Foto: Jon Duschletta/Engadiner Post
Gastkommentar
Die Grande Traversata delle Alpi – eine andere Weise, die Alpen zu erleben Seit dem Beginn des Alpentourismus nehmen die Touristen die Alpen als eine „Gegenwelt“, als das ganz Andere ihres Alltags wahr: Am Wohn- und Arbeitsort dominiert der Mensch, in den Alpen jedoch die Natur. Dieser Gegensatz macht bis heute den besonderen Reiz der Alpen aus. Allerdings übersieht man dabei leicht, dass die Alpen gar keine „reine“ Natur, sondern vielfältige Natur- und Kulturlandschaften sind und dass ihre größte Faszination in der engen Verzahnung von Natur und Mensch besteht. Touristische Akteure haben gelernt, wie man mit der Suche nach der Gegenwelt viel Geld verdienen kann, und sie haben dafür Angebote wie Heidi-Dörfer oder künstliche Erlebniswelten entwickelt, in denen den Besuchern aber nur falsche Idyllen vorgespielt werden. Es gibt jedoch eine Reihe von Tourismusangeboten, bei denen man die Alpen jenseits einer falschen Idylle kennenlernen kann. Dazu zählt auch der Weitwanderweg „Grande Traversata delle Alpi/GTA“ im Piemont, und zwar aus fünf Gründen: 1. Man übernachtet auf dieser Route nicht in Feriensiedlungen oder in AV-Hütten, sondern in Dörfern im Tal. Dadurch kommt man am Ende jeder Tagesetappe automatisch mit dem Leben der Einheimischen in Berührung. Und da die Angebote für Übernachtung und Essen von den Einheimischen bereitgestellt werden, bleibt der touristische Ertrag vor Ort und fließt nicht ab. 2. Eine typische GTA-Etappe führt von einem Dorf über einen Pass ins Nachbartal und dort wieder in ein Dorf. Ein solcher Wegverlauf erscheint Touristen als „unlogisch“, denn logisch wären Höhenwege von Hütte zu Hütte. Auf der GTA
folgt man dagegen den traditionellen Wanderungen der Einheimischen (Dorf – Maiensäß [= im Frühjahr und Herbst genutzte Siedlungen, die zwischen Dorf und Alm liegen, Anm. d. Red.] – Alm) und erlebt so den wichtigsten Aspekt der Alpen hautnah mit, nämlich ihre Steilheit. Man durchwandert täglich die verschiedenen Höhenstufen und erhält bald einen Blick dafür, wie sich dabei Landschaft, Siedlungen und Vegetation verändern. 3. Die Wege, auf denen die GTA verläuft, sind keine Tourismuswege, sondern die traditionellen Verbindungen vom Dorf zur Alm, von Tal zu Tal oder alte Militärwege (auch ein kleines Stück Römerstraße ist dabei). Beim Wandern fragt man sich oft: Auf was für einem Weg gehe ich eigentlich gerade? Warum macht er an dieser Stelle einen „Umweg“? Warum führen zwei verschiedene Pfade über diesen Pass? Dadurch erfährt man im Vorbeigehen viel über die Wege in den Alpen, die für die traditionelle Nutzung der Kulturlandschaft so wichtig sind. 4. Beim Weitwandern schärft sich automatisch der Blick für die durchwanderte Landschaft. Man fängt bald an wahrzunehmen, wie sich Gesteine, Vegetation oder Dorf- und Hausformen von Tal zu Tal ändern. Landschaft und Wandern werden dadurch immer abwechslungsreicher und spannender. 5. Wer auf der GTA wandert, wird tagtäglich mit Fragen wie diesen konfrontiert: Warum wandern die Menschen hier ab? Ist es gut, wenn Äcker, Wiesen und Weiden verbuschen und der Wald wieder alles bedeckt? Sind moderne Forst- und Alpstraßen wirklich notwendig? Wie steht die Kultur des Okzitanischen im modernen Italien da? Und wenn man am Abend in den Dörfern mit Ein-
heimischen ins Gespräch kommt, dann erhalten diese Fragen auf einmal eine große Lebendigkeit. Die GTA stellt also eine Tourismusstruktur dar, die es den Wandernden leicht macht, die Alpen nicht als falsche Idylle wahrzunehmen. Meine Erfahrungen zeigen, dass das Alpenerlebnis umso faszinierender wird, je mehr ich den touristischen Blick verlasse und je stärker ich in die Realität des Lebensraums Alpen eintauche: Ich sehe dann nicht mehr einfach nur grüne Wiesen vor steilen Berggipfeln, sondern ein faszinierendes Mosaik aus Wiesen, Weiden, Waldstücken und verbuschenden Parzellen, ich erkenne aufgelassene Siedlungen und alte Wege, und ich erhalte eine Ahnung vom Leben im Hochgebirge. Und all das macht deutlich, dass unser modernes Leben und Wirtschaften keineswegs so naturunabhängig ist, wie es selbst gern vorgibt.
Werner Bätzing ist emeritierter Professor für Kulturgeographie am Institut für Geographie der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er beschäftigt sich seit über 40 Jahren mit aktuellen Entwicklungsprozessen in den Alpen. Zur GTA und zu den piemontesischen Alpen hat er mehrere Wanderführer verfasst. alpenblick 2 | 2021
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