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Literarischer Beitrag

Die Sache mit der nackten Haut

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Text: Daniela Egger, Illustration: privat Als er in den Zug stieg, war er unaufmerksam gewesen. Erst an seinem Platz bemerkte er, dass das Mädchen ihm gegenüber barfuß war, und dass er ohne Maske eingestiegen war, was ihm strenge Blicke von den Mitreisenden eintrug. Nicht von ihr, sie lächelte. Hastig kramt er in seiner Tasche nach dem schwarzen Stoffstück, aber es dauert einige Minuten, bis er das richtige Teil erwischt und es sich ins Gesicht binden kann. Gewalt hat ihn immer erschreckt, sein Widerstand war nie dauerhaft vorhanden. Sein Kinn fühlt sich an, als sei es aus Beton, die Kopfschmerzen lassen seine Augen noch immer tränen. Beinahe hätte er den Zug verpasst, weil er nicht richtig laufen konnte. Aber er atmet wieder, und dass er jetzt in einem Zugabteil sitzt, und dass der Zug sich in Bewegung setzt, das lässt ihn erleichtert in den Sitz sinken. Davonzulaufen ist nicht, was er sich in seinen Träumen ausmalt. Aber bei Tageslicht ist es seine einzige Chance. „Warum weinst du?“

Erschrocken blickt er auf. Das Mädchen mit den nackten Füßen sieht sehr gepflegt aus, Bücher liegen auf ihren Knien, der Stift in der Hand war eben noch verwendet worden. Dass sie keine Schuhe trägt, passt nicht zu ihrer sonstigen Erscheinung. „So ein blaues Veilchen passt nicht zu dir.“ „Ich... weine nicht. Das sind nur .... ich bin gestürzt.“ „Ich hatte mal eine Freundin, die erzählte auch jedes Mal, dass sie gestürzt ist. War aber meist ein sauberer Schlag in die Fresse.“

Er findet sie hinreißend. Sie ist nicht schön im üblichen Sinn, nicht wie die Mädchen, die er aus der Schule kennt, die schlank und makellos und einheitlich sind. Sie hat diesen klaren Blick, dabei strahlt sie eine große Wärme aus. Das liegt vielleicht an ihrem leichten Übergewicht, mit dem sie sehr zufrieden scheint. „Sie hat mir ihre Freundschaft gekündigt,“ sagt sie, „weil ich ihr nicht glauben konnte.“

Weil ihm nichts zu sagen einfällt, schweigt er. „Du bist nicht gestürzt.“ „Warum bist du barfuß? Passt nicht zu dir. Glaube ich.“

Ihr Lachen klingt wie Silberkugeln im Wind. „Du siehst nicht aus wie ein Schläger“, meint sie und zögert dann. „Soll ich dich lieber in Ruhe lassen?“

Er schüttelt seinen Kopf mit Nachdruck und das tut ihm weh. Vielleicht ist doch etwas gebrochen, denkt er plötzlich. Sein Kinn hört nicht auf zu schmerzen. Und sie soll nicht aufhören zu fragen, wünscht er sich heimlich. „Nein, bitte nicht“, sagt er unter neuen Tränen, denn der Schmerz hat ihn unerwartet heftig erwischt. „Ich gehe barfuß, weil ich ... es ist ein Experiment. Mal sehen wie lange ich das im Herbst noch machen kann.“

Statt einer Antwort zieht er seine Schuhe und Socken aus und entschuldigt sich gleich dafür. Sie lacht wieder ihr Silberkugellachen. „Hast du nicht schon genug Schmerzen?“

Nein, denkt er, nicht genug. Ich will gerne barfuß über spitze Kiesel gehen, wenn sie mir erlauben, dass ich neben dir gehen darf. Aber das sagt er nicht. „Hast du auch deine andere Seite hingehalten?“

Er kann in ihrer Stimme keinen Spott hören, obwohl er gelernt hat, auch die feinste Nuance von Spott zu erfassen. In ihrer Stimme liegt Mitgefühl, kein Spott. „Nein ... im Gegenteil – ich wünschte, ich könnte mich wehren.“

Sie schaut lange aus dem Fenster, ohne etwas zu sagen.

Sein Telefon meldet sich: „Wann kommst du heim?“

Er ignoriert es, sie betrachtet nachdenklich sein Telefon. „Ich frage mich andauernd, was die passende Reaktion wäre. Ich kann ihm nicht ausweichen, er ist immer da. Nicht jeden Tag, aber oft. Und es wird härter. So einen Schlag wie heute ... ohne Grund. Ich schäme mich.“

Der Zug hält an einem Bahnsteig, die Welt bleibt stehen, und mit ihr sein Atem. Sein Telefon wiederholt die Frage an ihn. Seine Ohren werden rot, in seinem Kopf hämmert eine Reihe von Fragen: Bist du verrückt, so etwas zuzugeben? Dass du dich schämst? Was soll sie jetzt von dir denken? Wie soll sie dich je ernst nehmen? „Das ist so schön.“

Mit ihrem Satz verstummen die Stimmen in seinem Kopf. „Bitte?“ „Ich glaube, es gibt keine passende Antwort auf Gewalt. Und ich bin froh, weil du nicht so tust, als wüsstest du eine.“ „Ich wünschte, ich könnte ...“, beginnt er, aber er weiß nicht, was er sich wünscht. Doch, einen Wunsch hat er, einen brandneuen, einen der klingt wie Silberkugeln im Wind.

Der Zug macht einen Ruck, sie erschrickt, sieht sich um und springt auf, während sie hektisch ihre Sachen unter den Arm packt. Sie ruft: „Oh. Hier muss ich raus!“ und verschwindet durch die Glastür des Abteils. Die verschließt die leere Öffnung mit einem Seufzer.

Noch sitzt er sprachlos auf seinem Platz. Noch hat er nicht begriffen, was soeben passiert ist, und auch nicht, was er vielleicht noch hätte unternehmen können. Das Geräusch der sich schließenden Zugtüren holt ihn ein. Sie ist weg. Für immer. Er weiß nicht einmal ihren Namen. Das hat etwas Endgültiges, und dieses Endgültige, noch bevor es überhaupt begonnen hat, trägt einen gewissen Spott in sich, den er ganz genau heraushört. „Ich weiß nicht mal deinen Namen“, sagt er viel zu laut und ohne Maske, denn die hat er in seiner Verzweiflung vom Mund gezogen. Ihr Gesicht taucht am Fenster auf, als der Zug, wieder mit einem Ruck, in Bewegung kommt. Mit der Hand deutet sie zu Boden. „Sind da noch meine Schuhe?“

Der Zug fährt, sie läuft in Fahrrichtung und deutet heftiger. Endlich bückt er sich und fischt eine Sandale unter dem Sitz hervor. Er hält sie hoch. Sie lacht und weil der Zug schneller wird und er sie nicht mehr sehen kann, schließt er die Augen, um in seinen Ohren dieses silberne Geräusch zu hören, das jetzt über dem Bahnsteig verklingt. Dann bildet das Abteil schnell einen kugelsicheren Raum, nichts klingt mehr silberhell, auch die Sandale nicht, die stumm und fehl am Platz in seiner Hand hängt. „Was für ein Experiment ist das?“ fragt er leise und in dem Moment weiß er die Antwort. Er macht sich bereit, packt Schuhe, Strümpfe und die übrig gebliebenen Sandalen in seine Tasche und schickt eine SMS an seine Mutter. Er werde sich verspäten, lässt er sie wissen. Die nächste Haltestelle ist nicht allzu weit, er kennt die Strecke gut. Eineinhalb Stunden gibt Google Maps für die Distanz als Fußgänger an. Er wird länger brauchen, bis sich seine nackten Füße an das Gehen auf dem Asphalt gewöhnt haben. Aber er wird dort ankommen, auf dem leeren Bahnsteig und mit etwas Glück etwas von ihrem Experiment begriffen haben. Und wenn er sie zufällig eines Tages wieder treffen würde, dann könnte er ihr vielleicht die passende Frage stellen. Und ihr die Sandalen zurückgeben. Sein Display meldet sich mit einer Nachricht von einer unbekannten Nummer. Die ist von ihr. Sammy. „Was ich dir noch erzählen wollte", schreibt sie und darunter öffnet sich ein Bild. Es ist die Rückenansicht einer nackten Frau, die auf der Straße sitzt. Sie trägt eine schwarze Mütze und eine Maske, sonst nichts. Die Szene ist kriegsähnlich, eine schwer bewaffnete Reihe von Milizsoldaten hinter massiven Plexiglasschilden steht ihr gegenüber, im Hintergrund sind Rauchschwaden und Blaulicht. Die Soldaten wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Sie sitzt ganz ruhig mit gespreizten Beinen und blickt auf die Reihe der Männer vor ihr. Neben ihren nackten Füßen liegen Glassplitter und Müll. „Was macht sie da?“ schreibt er. „Und woher hast du meine Nummer?“ „Sie geht bis ans Ende der Gewalt“, schreibt das Mädchen zurück. Und: „Ich fange mal mit barfuß gehen an.“

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