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Neurologische Folgen von COVID-19?
Nach der Erkrankung können – wie bei jeder Virusinfektion – diverse Beschwerden wochen- oder monatelang persistieren
Ein Jahr nach Beginn der COVID19-Pandemie sind Ärzte mit einer medizinischen Informationsflut konfrontiert. Oft lassen sich die Methodik und die Validität der zahlreichen Inhalte nur schwer beurteilen. Die pandemisch verbreitete, neuartige Viruserkrankung hat ein breites Spektrum neuer medizinischer Erfahrungen generiert. Nun ist ein erster Rück- und Ausblick im Fach Neurologie angebracht. Zurecht wurde der Vortragstitel bei der ÖGN-Jahrestagung 2021* „Neurologische Folgen von COVID-19?“ mit einem Fragezeichen versehen, weil viele scheinbar neue fachspezifische Beobachtungen in der aktuellen Publikationsgeschwindigkeit langfristig nicht haltbar sein werden. Hier ein Evaluationsversuch anhand der verfügbaren Evidenz und persönlicher Berufserfahrungen.
Neurologische Folgen für das Gesundheitswesen
Die Spitalslandschaft ist in jeder Nation unterschiedlich organisiert, in vielen Ländern besteht sogar national eine hohe Variabilität aufgrund legistischer und ökonomischer Gegebenheiten. Die WHO erfasste die Reaktionen der nationalen Regierungen auf die Pandemie mittels eines Fragebogens im dritten Quartal 2020. Erstaunlicherweise wird das Fach Neurologie hier – immer noch – unter „mental health services“ geführt. Die Schlaganfallakutversorgung als große Herausforderung in der Pandemie bleibt unerwähnt, während die Versorgung von Epilepsie und Delir abgefragt wird. Ein zusätzliches „funding“ für „mental health services“ in der Pandemie gaben die wenigsten EU-Staaten an. Allen Spitalsärzten in Österreich ist bekannt, dass es zu massiven, raschen und fluktuierenden Umorganisationen zugunsten der stationären Versorgung von COVID-Patienten kam. Auch die Ambulanzen wurden im ersten „Lockdown“ 2020 zum Teil komplett geschlossen. Hier gilt es, die notwendigen Ressourcen pro futuro wieder zurückzuholen. Ebenso muss das teilweise verlorene Vertrauen der Patientinnen und Patienten in die Spitalsversorgung aktiv wiederaufgebaut werden. Neben einer engagierten fachspezifischen Patientenversorgung sind deshalb eine kreative Öffentlichkeitsarbeit und die Vertretung von standespolitischen Interessen auf allen Ebenen gefragt.
Autorin: Prim.a Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Fertl
Klinik Landstraße, Neurologische Abteilung Rudolfstiftung, Wien
Neurologische Folgen für Aus- und Weiterbildung
Ohne den medizinischen Nachwuchs wäre die Spitalsversorgung der COVID-Patienten in vielen Ländern nicht möglich gewesen. Versetzungen sowie die Unterbrechung der Facharztausbildung und wissenschaftlicher Projekte waren mancherorts unvermeidbar. Die Auswirkungen auf Qualität und Inhalte der Facharztausbildung im Bereich Neurologie wurden in vielen Publikationen aus Europa, den USA und Kanada beschrieben. Während manche Jungärzte sich solidarisch in die Infektionsversorgung einbrachten und auch neue Skills erwarben, beklagten sich andere über die aufgezwungenen Änderungen und sorgten sich um ihre berufliche Zukunft. Auch die EAN erfragte in ihrer „research and fellow section“ die Beurteilung der Lage in der Pandemie. Immerhin 22 % der Mitglieder fanden Zeit, an der Umfrage teilzunehmen. Mehrheitlich waren dies Assistenzärzte aus den schwer von der Pandemie betroffenen Ländern mit einer eher pessimistischen Sichtweise der Auswirkungen. Vielerorts wurden aber auch neue Online-Fortbildungsformate geschaffen. Dort, wo eine pandemiebedingte Reduktion der fachspezifischen klinischen
Tätigkeit zu verzeichnen war, wurde das durch Telekurse und eine intensive Publikationstätigkeit kompensiert. Bei allen Fachärzten führte die wissenschaftliche und organisatorische Informationsflut zur Notwendigkeit, sich auch abseits der Neurologie fortzubilden und längerfristig ein persönliches System des Informationsmanagements zu generieren.
Long-COVIDSyndrom
Bei Patienten, die eine COVID-Erkrankung durchgemacht haben, können – wie bei jeder Virusinfektion – Wochen oder Monate
nach der Genesung von der Grundkrankheit diverse Beschwerden persistieren. Dieser Zustand wird – analog zum „post-lyme disease syndrome“ als „long-COVID syndrome“ bezeichnet. Aus Wuhan gibt es Sechs-Monats-Daten zu fast 1.800 Erwachsenen mit spitalspflichtiger COVID-Erkrankung, von denen ein erheblicher Teil an persistierenden Lungen- oder auch Nierenfunktionsstörungen litt. Fast jeder zweite Patient berichtete über Müdigkeit, Muskelschmerzen, Biorhythmusstörungen, Angst oder Depression als neurologische Folgen. Es zeigte sich eine positive Korrelation zwischen dem Schweregrad der COVID-Erkrankung und den Folgezuständen. Als Schlussfolgerung werden strukturierte Nachsorgeprogramme nach der COVID-Infektion gefordert. Umgekehrt lässt sich einer prospektiven Dokumentation von spitalspflichtigen COVID-Patienten aus New York entnehmen, dass nur 13 % eine neue neurologische Erkrankung zeigten, die auch vom Facharzt für Neurologie bestätigt wurde. Am häufigsten kam hier die septisch-metabolische Encephalopathie als Folge der systemischen Entzündungsreaktion bei einer COVID-Infektion vor.
Die DGN rief Anfang Jänner 2021 eine S1-Leitlinie zur Beschreibung von neurologischen Folgen nach COVID-19 ins Leben. Es gibt auch erratische Berichte über ein möglicherweise gesteigertes Risiko eines postinfektiösen Morbus Parkinson – analog zur Encephalitis lethargica nach der „Spanischen Grippe“ vor hundert Jahren. Selbst von bleibenden kognitiven Veränderungen nach einer leichten COVIDInfektion wird berichtet. Ob tatsächlich kausal durch das SARS-CoV-2-Virus bedingte Langzeitfolgen für die Struktur und Funktion des Gehirnes bleiben, kann durch die pathogenetische Evidenzlage derzeit nicht belegt werden. Hierzu bedarf es großer internationaler Registerstudien, um langfristig wissenschaftliche Klarheit zu bringen.
X Infobox: Wann an Neurologen überweisen
Bezüglich der Zusatzinformationen für Hausärzte zur Überweisung an Neurologen seien die Fakten sehr stark im Fluss, hält Prim.a Univ.-Prof.in Dr.in Elisabeth Fertl von der Neurologischen Abteilung Rudolfstiftung, Wien, im Gespräch mit dem HAUSARZT fest. „Täglich erreichen uns neue Nachrichten von potentiellen neurologischen Nebenwirkungen mancher COVID-Impfstoffe. In der prolongierten Informationsflut zu einer singulären – aber zweifellos neuen und häufigen – Infektionskrankheit muss die langjährige Erfahrung der ÄrztInnen mehr Gewicht bekommen.“ Der Vorschlag der Expertin:
1. Bei Verdacht auf neurologische Notfälle im Zusammenhang mit einer COVID-19-Impfung (z. B. Polyradikulitis, Sinusvenenthrombose) überweisen Sie Ihren Patienten umgehend an eine
Spitalsabteilung für Neurologie.
2. Bei Verdacht auf eine COVID-19-Infektion mit spitalspflichtigen neurologischen Komplikationen (z. B. Bewusstseinstrübung) überweisen Sie Ihren Patienten an ein Krankenhaus mit Infektionsstation UND neurologischer Versorgung.
3. Wenn Sie ein Long-COVID-Syndrom vermuten, ist eine neurologische Begutachtung im niedergelassenen Bereich zur Differentialdiagnose und Dokumentation sinnvoll. Bis dato gibt es keine spezifischen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten und auch keine fachspezifischen
Ambulanzen für dieses Syndrom.
* 18. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie, virtueller Kongress, 9. bis 10. April 2021, oegn.at
Zuerst erschienen in „neurologisch“ (leicht adaptiert für den HAUSARZT).
