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Schickschalsschläge und Lebensfreude

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„ICH HATTE EIN REICHES, SCHÖNES LEBEN“

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Das Leben vom Bludenzer Helmuth Seidl ist gezeichnet von zwei „Krücken“: Schicksalsschlag nach Schicksalsschlag auf der einen, unbändige Lebensfreude auf der anderen Seite. Als Kind einer ledigen Magd wächst er in Pflegefamilien auf und lässt sich auch nicht von einem schweren Lawinenunfall mit 34 Jahren von seinem Weg abbringen: Mit seinen Krücken bereiste er die Welt.

Text: Christina Vaccaro, Fotos: Christina Vaccaro, privat

Helmuth Seidl war gerade unterwegs, als wir uns unten an der Eingangstür treffen. An der Farbe seiner Unterarme ist zu erkennen, dass man einen Mann vor sich hat, der viel draußen ist. Es geht hoch in den 4. Stock, Herr Seidl voran, mit den Krücken. Dabei lächelt er, plaudert fröhlich, nimmt gekonnt Stufe um Stufe, ist gleich schnell wie unsereiner ohne, trotz Krücken und verbundener Hände. Lift gibt es keinen, den braucht und will Herr Seidl nicht: „Das ist die beste Physiotherapie. Ohne diese tägliche Übung könnte ich schon lange nicht mehr gehen.“

Doch der Reihe nach. In seiner Wohnstube beginnt Helmuth Seidl seine Geschichte zu erzählen: 1935, im Juli vor 85 Jahren, wurden seine Zwillingsschwester Annemarie und er in Innsbruck geboren. Bei der ledigen Mutter blieben sie nur einen Monat, kamen dann in ein Kloster nach Zams, wo sich Klosterschwestern um sie kümmerten. Schließlich nahm eine Bauernfamilie die Geschwister auf. Die Familie hatte einen älteren Sohn, der zünselte und das Haus abbrannte. Die Tat wurde Helmuth Seidl angelastet. Daraufhin wurden Annemarie und Helmuth getrennt. Während die Schwester in ein Kinderheim nach Kramsach kam, nahmen die Großeltern in Lorüns den Achtjährigen auf. „Mein Großvater Ferdinand und ich haben uns gut verstanden, er hat auch Zither gespielt und war ein lebenslustiger Mann gewesen.“ Das Zitherspiel würde Helmuth Seidl noch sein Leben lang begleiten. Nicht lange dagegen sein Großvater: „1947 hatten wir nichts zu essen, das war ganz schlimm“, erinnert sich Seidl, der damals zwölf Jahre alt war. „Da sind wir im Juli ins Walsertal hinein hamstern, Richtung Marul. Mein Großvater ist mit dem Fahrrad gestürzt. Ich ging Hilfe holen, aber der Großvater starb am nächsten Tag im Krankenhaus. Das war ein gewaltiges Erlebnis für mich, auf dem Berg oben, im Wald, dass so was passiert...“

Vom (Un)Glück

Helmuth Seidl besuchte die Volksschule, mit 14, 15 Jahren kam er zur Firma Getzner. Zuerst habe er nur Maschinen geputzt, doch zuletzt sei er doch ein bisschen Webermeister gewesen, scherzt er heute. Zehn Jahre später war er für Vallazza als Gemüsefahrver käufer unterwegs. „Das war die beste Lebensschule. Vorher hat man nicht geredet, aber da bin ich überall rundum gekommen. Bis ins Brandnertal hinein habe ich Gemüse verkauft und musste mit den Leuten reden.“ Dieser Tätigkeit ging Seidl ebenfalls zehn Jahre nach, bis er im Alter von 34 Jahren einen schweren Lawinenunfall erlitt: „Ein Kollege und ich waren Skitouren. Weil das Wetter schlecht war, gingen wir in die Silvretta, da kannten wir uns aus. Von der Tübinger Hütte sind wir hinauf und von der Kessispitze bin ich ab, da war die Lawine und ich bin 200 Meter den Felsen hinunter. Der Kollege war weiter oben und hat mich auf die Hütte geschleppt. Ihm hat‘s zum Glück nichts getan, aber ich war total verschlagen. Er musste dann rauslaufen, um Hilfe zu holen. Eineinhalb Tage habe ich auf der Hütte gewartet, bis der Hubschrauber kam.“

Nach einigen Ope rationen wurden seine Verletzungen ein halbes Jahr im Gips versteift. Seitdem ist er auf Krücken angewiesen und kann nur mehr auf einer Gesäßbacke sitzen (inzwischen ist auch das schwierig, weshalb er schmerzbedingt während des Gesprächs immer wieder aufstehen muss). Auto

Die meisten Bludenzer assoziieren mit Helmuth Seidl sein schönes Zitherspiel bei den Roratemessen im Advent. Für die marie gab es eine Kostprobe bei ihm zuhause.

Links: Mit den Krücken auf der Chinesischen Mauer. Rechts: Mit den Krücken auf dem Ayers Rock in Australien.

fahren war nur mit Automatikschaltung möglich, denn er konnte den Fuß nicht mehr entsprechend betätigen. Das alles erzählt Helmuth Seidl beiläufig. Als es ihm wieder besser ging, begann er bei Textil Küng zu arbeiten: „Ich war ein bisschen Mädchen für alles und das waren ganz nette Leute. Bin auch da viel auf Messen herumgekommen, das war ein Erlebnis.“ 31 Jahre blieb der Bludenzer im Betrieb.

Musik, Reisen und Fotografie

Helmuth Seidl hat zwei Lebensmottos (mindestens). Eines lautet: „Darfst nicht rasten noch rosten.“ Noch in seinem hohen Alter befolgt er dies, geht täglich in die Stadt und häufig auf den Muttersberg („Ich laufe Alltag meine Rund‘“). Er besucht auch oft die Kirche, denn im Glauben findet er Halt und Kraft. Seit über 40 Jahren fährt er regelmäßig nach Schruns zu einer über 90-jährigen Frau, mit der er früher Zither gespielt hat und die seit einem Jahr im Bett liegt. Er sei inzwischen der einzige, der auf Besuch komme, und spiele ihr vor. 18 Jahre lang gab er einem gelähmten Mann zu essen und unterhielt die Bewohner des Pflegeheims in Bludenz mit seinem Zitherspiel. In der Musikschule unterrichtete er elf Jahre die Zither und das Hackbrett. Seidl spricht auch etwas Englisch und hat noch im Alter gelernt, E-Mails zu schreiben. Täglich spielt er eine halbe bis dreiviertel Stunde auf der Zither. Das lässt ihn erinnern: „In Brand, auf der Nil kreuzfahrt und überall hab‘ ich gespielt. Ich hatte ein schönes, aktives Leben.“ Nilkreuzfahrt? Helmuth Seidls zweite große Leidenschaft ist das Reisen. Seine Krücken hinderten ihn nicht daran, alle fünf Kontinente zu erkunden. Er besuchte mehrmals die USA und Südafrika, war in Kenia und Tansania, in Russland, Thailand, China, Japan, Südamerika, Australien, ja sogar auf Kuba. Auf der Chinesischen Mauer? Ja, mit Krücken. Auf dem Ayers Rock? Ja, mit Krücken. Seidl: „Die haben ja blöd geschaut, als ich da hinaufgekommen bin. Da haben sie gerade geklatscht. Der Ayers Rock ist schon interessant, ist ja ein großer Monolith.“ Fast wäre er nach Australien ausgewandert – „Das war ein großes Erlebnis mit den Koalabären“ –, doch so gerne er die Welt erkundete, nirgends sei es so schön wie bei uns: „Wir sind im Paradies hier.“

Während seiner Reisen schoss Seidl hunderte Fotos, die er in Fotobüchern gesammelt und geordnet hat. Auch wurden seine Fotos bereits beim Bludenzer Bahnhof ausgestellt. Interessierten würde er seine umfangreiche Fotosammlung auch als Ausleihe zur Verfügung stellen. Von den Reisen zehrt Helmuth Seidl noch heute. „Die Welt ist schon schön, man muss sie halt anschauen“, ist sein zweites Lebensmotto.

„Ich war zwei Mal verliebt“

Das Fotografieren kam teils von seiner Schweizer Freundin, einer Fotografin aus Davos, die er beim Schifahren kennenlernte und mit der er viele Touren machte. Aufgrund einer Hirnhautentzündung war sie innerhalb von drei Tagen tot. Später lernte er eine Schrunserin kennen, mit der er viel Zither spielte. Sie verstarb an Krebs. „Das war alles schlimm eigentlich. Doch es gehört alles zum Leben“, sagt Seidl. Man glaubt ihm, dass er seinen Frieden damit geschlossen hat und es ist keine Spur von Bitterkeit enthalten, wenn er nachsetzt: „Und danach hat mich niemand mehr gewollt... oder umgekehrt.“ Nach dem „Geheimnis“ seiner positiven Lebenseinstellung gefragt, antwortet Seidl: „Ich weiß auch nicht, das ist angeboren. Ich bin wie ein Stehaufmännchen.“ Das Leben sei immer eine Lebensschule, alles habe Vor- und Nachteile und man sehe es erst hinterher.

Mitte Juli wird Helmuth Seidl 85 Jahre alt. Er hört und sieht nicht mehr gut, die Hände sind vom Krückenlaufen wund und tun ihm weh. Wenn er sagt „Zwei Jahre mache ich noch, dann gehe ich... höher“ oder „Alles hat sein Ablaufdatum, auch das Leben“, tut er das mit einem kecken Lächeln. Er schätzt die gekaufte Werkswohnung, in der er seit 52 Jahren lebt („Hat sich rentiert“), die Aussicht auf den ganzen Rätikon von seinem Fenster aus, bis zum Säntis, genauso wie die Jahreszeiten. Wenn er einem depressiven 100-Jährigen mithilfe von Stofftieren, Luftballonfiguren und lustigen Sprüchen eine Freude bereiten kann, dann freut sich Seidl darüber, dass man sich mit 100 noch so freuen kann. Bevor er abschließend zu einem Lied auf der Zither ansetzt, wiederholt er noch ein letztes Mal, was er im gesamten Gespräch immer wieder betont hat: „Ich habe ein seltenes, reiches Leben gehabt. Ich sage immer, trotz allem, habe ich ein reiches, ein schönes Leben gehabt.“

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