunsystem gut und wichtig für die Psyche und vice versa: Wer psychisch stabil ist, verfügt meist über ein stärkeres Immunsystem.
Für psychische Erkrankungen wie Angst- und bipolare Störungen gibt es eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten (siehe Infobox 1 und 2). Welchen Stellenwert hat die integrative psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung hier?
Bei beiden Erkrankungsbildern ist es wichtig, zuerst eine klare Diagnose zu stellen – es existieren verschiedenste Formen von Angststörungen, ebenso gibt es eine gewisse Bandbreite von bipolar-depressiv bis bipolar-manisch. Aus der Anamnese und Befragung des Patienten kann man ganz klare Behandlungselemente ableiten – sowohl psychodynamische und psychosoziale als auch biologische und medizinische. Es sind zwar unterschiedliche Sichtweisen, aber diese schließen einander nicht aus. Hier kann der integrative Zugang die Patienten spürbar entlasten: Häufig glauben Menschen mit bipolaren oder Angststörungen, selbst an ihrer Situation schuld zu sein, und machen sich Vorwürfe. Angesichts solch einer massiven Beeinträchtigung der Selbstsicherheit hilft es oft, den Patienten klarzumachen: Im ersten Schritt geht es rein um die biologische Erkrankung. Man kann die Patienten darüber aufklären, dass es bei beiden Erkrankungsbildern eine genetische Komponente gibt, auf die sie gar keinen Einfluss haben. Genauso wenig können sie die Erziehung, die sie
Experte zum Thema: Prim. Dr. Christian Wunsch
Vorstand der Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin des LKH Neunkirchen www.wunscharzt.at
erfahren haben, rückblickend ändern. So kann der Patient entlastet und ihm gezeigt werden, dass es sich bei seiner Erkrankung um einen biologischen Prozess handelt, der medikamentös therapiert werden kann. Ist man symbolisch in einem tiefen Loch gefangen, sind die Tipps und Empfehlungen (z. B. sich aktiv zu beschäftigen und sich den schönen Dingen im Leben zuzuwenden), zwar gut gemeint, aber wenn ich rund um mich nur eine glitschige Wand sehe und beim Hinaufklettern immer wieder abrutsche, brauche ich in dem Moment ein Seil oder eine Leiter als Hilfestellung, um aus dem Loch herauszukommen. Ein psychiatrischmedikamentöser Zugang könnte so ein Hilfsmittel darstellen.
Wie geht es dann in der Behandlung der bipolaren Störung oder der Angstpatienten weiter?
Ein Läufer würde vermutlich nicht mit einem angeknacksten Sprunggelenk einen Marathon antreten, sondern erst, wenn er sich wieder gut und sicher fühlt. Psychotherapie stellt nämlich durchaus eine Konfrontation und Herausforderung dar. Patienten sind gefordert, sich mit dem zu konfrontieren, was dysfunk-
X Infobox 1: Behandlungsmöglichkeiten
bei Angststörungen1
Pharmakotherapie:
SSRI, z. B. Citalopram, Escitalopram SNRI, z. B. Duloxetin, Milnacipran TZA, z. B. Clomipramin Antipsychotika, z. B. Quetiapin Antikonvulsiva, z. B. Pregabalin Antihistaminika, z. B. Hydroxyzin Betablocker, z. B. Propranolol Phytopharmaka, z. B. Silexan (Arzneilavendelöl) Weitere Wirkstoffe bzw. Wirkstoffklassen wie Agomelatin, Benzodiazepine, Buspiron, Mirtazapin, Opipramol, Reboxetin
Psychotherapie:
Supportive Psychotherapie inkl. Psychoedukation Kognitive Verhaltenstherapie Psychodynamische Psychotherapie Systemische Therapie Biofeedback-Therapie Andere psychotherapeutische Verfahren wie Musiktherapie oder körperorientierte
Verfahren tional ist und was belastet. Psychotherapie beinhaltet somit auch die Verantwortung und die Aufgabe, am Status quo etwas zu ändern. Fremdmotivation funktioniert hierbei selten, es muss ein innerer Antrieb bestehen, etwas zu ändern und an sich zu arbeiten. Somit kann die psychotherapeutische Behandlung auf die psychiatrische folgen bzw. überlappend mit jener stattfinden. Aber auch wenn man in einem psychotherapeutischen Setting zu behandeln beginnt, kann der Therapeut irgendwann an den Punkt kommen, wo es wichtig wird, ein Medikament zu empfehlen. Erfolgt die Behandlung bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, so kann dieser zu jedem Zeitpunkt auf unterschiedliche Ressourcen aus seinem Behandlungsspektrum zurückgreifen.
Welche Red Flags sollten bei (psychiatrischen) Patienten auf jeden Fall zu einer stationären Aufnahme führen?
Ganz allgemein sollte die Überweisung an eine Klinik lieber einmal zu viel als einmal zu wenig oder zu spät erfolgen. Wenn ein Hausarzt einen Patienten an ein Krankenhaus überweist, hat er seine Verantwortung wahrgenommen, indem er sagt: „Ich möchte, dass sich ein Facharzt mit dem Patienten darüber austauscht, ob eine stationäre Aufnahme überhaupt notwendig ist. “ Absolute Red Flags aus rechtlicher bzw. forensischer Sicht sind natürlich Selbst- sowie Fremdgefährdungen. Was den allgemeinmedizinischen Bereich betrifft, so hat das Thema Suizidalität ebenfalls einen wichtigen Stellenwert. Nicht nur bei Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, sondern z. B. auch bei jenen mit chronischen Erkrankungen, anhaltenden Schmerzzuständen oder Krebserkrankungen. Hier ist es wichtig, das Thema Suizidalität anzusprechen und dem Patienten die Möglichkeit zu geben, darüber zu reden. Viele Patienten berichten, dass sie sehr entlastet und erleichtert waren, als sie direkt auf dieses Thema der Suizidalität angesprochen wurden.
Was wünschen Sie sich für die Zusammenarbeit mit Hausärzten und niedergelassenen Fachärzten?
Es wäre schön, wenn die Themen Psyche und seelisches Wohlbefinden auch von den Hausärzten noch mehr wahrgenommen und insgesamt sichtbarer werden. Allgemeinmediziner haben einen wertvollen Vorteil, nämlich die Patienten besser zu kennen, da sie jene meist schon länger begleiten. Das Gefühl der Unterstützung und des Vertrauens ist sehr wichtig – das kann man nur schaffen, indem man sich Zeit für die Patienten nimmt. Auch in der aktuellen Pandemie können wir durch die Bereiche Telemedizin, Digitalisierung und Vernetzung etwas Positives sehen: Patienten haben die Möglichkeit, sich direkt und rasch Hilfe zu holen – bei den behandelnden Ärzten, Therapeuten, und allen, die zu einem multiprofessionellen Team dazu gehören. Auch durch den digitalen Austausch kann ein gemeinsamer Behandlungsweg gefunden werden.
Das Gespräch führte Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc.
Quellen: 1 Kasper S et al., Angststörungen: Medikamentöse Therapie. Konsensus-Statement – State of the art 2018;
CliniCum neuropsy Sonderausgabe 11/2018. 2 Kasper S et al., Bipolare Störungen: Medikamentöse
Therapie. Konsensus-Statement – State of the art 2013; CliniCum neuropsy Sonderausgabe 11/2013.
X Infobox 2: Behandlungsmöglichkeiten
bei bipolaren Störungen2
Pharmakotherapie:
Euphorische Manie: u. a. Asenapin, Carbamazepin, Lithium, Paliperidon Gemischte Episode: z. B. Aripiprazol,
Carbamazepin, Lithium, Olanzapin Rapid Cycling: z. B. Carbamazepin, Lamotrigin, Lithium, Valproinsäure Akute psychotische Depression: u. a.
Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon Akute nicht psychotische Depression: z. B. Lamotrigin, Lithium, Olanzapin Manieprophylaxe: u. a. Carbamazepin,
Lithium, Valproinsäure Depressionsprophylaxe: z. B. Lamotrigin,
Lithium, Paliperidon, Quetiapin
Psychotherapie:
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen Psychoedukationsprogramme Interpersonelle Psychotherapie, auch ergänzt durch die soziale Rhythmustherapie Familienfokussierte Formen der Psychotherapie