9 minute read

Handchirurgie auf höchstem Niveau

Next Article
Arzt Sicht Sache

Arzt Sicht Sache

Operative Maßnahmen sind auch bei seltenen Entitäten möglich

Während der letzten Jahrzehnte hat die Handchirurgie auch in Österreich einen internationalen Standard erreicht. Davon zeugt im wissenschaftlichen Bereich die Österreichische Gesellschaft für Handchirurgie als Mitglied der Europäischen Gesellschaft für Handchirurgie. Formal verweist die Option einer Spezialisierung auf Handchirurgie, quasi einer Zusatzfachausbildung für Unfallchirurgen, Orthopäden und Plastische Chirurgen auf jenen Standard, klinisch die Etablierung einer Vielzahl von „Handambulanzen“ . Den Schwerpunkt bildet, auch quantitativ, die Versorgung von Traumata. Zudem befasst man sich eingehend mit den klassischen Diagnosen der Handchirurgie – dem Karpaltunnelsyndrom, den schnellenden Fingern, der Dupuytren‘schen Kontraktur und der Rhizarthrose oder den Fingerarthrosen. Ich möchte das Augenmerk – auch im Sinne der Vorsorgemedizin – auf unbemerkte, häufig banalisierte und vermeintlich nicht-behandelbare Probleme sowie auf den Umgang damit lenken. Diese Entitäten sind zwar selten zu beobachten, für die Betroffenen jedoch oftmals sehr schmerzhaft wie auch, belastend und sie haben mitunter gravierende Folgen.

Kinder und Jugendliche im Fokus

Kinder und Jugendliche leben im Hier und Jetzt und wollen stets die für sie interessanten Aktivitäten ausüben. Dabei steht die Aktivität selbst im Vordergrund, nicht die Art der Durchführung. Dementsprechend setzen sie jedwede sensible Extremität und Hand in jener Form ein, die ihnen beschwerdefrei strukturell möglich ist. Eine schmerzbedingt geänderte Greifform wird nicht unbedingt als Defizit empfunden, ergo auch nicht über sie geklagt. Lassen sich gewisse Aktivitäten nicht problemlos umsetzen, werden sie durch andere – beschwerdefreie – Aktivitäten ersetzt. Es gilt also, bei Kindern und Jugendlichen nach Verletzungen genau auf ihr Verhalten und den Einsatz der Hand zu achten sowie gegebenenfalls eine Abklärung einzuleiten. Tatsächlich geäußerte Schmerzen sollten bei Kindern und Jugendlichen nicht banalisiert, sondern einer genauen Abklärung zugeführt werden. Als meist unerkannte und schwierig zu diagnostizierende Schmerzquellen, die schon in jungen Jahren vorkommen, sind verschiedene Entitäten zu nennen, etwa Nervenkompressionssyndrome, hier vor allem das Thoracic-Outlet-Syndrom (oftmals bedingt durch eine Halsrippe), aber auch ein Sulcus-nervi-ulnaris-Syndrom bei habituell luxierendem Nerv. Beide erfordern eine operative Intervention, unter Umständen noch ohne einen pathologischen Befund der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), basierend auf Klinik und bildgebenden Verfahren.

Foto: © Graz Kliniken

Autor: Univ.-Doz. Dr. Werner Girsch

Facharzt Handchirurgie u. Handfehlbildungen, LKH-Universitätsklinikum Graz und Medizinische Universität Graz

Einschränkungen und Schmerzen beachten

Probleme und Schmerzen auf Basis habitueller Band-Laxizitäten sind v. a. bei Mädchen und jungen Frauen zu beobachten. Meist besteht eine CMC(Karpometakarpal)-1-Instabilität, welche Schmerzen an der Daumenbasis und damit eine verringerte Greifkraftund Einsatzfähigkeit der Hand zur Folge hat. Die Durchführung einer CMC1-Bandplastik ist bereits bei ersten Beschwerden indiziert, um eine frühe Rhizarthrose zu verhindern. Während die radiokarpale Instabilität sich konservativ gut behandeln lässt, erfordert eine mittkarpale Instabilität meist eine CL-Bandplastik. Eine Überstreckbarkeit in den proximalen Interphalangealgelenken (PIP-Gelenken) kann Betroffenen durchaus Probleme mit dem Beugen der Finger bereiten, woraus sich die Indikation einer „Sperr-OP“ ergibt, um die stark beeinträchtigte Handfunktion wiederherzustellen. Unklare Schmerzen, die zentral im Handgelenk oder ulnokarpal auftreten, werden möglicherweise durch ein „okkultes“ Handgelenkganglion im SLBereich oder durch eine TFCC(Diskustriangularis)-Läsion verursacht. Da auch die MRT bei beiden Weichteilläsionen oftmals nicht zuverlässig ist, ergibt sich nach Ausschluss aller anderen Pathologien die Indikation einer Operation.

Keine Scheu vor operativen Eingriffen

Naturgemäß scheuen ältere Patienten operative Eingriffe, sie meinen häufig: „Das zahlt sich bei mir nicht mehr aus … “ . Schmerzhafte Nerven-Kompressionssyndrome wie das Karpaltunnelsyndrom sollten jedoch auch bei älteren Patienten operativ behandelt werden, da der Eingriff nicht aufwändig ist, er die Schmerzen beseitigt und in Lo-

kal- oder Regionalanästhesie ambulant erfolgen kann. Außerdem lässt sich – da selbst im höheren Alter durchaus noch eine Nervenregenerationstendenz vorhanden ist – die Taubheit an den Fingern verhindern, die auch für funktionell wenig beanspruchte Menschen eine massive Beeinträchtigung im Alltag darstellt. Schmerzhafte posttraumatische oder degenerative Veränderungen im Handgelenk sind unter Umständen mit einer Handgelenkteildenervation operativ behandelbar. Dabei werden bei einem Eingriff, welcher sich in puncto Umfang und Aufwand mit einer OP des Karpaltunnelsyndroms (KTS) vergleichen lässt, jene Nerven, die das Handgelenk versorgen, durchtrennt und damit die Schmerzen beseitigt. Die Hand- und Handgelenkfunktion selbst wird dadurch nicht verändert.

Periphere Nervenläsionen: rasche Therapie

Nach der Diagnose einer peripheren Nervenläsion wird – sofern keine klare primäre Operationsindikation besteht – meist abgewartet, in der Hoffnung auf spontane Regeneration. Diagnostik und Prozedere entsprechen prinzipiell dem State-of-the-Art, sehr oft entstehen aber Zeitverzögerungen, wodurch eine rechtzeitige operative Behandlung nicht mehr möglich ist. Folglich beeinträchtigt dieser Umstand häufig das Ergebnis. Mit Eintritt einer Nervenläsion kommt es in den ersten zwölf Monaten zu einer Atrophie der betroffenen Muskulatur. Gleich danach setzt die Degeneration ein, sodass nach etwa 24 Monaten keine regenerationsfähige Muskulatur mehr zur Verfügung steht. Da die Nervenregeneration selbst mit etwa 1 mm/Tag veranschlagt werden kann, ergibt sich beispielsweise für den N. peronaeus mit Neurolyse am Fibulakopf ein Zeitraum von wenigstens sechs Monaten ab Rekonstruktion bis zum Erhalt relevanter Regeneration der Peronealmuskulatur. Für den Plexus brachialis beträgt die Regenerationszeit bereits neun bis zwölf Monate bei Schultermuskulatur und Bizeps. Von den ergebnisrelevanten Parametern – dem Ausmaß der Läsion, dem Alter des Patienten und dem zeitlichen Abstand zur Operation der Läsion – ist tatsächlich nur der Parameter Zeit beeinflussbar. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Patienten mit peripheren Nervenläsionen möglichst rasch und schon frühzeitig an Spezialzentren zu überweisen, um rechtzeitig, d. h. zwischen drei und sechs Monaten nach Einsetzen der Lähmung, operativ intervenieren zu können. Zwar stellt die klassische Nerventransplantation unter Verwendung autologer Spendernerven immer noch den Stateof-the-Art der Behandlung dar, jedoch hat die Entwicklung sogenannter Nerventransfers sowie der End-zu-SeitNeurorrhaphie (beides das „Anzapfen“ intakter Nerven) das Behandlungsspektrum der Nervenrekonstruktion deutlich erweitert. Für die Plexus-brachialis-Parese und die Tetraplegie wurden in den letzten Jahrzehnten ausgefeilte mehrstufige Behandlungskonzepte entwickelt, bestehend aus primärer Nervenrekonstruktion und motorischen Ersatzoperationen (Sehnen- und Muskeltransfers, freie funktionelle Muskeltransplantation), mit dem Ziel der Rekonstruktion einer im täglichen Leben verwertbaren Funktion der oberen Extremität und Hand.

X Infobox 1: Take-home-Messages

„ Kinder und Jugendliche klagen nicht über Probleme mit den Händen, sondern ändern ihr

Verhalten. Daher sollte nach Verletzungen genau beobachtet werden, ob sich der Einsatz ihrer

Hände verändert oder ob sie gewohnte Tätigkeiten und Sportarten ver-meiden. „ Tatsächlich geäußerte Schmerzen an den Händen sollten bei Kindern und Jugendlichen nicht banalisiert, sondern ernst genommen werden. „ Habituelle Instabilitäten erfordern bei Schmerzen eine operative Bandstabilisation, um frühe

Arthrosen zu verhindern. „ Schmerzhafte Nervenkompressionssyndrome und Handgelenkveränderungen sind auch beim alten Menschen mit relativ geringem Aufwand operativ behandelbar. „ Patienten mit Läsionen peripherer Nerven sollten frühzeitig an Behandlungszentren überwiesen werden, um ihnen eine rechtzeitige operative Behandlung zu ermöglichen. „ Schmerzfreie Weichteilveränderungen bei Patienten mit rheumatoiden Grunderkrankungen verdienen Beachtung. „ Für die Behandlung spastischer Kontrakturen stehen auch an der oberen Extremität operative

Verfahren zur Verfügung.

Rheumatoide Grunderkrankung beachten

Patienten mit rheumatoider Grunderkrankung werden üblicherweise von einem Rheumatologen betreut, der Plastische Chirurg oder der Orthopäde wird meist erst dann aufgesucht, wenn sich strukturelle Probleme wie Strecksehnenrupturen oder Gelenkarthrosen manifestieren, „Vorsorgeuntersuchungen“ gibt es in Bezug auf jene nicht. Über mehrere Monate andauernde sichtbare, meist schmerzlose Weichteilschwellungen sowie Synovialitis über den Strecksehnen oder dem Handgelenk stellen eine Indikation einer operativen Synovialektomie dar, weil mittelfristig die Gefahr der Spontanruptur von Strecksehnen besteht. Auch die Position des Streckapparates über dem Fingergrund und den Metacarpophalangeal(MP)Gelenken sollte regelmäßig in Streckung und Beugung beobachtet werden. Die initiale Abweichung der Sehnen (Ulnar-Drift) ist mit Nachtlagerungsschienen behandelbar. Eine unbehandelte Ulnar-Drift führt längerfristig zu einer MP-Luxation nach palmar und damit zu einer handfunktionellen Katastrophe.

OP bei spastischen Lähmungen möglich

Die Fortschritte in der Neonatologie sowie bei der Behandlung von Schlaganfällen, Schädel-Hirn-Traumata und in der Reanimationsmedizin haben eine steigende Anzahl von Patienten mit spastischen Lähmungen zur Folge. Doch selbst die gute Betreuung dieser Patienten in neurologischen Rehabilitationseinrichtungen und im niedergelassenen Bereich kann in vielen Fällen

Gelenkkontrakturen nicht verhindern. Die Kontrakturen an der unteren Extremität sind bei den wenigen, aber sehr engagierten Neuroorthopäden in guten Händen. Zwar erfolgt die konservative Therapie der oberen Extremität in vollem Umfang, allerdings werden zur Operation nur sehr wenige und wenn, dann Patienten mit massiven Kontrakturen überwiesen. Die operative Option lediglich als Ultima Ratio einzusetzen ist durchaus zu hinterfragen, da mit dem Ausmaß der Kontraktur auch der operative und postoperative Aufwand steigt – und damit die Belastung für den Patienten. Prinzipiell ist beim spastisch gelähmten Patienten die gesamte obere Extremität (insbesondere die Beugekontrakturen) zu beachten und gegebenenfalls zu behandeln. Zu den chirurgischen Optionen zählen Denervationen, Myotenotomien – Sehnendurchtrennungen im Bereich der Muskelbäuche – als weniger aufwändige Eingriffe sowie ausgedehnte Mehretagen(„Release“)-Operationen für Fälle massiver Kontrakturen. Für Patienten mit erhaltener Tiefensensibilität kann schon eine verbesserte Schulter- und Ellbogenbeweglichkeit beim Gehen oder beim Sitzen im Rollstuhl eine deutliche Steigerung der Lebensqualität bedeuten, unter Umständen ist auch die Wiedererlangung einer funktionell einsetzbaren Handfunktion möglich. Doch selbst wenn der Patient vom Eingriff nicht profitiert, stellt die Auflösung einer fixierten Beugekontraktur der OE für die Betreuungspersoneneine erhebliche Erleichterung bei der Pflege dar.

X Infobox 2: Fallberichte

Patient männlich, 15a (Abb. 1)

„ Sport: Fussball, Skateboard, Tennis „ 2011 Scaphoidfraktur (12a), 6 Wo Gips, fakultativ Handgelenksbeschwerden „ 2013 ESWT, danach Zunahme der Beschwerden bei Bewegung und Belastung „ Beendigung des Tennis, erst Weigerung als

Drummer einer Band aufzutreten führt „ 07/2014 (15a) zur Diagnose Scaphoidpseudarthrose (Abb. 1a) und OP „ 6 Monate nach Scaphoidrekonstruktion mit freiem mikrovaskulär gestieltem

Femurkondyl „ mit freier beschwerdefreier Handgelenksbeweglichkeit (Abb. 1b)

Patientin, 16a, Röntgen Handgelenk dp/seitlich (Abb. 2)

„ Erstmalig in ihrem Leben Vorstellung in der

Ambulanz bei bevorstehender Entscheidung zur Berufswahl: „Hand ist komisch“, keine Schmerzen „ UA etwas verkürzt, schmächtig, Faustschluss nur in Handgelenksflexion möglich „ entsprechend massiv reduzierte Grobkraft,

Hand auch als Hilfshand nur bedingt einsetzbar „ bei blander Anamnese vermutlich Folge einer Säuglingsosteomyelitis im Handgelenk:

Karpus nur rudimentär ausgeprägt und nach palmar luxiert, Radius deformiert „ Radiocarpale Arthrodese erforderlich um

Kraftschluß für die Finger zu erreichen

Patientin, 13a, Kinematographie (Abb. 3)

„ Habituelle schmerzhafte CMC1 Instabilität;

MC1 im Sattelgelenk um halbe Schaftbreite passiv luxierbar – CMC1 Bandplastik als rekonstruktiver Eingriff indiziert (Abb. 3a) „ Habituelle schmerzhafte Mittkarpale

Instabilität (CIND) - Capitiatumpol (in der

Seitaufnahme) aus dem Lunatum passiv subluxierbar. CL Bandplastik als rekonstruktiver Eingriff indiziert (Abb. 3b) Abb. 1a

Abb. 2

Abb. 3a

Abb. 3b Abb. 1b

Fazit

„Da kann man nichts machen, damit müssen Sie leben … “ – Patienten, die mit einem der oben genannten Probleme und mit langer Anamnese vorstellig geworden sind, bekommen das oft von Ärzten zu hören. Ja, es gibt sie: die Probleme und Beschwerden, die nicht behandelbar sind und den Betroffenen abverlangen, mit ihnen zurecht zu kommen. Auch ist nicht jede Operation für jeden Patienten gleich gut geeignet, nicht alles, was sich operativ machen lässt, soll man machen. Allerdings können Probleme mit den Händen – wie viele andere medizinische Probleme – die Wahl des Berufes oder das Verbleiben im erlernten Beruf, das private Leben, Sportaktivitäten sowie Hobbys und damit das gesamte Leben beeinflussen. Obige Worte dürfen daher bei Patienten mit Schmerzen an der Hand und/oder gestörter Handfunktion vorsichtig und erst nach genauer klinischer Untersuchung sowie nach Ausschöpfung aller diagnostischen Möglichkeiten geäußert werden. Darüber hinaus zeigen die besagten Probleme, dass der Früherkennung und rechtzeitigen Behandlung – wie überall in der Medizin – ein hoher Stellenwert bei der Vermeidung von Langzeitproblemen zukommt. Kinder-, Schul- und Hausärzte sehen früher oder später alle Menschen unseres Landes. Der Blick auf die Hände und die Frage nach der Handfunktion mit einer allfälligen raschen Überweisung wären im Sinne der Vorsorge wünschenswert. <

This article is from: