marie 53/ Oktober 2020

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Mittendrin in V

Die Sache mit der nackten Haut

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Text: Daniela Egger, Illustration: privat

A

ls er in den Zug stieg, war er unaufmerksam gewesen. Erst an seinem Platz bemerkte er, dass das Mädchen ihm gegenüber barfuß war, und dass er ohne Maske eingestiegen war, was ihm strenge Blicke von den Mitreisenden eintrug. Nicht von ihr, sie lächelte. Hastig kramt er in seiner Tasche nach dem schwarzen Stoffstück, aber es dauert einige Minuten, bis er das richtige Teil erwischt und es sich ins Gesicht binden kann. Gewalt hat ihn immer erschreckt, sein Widerstand war nie dauerhaft vorhanden. Sein Kinn fühlt sich an, als sei es aus Beton, die Kopfschmerzen lassen seine Augen noch immer tränen. Beinahe hätte er den Zug verpasst, weil er nicht richtig laufen konnte. Aber er atmet wieder, und dass er jetzt in einem Zugabteil sitzt, und dass der Zug sich in Bewegung setzt, das lässt ihn erleichtert in den Sitz sinken. Davonzulaufen ist nicht, was er sich in seinen Träumen ausmalt. Aber bei Tageslicht ist es seine einzige Chance. „Warum weinst du?“ Erschrocken blickt er auf. Das Mädchen mit den nackten Füßen sieht sehr gepflegt aus, Bücher liegen auf ihren Knien, der Stift in der Hand war eben noch verwendet worden. Dass sie keine Schuhe trägt, passt nicht zu ihrer sonstigen Erscheinung. „So ein blaues Veilchen passt nicht zu dir.“ „Ich... weine nicht. Das sind nur .... ich bin gestürzt.“ „Ich hatte mal eine Freundin, die erzählte auch jedes Mal, dass sie gestürzt ist. War aber meist ein sauberer Schlag in die Fresse.“ Er findet sie hinreißend. Sie ist nicht schön im üblichen Sinn, nicht wie die Mädchen, die er aus der Schule kennt, die schlank und makellos und einheitlich sind. Sie hat diesen klaren Blick, dabei strahlt sie eine große Wärme aus. Das liegt vielleicht an ihrem leichten Übergewicht, mit dem sie sehr zufrieden scheint. „Sie hat mir ihre Freundschaft gekündigt,“ sagt sie, „weil ich ihr nicht glauben konnte.“ Weil ihm nichts zu sagen einfällt, schweigt er. „Du bist nicht gestürzt.“ „Warum bist du barfuß? Passt nicht zu dir. Glaube ich.“


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