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Über Wahrheit und Wirklichkeit
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Biowaffe, 5G-Sendemasten, Bill Gates: Es gibt viele Verschwörungstheorien zu Covid-19. Dutzende Handymasten in Europa wurden angezündet, Rasierklingen darin versteckt, um Techniker zu verletzen. Warum Wahrheit keine Ansichtssache ist, was pseudo-investigative Verschwörungstheorien anrichten und weshalb Menschen dafür anfällig sind.
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Text: Christina Vaccaro Foto: Shutterstock
Beginnen wir beim Zweifel. Grundsätzlich ist er gut – und wird mit kritischem Hinterfragen verknüpft. Er gehört zu unserem geistigen Werkzeugkasten, den wir auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis möglichst sinnvoll einsetzen sollten. Es gibt aber auch eine Form des Zweifels, die nicht Teil der Wahrheits- oder Lösungssuche ist, sondern Teil des Problems. Ein Beispiel: Für eine Studie1 dachten sich Forscher eine Verschwörungstheorie rund um Rauchmelder und deren gefährlicher Nebenwirkungen aus. Als die Teilnehmer am Ende über die erfundene Geschichte aufgeklärt wurden, zweifelte ein Teil von ihnen die Entwarnung und Aufklärung an, glaubte vielmehr, sie seien Teil der Verschwörung, und blieb bei der erfundenen Theorie.
Jan Skudlarek, Philosoph und Autor des 2019 erschienen Buches „Wahrheit und Verschwörung“, hält fest: „Für den Verschwörungstheoretiker sind Gegenargumente keine Argumente, sondern nur neuerliche Versuche, die Wahrheit zu vertuschen. Sie können gar keine Geltung haben, und Sprecher, die widersprechen, können niemals die Wahrheit sagen – aus dem simplen Grund, weil diese womöglich Teil der Täuschung sind.“
Ganz oben auf der Liste der Täuschung stehen die Medien: eine „Lügenpresse“, die nur auf Manipulation aus ist, um eine naive Öffentlichkeit in bestimmte Bahnen zu lenken. 9/11? War die Bush-Regierung selbst. Mondlandung? Wurde in Filmstudios gedreht. Das Attentat am Breitscheidplatz in Berlin? Hat es nie gegeben. Die Überzeugung einer unwahren Berichterstattung kann so weit gehen, dass ein Vater, der bei einem
„Wenn etwas aussieht wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es wahrscheinlich eine Ente.“
Amoklauf in einer Schule seinen Sohn verliert, Tage nach dem Tod seines Kindes wüsteste Beleidigungen und Drohungen erhält, weil er Teil der Verschwörung sei und nicht die Wahrheit sage2. Im Fall des US-Amerikaners Lenny Pozner wurde nach Jahren der Hasstiraden ein Professor gefeuert, eine Frau kam ins Gefängnis.
„Sie sind hinter dir her“
Zwei Merkmale zeichnen nach Skudlarek Verschwörungstheorien aus: Alles, was ich sehe, ist nicht echt, sondern inszeniert („Lügenpresse“). Und: Alles, was ich sehe, wurde von jemandem inszeniert (und dieser jemand ist mächtig und böse). Eine fundamentale Eigenschaft von Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, ist das Bauchgefühl, immer und überall getäuscht und belogen zu werden – von Hintermännern und Strippenziehern, die die Fäden in der Hand haben.
Menschen, denen Kontrolle wichtig ist und die ihre Autonomie gefährdet sehen, aber auch Menschen, die sich in machtarmen Positionen wiederfinden, neigen zu Verschwörungstheorien. Sie fühlen sich ohnmächtig, misstrauen Staat und Medien. „Sollte ich das Gefühl haben, getäuscht zu werden, ist mir mein Gefühl wichtiger als dessen faktische Grundlage. Auf der Gedanken-Autobahn fahren die Gefühle immer auf der Überholspur, lassen sich nicht ausbremsen“, so Jan Skudlarek.
Eine andere Ursache für den Glauben an Verschwörungstheorien ist das Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Nach dem Motto „besondere Gedanken für besondere Menschen“ sind Theorien, die abseits des Mainstreams liegen, für Menschen attraktiv, die sich selbst für unkonventionell halten. Sie identifizieren sich mit ungewöhnlichen Theorien, profilieren sich damit. Was sie nicht wahrhaben wollen: „Mit der Wahrheit ist es manchmal so wie mit dem Straßenverkehr: Wenn alle in die falsche Richtung fahren, bist vermutlich du der Geisterfahrer“ (Skudlarek).
Die Suche nach der Wahrheit
Manchmal hört man etwas und es klingt plausibel. Stichwort 9/11. Verschwörungstheoretiker argumentieren damit, dass Kerosin keine Stahlträger schmelzen kann, ein kerosinbedingtes Feuer also kein Gebäude einstürzen lassen kann, das aus vielen Stahlträgern besteht. Als Argument grundsätzlich richtig, nur: Stahl verliert schon weit vor dem Schmelzpunkt seine Stabilität. Deshalb kann ein kerosinbedingtes Feuer sehr wohl ein Gebäude mit vielen Stahlträgern zum Einsturz bringen.
Verschwörungsdenken tut lediglich so, als würde es der Wahrheit nachforschen. Skudlarek: „Es geht dem Verschwörungstheoretiker nicht um den Akt des Wissens (Wissen im Sinne von nachvollziehbarer Überprüfung von Hypothesen); der Verschwörungstheoretiker lebt im Akt des vagen Behauptens.“ Es liegt in der Natur subjektiver, gefühlter „Wahrheiten“, sie nicht falsifizieren zu können.
Gedanken sind frei. Handlungen nicht
Über Meinungen darf gestritten werden, nicht aber über Fakten. Grundlage für persönliche Handlungen und politisch-gesellschaftliche Entscheidungen müssen Fakten sein. Wenn ein Machtträger wie Donald Trump (der täglich etwa 15 Falschmeldungen twittert3) den Klimawandel leugnet, verstärkt das die soziale Ablehnung gegenüber notwendiger Veränderungen in Richtung eines klimafreundlicheren Lebensstils. Wenn Medien verteufelt werden und sich Bürger aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und in Filterblasen sozialer Netzwerke verschwinden, dann wird unsere Demokratie weiter ausgehöhlt. Verschwörungstheorien verändern die Gedankenwelt von Menschen und somit auch ihre Handlungen. Suchen wir die Wahrheit: eine möglichst genaue Beschreibung der Wirklichkeit.
BUCHTIPP:
Jan Skudlarek: „Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist.“ Reclam Verlag, 208 Seiten, ISBN: 978-3-15-011199-4. Selbsttest:
www.reclam.de/die_ganze_wahrheit
Quellen: 1 Roland Imhoff und Pia K. Lamberty: „Too Special to be Duped: Need for Uniqueness Motivates Conspiracy“ in: European Journal of Social Psychology 47, 2017, Nr. 6, S. 724-734. 2 Mark Hill / Lenny Pozner: „6 Horrifying Realities of Dealing with Sandy Hook ‚Truthers‘“, 26.4.2016: www.cracked.com/personal-experiences-2232-my-son-diedat-sandy-hook-conspiracy-nuts-think-im-lying.html. 3 Glenn Kessler: „A Year of Unprecedented Deception: Trump Averaged 15 False Claims a Day in 2018“, 30.12.2018: www.washingtonpost.com/politics/2018/12/30/ year-unprecedented-deception-trump-averaged-false-claims-day/?nodirect=on
Fakten Bestätigungsfehler
Tendenz des menschlichen Geistes, vor allem jene Fakten, Meinungen und Tatsachen wahrzunehmen, zu verarbeiten und zu erinnern, die die schon bestehende Meinung bestätigen. Wird unsere Meinung bestätigt, wird im Gehirn das „Glückshormon“ Dopamin ausgeschüttet (ähnlich gut wie bei Schokolade, Drogen oder Sex).
Der Backfire-Effekt
Konfrontiert man Anhänger faktisch falscher Überzeugungen mit einer faktisch korrekten Gegenmeinung, kann der irrtümliche Glaube zunehmen.
Tipp: Thema Internet und Echtheit: Stellen Sie sich folgende Fragen: Was sind die Eigenschaften dieser Nachrichtenseite, dieses Facebook-Ac counts? Kann ich etwas über die Geschichte dieser Seite herausfinden? Seit wann wird gepostet und wie ist der Tonfall – emotional oder sachlich?