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Aus dem Leben entfernt?
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Bereichsleiter für „Bürgerservice & Information“ im Energieinstitut Vorarlberg und externer Lehrbeauftragter der FH Vorarlberg.
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Der Covid-19-bedingte Shutdown hat die Hoffnung aufkeimen lassen, dass die Menschheit in ihrer Raserei vielleicht doch ein wenig zur Besinnung kommt. Die Lockerungen des Shutdowns lassen diese Hoffnungen schwinden. Es war eher so etwas wie eine Safety-Car-Phase bei einem Autorennen. Ist das Safety-Car auf der Piste, fädeln sich alle brav dahinter auf und rollen ihm nach – fährt es raus, geben alle Vollgas, als hätten sie etwas aufzuholen. Die Wirtschaft will so schnell wie möglich wieder wachsen, Fluglinien werden mit Milliardensummen unterstützt, um sie zu erhalten.
Haben wir so sehr den Sinn fürs Leben verloren? Vermutlich ja. Wenn heutzutage jemand sagt, er wolle leben, dann denkt er eher an tolle Partys, Wochenendreisen mit Shopping in London oder New York als an saubere Luft, klares Wasser, gesundes Gemüse. Kein Wunder, laut Untersuchungen verbringen wir 80 Prozent unserer Zeit in geschlossenen Räumen. Und wenn wir uns von einem Gebäude zum anderen bewegen, tun wir das in klimatisierten Karossen. Und wenn wir uns zu diesen Karossen bewegen, gehen wir über Pflastersteine, Beton, Asphalt. Wenn dann mal jemand „danebentritt“ und Gras, Tau, Erde am Schuh hat, muss dieser so schnell wie möglich „gereinigt“ werden. Dabei sind es die Erde, das Wasser, die Pflanzen, von denen wir leben, nicht der Asphalt. Haben wir den Draht zum Leben verloren?
Covid-19 hat dem Leben vermutlich mehr Gutes beschert als Böses, der
Eckart Drössler
Erd-Erschöpfungstag, also der Tag, an dem wir die Ressourcen eines Jahres verbraucht haben, lag in den Jahren 2018 und 2019 am 29. Juli, heuer rutschte er fast um einen Monat nach hinten, auf den 22. August. Drei Monate Shutdown ergab einen Monat Entspannung. Wollen wir da die Situation nicht nutzen, um umzulernen? Arbeitsplätze dort schaffen, wo es sie im Shutdown gebraucht hätte, anstatt die, die stillgelegt werden mussten, wieder zu beleben? Die Erde ist in einem erbärmlichen Zustand, es gibt Arbeit ohne Ende, das Problem ist nur, dass für diese – lebenswichtige – Arbeit niemand Geld übrig hat und dass sie mehrheitlich nicht gesehen wird. Weil wir uns in hohem Maße aus dem Leben entfernt haben.
Was wollen wir eigentlich? Es gab eine Zeit ohne Menschen – und niemand hat uns vermisst. Wollen wir so schnell wie möglich wieder eine Zeit ohne Menschen haben, in der uns wieder niemand vermissen wird? Oft scheint es, dass Ansprüche alles sind, was wir noch entwickeln.
Menschen in Dienstleistungsberufen kennen das. Welche Kunden werden besonders ernst genommen, besonders umsorgt? Die anspruchsvollen, die ihre Ansprüche auch klar zum Ausdruck bringen. Die stillen und bescheidenen Kunden kommen auf die Wartebank.
Und wenn sich ein junger Mensch, der in diese Welt hineingeboren wurde, dieses Treiben eine Zeit lang angesehen hat und ernst genommen werden will, was wird er tun? Natürlich Ansprüche stellen, möglichst höhere als die anderen und sie lauter zum Ausdruck bringen als die anderen. So wird er zum bewunderten Helden.
Fährt eine Familie heute auf Urlaub, so haben viele gut eine halbe Tonne Gepäck oder mehr mit sich. Am liebsten verpackt in ein zum Ferienhaus umgebauten Lieferwagen. „Sonst wird das nichts“, bekam ich auf die Frage zu hören, ob es das wirklich alles brauche.
Geht eine Walfamilie auf Reisen, so nimmt sie nicht mal einen Proviantsack mit. Sie braucht kein GPS, kein Navi, nicht mal einen Neoprenanzug, auch nicht für die Kleinen. Und sie halten Kontakt über große Distanzen, ohne Funkgerät. Rund 20.000 Kilometer lang ist die Reise der Grauwale von Mexiko in die Arktis und zurück. Sie tun es in aller Stille und Bescheidenheit. Walreisen waren auch nie ein ökologisches Problem. Welche Spezies ist höher entwickelt? Kann man da eine eindeutige Antwort geben?
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Wir müssen lernen, Menschen für das zu schätzen, was sie nicht tun, obwohl sie könnten. Wir müssen lernen sie für das zu achten, was sie nicht haben, obwohl sie es sich leisten könnten. Und wir müssen lernen, sie für das zu bewundern, was sie können, was sie erlernt haben, für ihre Fähigkeiten und Erkenntnisse, die sie erworben haben und für das, was sie dieser Erde Gutes tun.
Das wird nicht über Verzicht gehen, Verzicht ist nicht von Dauer. Aber es kann über Befreiung gehen. Das ist ein anderer Ursprungsgedanke. Wir können und sollten uns von vielem befreien, was uns in Summe betrachtet nicht guttut.