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Worte im Angesicht des Todes
30 | An seine Freundin
Westliches Gefängnis Deutsche Abt. Zelle 41
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Malte mit seiner Freundin Hanne, sein „eigenes kleines Mädchen“
4. April 1945
Mein eigenes kleines Mädchen,
ich wurde heute vor ein Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Eine schreckliche Botschaft für ein kleines Mädchen von zwanzig Jahren. Ich habe die Erlaubnis bekommen, diesen Abschiedsbrief zu schreiben. Und was soll ich schreiben? Wie soll nun dieser mein Schwanengesang lauten? Die Zeit ist kurz – der Gedanken so viele, was ist das Letzte und Wertvollste, das ich dir geben kann, was besitze ich, das ich Dir zum Abschied geben kann, dass Du mit Trauer und dennoch mit einem glücklichen Lächeln weiterleben, wachsen und großwerden kannst?
Wir segelten auf dem wilden Meer, wir begegneten einander vertrauensvoll wie spielende Kinder, und wir liebten einander. Das tun wir noch, und das werden wir auch weiterhin tun. Aber eines Tages riss uns der Sturm auseinander, ich stieß auf Grund und versank. Du wurdest an eine andere Küste gespült, Du wirst in einer neuen Welt weiterleben. Du sollst mich nicht vergessen, das verlange ich nicht, warum sollst Du etwas vergessen, das so schön ist, aber Du darfst nicht daran hängen bleiben, Du sollst ebenso leicht und doppelt glücklich weiterleben, denn das Leben hat Dir auf Deinem Weg das Schönste vom Schönen geschenkt. ( . . . ) Du darfst Dich nicht der Schwermut hingeben, Du musst reif und reich werden, hörst Du, mein eigenes liebes Mädchen.
Du lebst weiter und wirst anderen schönen Abenteuern begegnen, aber versprich mir, das bist Du mir bei all dem, wofür ich gelebt habe, schuldig, dass der Gedanke an mich sich nie zwischen Dich und das Leben stellen wird. ( . . . )
Du fühlst ein Stechen im Herzen, das ist der Schmerz, wie man denn sagt, aber, Hanne, schau weiter, wir müssen ja sterben, und, wenn ich ein wenig früher oder später entschlafe, so können weder Du noch ich sagen, ob das gut oder schlimm ist.
Ich denke an Sokrates, lies von ihm, und Du wirst Platon erzählen hören, was ich gerade jetzt empfinde. Ich habe Dich grenzenlos lieb, aber jetzt nicht mehr, als ich Dich schon immer geliebt habe. ( . . . ) Nun sterbe ich, und ich weiß nicht, ob ich eine kleine Flamme in einem anderen Herzen entzündet habe, eine Flamme, die mich überleben wird, aber dennoch bin ich ruhig, weil ich gesehen habe und weiß, dass die Natur reich ist, so dass keiner es merkt, wenn ein paar vereinzelte Sprösslinge unter den Füßen zertreten werden und sterben. ( . . . )
Hebe den Kopf empor, Du meines Herzens allerköstlichster Kern, hebe ihn empor und sieh, das Meer ist immer noch blau, das Meer, das ich so geliebt habe und das uns beide umhüllt hat. ( . . . )
Merke Dir, und schwöre es Dir, dass es wahr ist, dass jeder Schmerz sich in Glück verwandelt, nur werden die wenigsten das nachträglich vor sich selber eingestehen. Sie hüllen sich in den Schmerz, und die Gewohnheit lässt sie glauben, dass es beständig Schmerz sei. Die Wahrheit ist die, dass nach dem Schmerz die Tiefe, und nach der Tiefe die Frucht kommt.
Schau, Hanne, eines Tages wirst Du einem begegnen, der Dein Mann werden wird, und wird dann der Gedanke an mich Dich beunruhigen, wirst Du vielleicht ein schwaches Gefühl bekommen, dass Du mir oder dem gegenüber versagtst, was Dir ein und heilig ist? Hanne, schau nochmals empor, schau in meine lachenden blauen Augen, und Du wirst verstehen, dass die einzige Art, in der Du mir gegenüber versagen kannst, darin besteht, nicht ganz und gar Deinem natürlichen Instinkt zu folgen. ( . . . )
Ich möchte Dir alles Leben einhauchen, das in mir ist, damit es sich auf diese Weise fortsetzen kann und so wenig wie möglich von ihm verloren geht, so verlangt es meine Natur einmal.

Nicht für ewig Dein
Kim
Abschiedsbriefe
Im Angesicht des Todes fallen Worte schwer – und wiegen schwer. Kim Malthe-Bruun war 22 Jahre alt, als er am 4. April 1945, wenige Wochen vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in Dänemark von einem deutschen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und am 6.April hingerichtet wurde. Der Schiffsjunge und Matrose war Mitglied der dänischen Widerstandsbewegung und setzte sich gegen die Diktatur und für Demokratie und Freiheit ein. In Abschiedsbriefen schreibt er an seine Freundin und seine Mutter.
An seine Mutter
Kim Malte-Bruuns Tagebuchaufzeichnungen und Briefe wurden nach 1945 in mehrere Sprachen übersetzt
Westliches Gefängnis Deutsche Abt. Zelle 41 4. April 1945
Liebe Mutter!
Ich bin zusammen mit Jörgen, Niels und Ludwig heute vor ein Kriegsgericht gestellt worden. Wir wurden zum Tode verurteilt. Ich weiß, dass Du eine starke Frau bist, und dass Du dies auf Dich nehmen wirst, aber, hörst Du, es ist nicht genug, dass Du es auf Dich nimmst, Du musst es auch verstehen. Ich bin nur ein kleines Ding, und meine Person wird sehr bald vergessen sein, aber die Idee, das Leben, die Inspiration, die mich erfüllten, werden weiterleben. Du wirst ihnen überall begegnen – in den Bäumen zur Frühlingszeit, in Menschen, die Deinen Weg kreuzen, in einem liebevollen kleinen Lächeln. ( . . . )
Ich bin auf einem Weg gewandert, den ich nicht bereue, ich bin der Stimme meines Herzens nie ausgewichen, und es scheint mir nun, dass ich einen Zusammenhang sehen kann. Ich bin nicht alt, ich sollte nicht sterben, und dennoch erscheint es mir so natürlich, so einfach. Ich habe so viele Gedanken. Jörgen sitzt hier vor mir und schreibt seiner zweijährigen Tochter einen Brief zu ihrer Konfirmation. Ein Dokument fürs Leben. ( . . . )
Ich sehe, was für einen Weg es geht in unserem Land. Aber merke Dir – und Ihr alle müsst es Euch merken – dass Euer Traum nicht sein darf, zu der Zeit vor dem Krieg zurückzukehren, sondern dass Euer aller Traum, der Jungen und der Alten, sein soll, Verhältnisse zu schaffen, die nicht einseitig sind, sondern ein rein menschliches Ideal verwirklichen, das jedermann als ein Ideal für uns alle ansehen und empfinden wird. Das ist das große Geschenk, nach dem unser Land dürstet.

In Eile – Dein ältestes Kind und einziger Sohn
Kim
Literaturtipp
• Malthe-Bruun, Vibeke: „Kim: Die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe des Kim Malthe-Bruun“, Carl Hanser Verlag 1995 • „Abschiedsbriefe“, Hrsg. Katja Behrens, Fischer Verlag 1995