marie 51/ Juli August

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Mittendrin in V

IMMUNKÖNIG DES KÖRPERS 100 Billionen Mikroorganismen leben im Darm und machen etwa zwei Kilogramm unseres Körpergewichts aus. Das Organ mit der größten Oberfläche zerlegt nicht nur alles in kleinste Teile, es ist auch maßgeblich für unsere Abwehrkräfte und unser psychisches Wohlbefinden. Ein Gespräch mit der Diätologin Sibylle Leis. Die Fragen stellte: Christina Vaccaro, Bilder: privat, Shutterstock

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marie: „Darm mit Charme“ titelte ein Buch, das millionenfach verkauft wurde. Woher kommt das neue Interesse? Sibylle Leis: Von unserem ersten Lebenstag an ist Wohlbefinden eng mit dem Darm verknüpft. Obwohl dieser Schwerstarbeit für uns leistet, wurde seine Bedeutung lange Zeit unterschätzt. Nachdem Bauchbeschwerden – also Schmerzen, Blähungen, Stuhlunregelmäßigkeiten, Durchfall, Verstopfung – häufige Symptome in der Bevölkerung sind, hat sich das geändert. Haben Darmprobleme infolge falscher Ernährung zugenommen? Ja, Darmprobleme haben – unter anderem – durch „falsche“ Ernährung zugenommen. Das Reizdarmsyndrom tritt beispielsweise immer häufiger auf. Weltweit sind 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung betroffen. Frauen sind doppelt so häufig wie Männer betroffen, besonders im Alter zwischen 20 bis 30 Jahren. Insgesamt klagt jeder fünfte Österreicher über reizdarmartige Symptome. Nahrungsmittel­intoleranzen sind mit 50 bis 80 Prozent auch sehr häufig. Bezogen auf die Ernährung: Was sind die Ursachen von Darmproblemen? Unsere Essgewohnheiten wie auch das Lebensmittelangebot haben sich stark verändert. Das Ernährungsverhalten

wird durch den Außer-Haus-Verzehr sowie durch die zunehmende Zahl der Single-Haushalte ungünstig beeinflusst. Das Angebot an insbesondere stark verarbeiteten Produkten im Supermarkt wird immer größer. Einseitige Ernährung, schnelles, hektisches und auch unregelmäßiges Essen, zu große Portionen, Fertigprodukte, Zusatzstoffe, zu wenig Ballaststoffe, das heißt zu wenig Gemüse, Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte, ein zu hoher Zuckerkonsum durch Getränke, Süßwaren und Fertigprodukte, künstliche Süßungsmittel, zu viel tierisches Eiweiß und Fett, Alkohol und Nikotin – all dies fördert das Wachstum ungesunder Bakterienarten, während gesunde gehindert werden. Was können die Folgen einer gestörten Darmflora sein? Infektionen, Allergien, Depressionen, Hauterkrankungen, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Reizdarmsyndrom, Übergewicht, eventuell auch Diabetes mellitus Typ 2, Fettleber, Autismus, Multiple Sklerose. Die Rolle der Darmflora bei der Entstehung von Erkrankungen ist aber nicht abschließend geklärt. Vielfach ist noch offen, ob die beobachteten Veränderungen Ursache oder Folge der Erkrankungen ist. Warum hängt die Darmflora eines

Säuglings von der Art und Weise ab, wie es geboren wird? Bei einer natürlichen Geburt kommt das Baby im Geburtskanal in Kontakt mit Keimen, die die erste bakterielle Ausstattung für das Immunsystem bilden. Kinder, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, weisen ein weniger vielfältiges Mikrobiom auf. Sind Darmprobleme immer Ernährungsprobleme? Nein. Die Symptome können durch zahlreiche andere Faktoren ausgelöst werden, zum Beispiel durch seelische Störungen, Stress, Nebenwirkungen von Medikamenten, zunehmendes Alter, zu wenig Bewegung und Entspannung oder Krankheiten. Wichtig ist, dass unklare Darmprobleme immer ärztlich abgeklärt werden, insbesondere, wenn die Beschwerden sehr stark sind, länger bestehen oder immer wieder auftreten. In einem anderen Buch*, in dem es eigentlich ums Gärtnern und um frisches Gemüse geht, heißt es, dass 80 Prozent unserer Immunzellen im Darm produziert werden. Stimmt das? Ja, etwa 70 bis 80 Prozent unserer Abwehrzellen des Immunsystems befinden sich in der Darmschleimhaut, die eine zentrale Rolle bei der Neutralisation von Schadstoffen und der Abwehr von Kei-


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