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Wie wir aus der Geschichte lernen können
Im Zuge der Veröffentlichung seiner neuen Co-Produktion Da 5 Bloods auf Netflix spricht Oscar-Preisträger und Regisseur Spike Lee (63) mit The Big Issue über Rassen und Wut in Amerika.
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Fotos: Jason Bell/Netflix
Zwei Schwarze Männer im Abstand von 250 Jahren vom Staat getötet … 5. März 1770, Boston. Acht britische Soldaten schießen auf eine Gruppe von Demonstranten. Fünf fallen. Der erste, der starb – der erste Amerikaner, der für die Unabhängigkeit der Nation starb – war Crispus Attucks, Mitte 40, afrikanischer und uramerikanischer Abstammung. Attucks wurde zum Symbol der amerikanischen Revolution, der abolitionistischen Bewegung, geriet jedoch später in Vergessenheit. 6. Mai 2020, Minneapolis. Ein Beamter verhaftet einen Mann, der verdächtigt wird, eine gefälschte 20-Dollar-Note verwendet zu haben, und hält den 46-jährigen George Floyd fest, indem er fast neun Minuten lang auf seinem Hals kniet. Floyd wiederholt: „Ich kann nicht atmen”, und bittet: „Bring mich nicht um.“ Nach seinem Tod brechen landesweit Proteste aus, Städte brennen.
Das Außergewöhnliche an George Floyds Ermordung ist, dass sie nicht außergewöhnlich ist. Er war nur das jüngste – vielleicht nicht einmal das jüngste, wenn Sie das lesen – Opfer einer Gesellschaft, die seit Beginn auf Ungleichheit und Ausbeutung aufgebaut ist. Nach dem Massaker von Boston stellte der spätere Gründervater und Präsident John Adams in seiner Rolle als Anwalt für die britischen Truppen die Demonstranten als „ein buntgemischtes Gesindel frecher Jungs, Negros und Mulatten“ dar, wobei Attucks‘ „verrücktes Verhalten“ Konflikt schüre. Heute bezeich net Präsident Trump Demonstranten als „Schlägertypen“ und droht: „Wenn das Plündern beginnt, beginnt das Schießen.“
Floyds Tod kam nach bereits zunehmenden Spannungen aufgrund anderer rassistisch begründeter Morde. Im März wurde die 26-jährige Rettungssanitäterin Breonna Taylor bei einer verpfuschten Razzia getötet; die Polizei jagte einen bereits in Gewahrsam befindlichen Täter. Im Februar wurde Ahmaud Arbery in Brunswick, Ohio, getötet. Zu Verhaftungen kam es erst, nachdem Filmmaterial von der Erschießung an die Öffentlichkeit kam und viral geworden war. Mit Spike Lees Worten: „Ein schwarzer Jogger läuft in Georgia die Straße entlang und wird von zwei weißen Rednecks verfolgt, die aussehen, als wären sie aus dem Film ‚Beim Sterben ist jeder der Erste‘, und ihn abschießen wie einen Hund. Das ist 2020!“ „Wie oft muss sich die Geschichte wiederholen, bevor das Ermorden von schwarzen Körpern am helllichten Tag endet”, postete Lee als Antwort auf Floyds Tod neben Ausschnitten aus seinem Film Do the Right Thing (1989), in dem eine der Figuren, Raheem, von einem Polizisten mit seinem Schlagstock erstickt wird.
Seit vier Jahrzehnten gehen Spike Lees Filme furchtlos große Themen an. An den frühen Indie-Filme Nola Darling, Jungle Fever und Crooklyn zeigte sich ein cineastischer Außenseiter, der unzählige Geschichten über das schwarze Amerika erzählte; Malcolm X ließ eine Bürgerrechtsikone aufleben, 25 Stunden charakterisierte Verlust- und Angstgefühle nach 9/11, Chi-Raq kritisierte (in reimenden Couplets) die Schusswaffenkultur; BlacKkKlansma lehrte uns, Hass zu infiltrieren, und Lee gewann 2019 einen Oscar.
Sein neuester Film, Da 5 Bloods, der im Juni auf Netflix veröffentlicht wurde, handelt vom Vietnamkrieg, sagt aber viel über unsere brisante Zeit aus. Vier afroamerikanische „Bloods“ – ein kameradschaftlicher Begriff, der von schwarzen Soldaten verwendet wird – kehren nach Vietnam zurück, um die Überreste ihres ehemaligen Kommandanten zu exhumieren und zu repatriieren (und Gold auszugraben, das sie im Dschungel vergraben hatten). In Rückblenden spielen die Schauspieler, die meisten Ende 60, mit Chadwick Boseman (Black Panther) als Stormin‘ Norman, dem (auch politischen und spirituellen) Anfüh rer des Trupps. Die Überlebenden sind alt geworden, die Erinnerung an Norman nicht. Die jahrzehntealten Ereignisse plagen und schmerzen immer noch.
Lee öffnet den Fokus vom individuellen zum internationalen Trauma. Die Geschichte kann Subjekte voneinander isolieren und trennen, und Da 5 Bloods gibt den Kontext zurück. Der Film beginnt mit einer Archivmaterial-Montage: Fahnenpflanzer auf ‚Da Moon‘, Black Power bei den Olympischen Spielen, mit chemischen Waffen besprühte vietnamesische Felder. Demonstranten, die 1968 auf der Demokratischen Parteiversammlung von der Polizei zusammengeschlagen werden, Anti-Kriegs-Demonstranten, die an der Kent State University erschossen werden, Mönche, die sich auf den Straßen von Saigon selbst verbrennen. Die Hinrichtung der Vietcong wurde auf Bildern festgehalten, deren Wirkungskraft nicht in Worte zu fassen ist.
Man kann diese Bilder nicht ansehen, ohne an ähnliche Szenen im heutigen Amerika zu denken. Sogar Apollo 11 hat sein zeitgemäßes Äquivalent in der SpaceX-Mission gefunden – beide unglaublichen Erfolge, die vor dem Hintergrund sinnloser Gewalt und Massenunruhen erzielt wurden. Aufnahmen von Polizeibrutalität und belagerten Städten aus den 1960er Jahren könnten vorige Nacht gefilmt worden sein, könnten heute Abend
nachgebildet werden. „Die Geschichte wiederholt sich”, sagt Lee aus seinem Büro in Brooklyn. „Wir können aus der Geschichte lernen – wenn wir aufwachen.“
Die meisten von uns haben ihr Wissen über den Krieg in Vietnam aus Filmen. Als Macher von Da 5 Bloods sind Sie Filmemacher oder Historiker? „Es muss nicht das eine oder das andere sein. Ich bin Filmemacher und wir erzählen Geschichte.“ Lee drehte vor Ort und reiste zum ersten Mal nach Vietnam. „Wir wollten das vietnamesische Volk nicht entmenschlichen“, sagt er. „Sie haben für ihr Land gekämpft. Zuvor hatten sie China, Frankreich und schließlich den Vereinigten Staaten von Amerika in den Arsch
getreten. Vietnam ist ein sehr kleines Land. Es ist ein sehr stolzes, aber schönes Volk. Ich wollte die Vietcong in keinerlei Art und Weise zu den Bösewichten machen.“ Die Bedingungen vor Ort waren schwierig – man sieht es an dem Schweiß, der den Hauptdarstellern herunterläuft. Lee ist einfach froh, dass die Produktion die Schrecken vermieden hat, denen sein Freund Francis Ford Coppola beim Dreh von Apocalypse Now begegnet ist. „Ich hatte den Luxus zu sehen, was Francis tat und ich sagte, nicht für mich! Martin Sheen hatte einen Nervenzusammenbruch [und einen Herzinfarkt], so weit mussten wir nicht gehen.”
Da 5 Bloods ist ähnlich episch aufge baut, weitaus dringlicher, und dreht sich um die glühende Darstellung von Delroy Lindo als Paul: äußerlich ein einschüchternder mobbender Trumpianer, innerlich ein fragiler und gebrochener Mann. Obwohl Lee Trump immer nur als „Agent Orange“ bezeichnet, ist Paul keine Karikatur; die Wut, der Schmerz und die Frustration, die sein Herz verdunkelten, sind leicht nachzuvollziehen. Die Geschichte ist dazu verdammt, sich zu wiederholen, nur kommen heute die Nachwirkungen einer globalen Pandemie zu dieser Belastung hinzu. Lee nennt seine Heimatstadt, in der es über 17.000 Todesfälle gab, „das Epizentrum“. „New York kehrt täglich ein bisschen mehr zurück“, sagt er. „Die gemeldeten Fälle gehen langsam zurück. Die Todesfälle gehen zurück. Ich möchte unserem Gouverneur Cuomo insbesondere Anerkennung zollen, der hier großartige Führungsstärke gezeigt hat, die im Weißen Haus nicht vorhanden war.“
Trump versucht zu führen …
„Es gibt gute und schlechte Führungsstärke“, sagt Lee. „Und Agent Orange und seine Regierung haben nichts als schlechte Führungsstärke.“
In einer anderen Welt wäre Lee selbst Präsident gewesen und hätte Croissants auf der Promenade de la Croisette gegessen: als erster schwarzer Hauptjuror in den 73 Jahren der Filmfestspiele von Cannes nämlich, wo die Premiere von Da 5 Bloods außerhalb des Wettbewerbs stattfinden sollte. Die einzigen öffentlichen Vorführungen waren für schwarze Vietnam-Veteranen in New York. „Sie lachten, weinten, all diese Emotionen, und danach umarmten mich alle. Sagten: ‚Spike, danke, dass du diesen Film gemacht hast.‘ Und: ‚Spike, warum hast du so verdammt lange gebraucht?‘“
Für den 1957 Geborenen fielen der Vietnamkrieg und die Bürgerrechtskämpfe in der Heimat mit seinen Entwicklungsjahren zusammen. „Ich war jung genug, um nicht einberufen zu werden. Aber ich war alt genug, um mich zu fragen, was zur Hölle ist los? Viele vergessen, dass der Vietnamkrieg der erste Krieg war, der im amerikanischen Fernsehen übertragen wurde. Seine Wirkung war groß. Darüber wurde beim Abendessen gesprochen. Ich sehe da Muhammad Ali sagen: ‚Kein Vietcong hat mich jemals Nigger genannt.‘ Ich sehe John Carlos und Tommie Smith mit ihren erhobenen schwarzen Fäusten.
Da gab es den Vietnamkrieg, die Friedensbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, die Black-Power-Bewegung … Darum geht’s mir: Da sind einerseits schwarze Soldaten, die gegen die Vietnamesen kämpfen, anderseits wird in der Heimat Martin Luther King, der für ihre Rechte kämpft, ermordet.“ Eine Szene im Film zeigt die Reaktion der Bloods auf die Ermordung Kings, die vom Feind im Radio Hanoi übertragen wird: „Schwarze >>
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GI, eure Regierung schickt 600.000 Soldaten, um den Aufstand niederzuschlagen. Eure schwarzen Schwestern und Brüder kämpfen in über 100 Städten. Sie töten sie. Warum bekämpft ihr uns, so weit weg von dort, wo ihr gebraucht werdet?”
In der Sendung, die Lee aus echten Aufnahmen adaptierte, heißt es, schwarze Soldaten hätten mehr mit den Vietcong gemeinsam als ihre weißen Kommandeure, die sie auf die andere Seite der Welt schicken, um für Freiheiten zu kämpfen und

zu sterben, die sie daheim nicht haben. Stormin‘ Norman überzeugt seine Bloods, sich nicht an ihren weißen Vorgesetzten zu rächen. Er warnt sie davor, ihnen „ihr antikommunistisches KoolAid“ abzukaufen, spricht über Rassismus: „Jedes Mal, wenn ich aus meiner Haustür gehe und sehe, wie Polizisten in meiner Nachbarschaft patrouillieren, als wären wir im Polizeistaat, spüre ich genau, wie viel ich nicht wert bin“. Und die Geschichte der Schwarzen.
Lee lässt dies nachklingen: „Seit Beginn kämpfen schwarze Menschen für dieses Land – deshalb spricht Chadwick Bosemans Figur über Crispus Attucks, er ist eigentlich unbekannt, steht nicht am Lehrplan, deshalb kommt er im Film vor – wir kämpfen immer noch für unsere ei genen Rechte. Wir kämpfen heute noch für dieses Land.“
Da 5 Bloods verbindet den Funken der amerikanischen Revolution mit zeitgenössischem Zorn. Das Massaker von Boston brachte die Pro-Unabhängigkeits-Kampagne in Schwung, aber im „land of the free“ sind große Bevölkerungsteile in Armut gefangen, und ihre Möglichkeiten sind durch ihr ethnisches Profil eingeschränkt. 13 Prozent der Amerikaner sind schwarz, machen aber 34 Prozent der Gefängnisbevölkerung aus. Ungleichheiten sind seit dem Ursprung der Nation in sie ein gebaut. Die Fesseln der Sklaverei sind zu Handschellen an den Handgelenken geworden; Eisenkragen sind heute Knie am Hals. Es sei daran erinnert, dass Rassismus und Diskriminierung in der Strafjustiz kein rein amerikanisches Problem sind. In Großbritannien werden Schwarze neunmal häufiger aufgehalten und nach Drogen durchsucht. Sheku Bayoh, Rashan Charles, Darren Cumberbatch, Edson Da Costa, Nuno Cardoso und Sarah Reed zählen zu denjenigen, die nach Zusammenstößen mit der Polizei gestorben sind. Viele Fragen zu ihrem Tod bleiben unbeantwortet.
Lee fährt fort: „Bereits 1989 bei Do The Right Thing wurde mir folgende Frage gestellt: ‚Spike, hast du die Antworten, um Rassismus zu stoppen?‘ Und ich sagte nein. Die Leute stellen diese Frage heute noch.
Rassismus heißt nicht mehr, dass man sich einfach an eine Theke setzen und essen können will. Da gibt es das Redlining, soziale Ungleichheit, mangelnde Bildung. Zum Beispiel sind wir hier mitten in der Pandemie, Schulen sind geschlossen. People of Colour haben viel eher kein WLAN zu Hause und viel eher keinen Computer. Wie werden also Kinder unterrichtet?“
Lee weist darauf hin, dass wir uns immer noch mit dem Erbe des Vietnamkrieges befassen, der nicht mit dem Fall von Saigon endete. „Obwohl es 50 Jahre her ist, gehen Kriege nie weg, die Menschen trauern immer noch um ihre Väter, Mütter, Schwestern, Brüder, Verwandten und Freunde, die in Vietnam wegen irgendeiner Schwachsinnigkeit getötet wurden.“
In ähnlicher Weise werden die Auswirkungen von COVID-19 lange nach Ende der Pandemie für eine Generation anhal ten, die mit ihrer Ausbildung in Rückstand geraten ist oder Familienmitglieder verloren hat. „Man kann sagen, es dauert ewig, weil die Menschen immer um ihre Lieben trauern werden. Das geht nicht einfach weg“, meint Lee.
Aber das Erinnern verbindet uns mit der Geschichte, erinnert uns an jene, die vor 250 Jahren oder heute gekämpft haben und gestorben sind, die an eine Veränderung glaubten, die wir mit unserem Glauben an eine kommende Veränderung ehren. „Wenn sie einen Impfstoff finden, können wir nicht zu dem zurückkehren, was vorher war“, folgert Lee. „Es muss eine ganz neue Agenda geben. Diese enormen Unterschiede zwischen den Betuchten und den Habenichtsen, diese riesigen Lücken müssen geschlossen werden.“
Glauben Sie, dass das passiert? „Das ist meine Hoffnung und mein Traum.”
Währenddessen vertreibt die Polizei mit Tränengas Demonstranten vor dem Weißen Haus, damit Trump auf den Stu fen einer in Brand gesetzten Kirche für ein Foto posieren kann. Er hält eine Bibel hoch und sagt: „Wir haben ein großartiges Land, das großartigste Land der Welt, wir werden es noch großartiger machen. Es wird nicht lange dauern.”
Zweihundertfünfzig Jahre, und wir warten immer noch. Übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche von Lisa Strausz. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von INSP.ngo / The Big Issue UK bigissue.com @BigIssue