alpenblick, Ausgabe 2/2022

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Titelthema

Urwälder in Europa Vorstellung und Wirklichkeit von Anissa Schmidt-Mößinger Die allgemeine Vorstellung der Menschen zu dem Begriff „Urwald“ ist heutzutage eher romantisiert und von märchenhafter Natur. Man denkt an bemooste Steine im Nebelmeer, sonnenbeschienene Lichtungen und eine reiche Fauna umgeben von hohen, mächtigen alten Bäumen. Die Geburtsstätte für Sagen von Wichteln, Feen, Trollen, und was sonst unsere Wälder in grauer Vorzeit bewohnte und verzauberte – oder auch an tropische Regenwälder, die mancherorts tatsächlich noch unberührt und unerforscht sind. In Europa gibt es nur noch sehr wenige großräumige Waldlandschaften, die zu Recht Urwald genannt werden können. Das ist z. B. der knapp 900 km2 umfassende Białowieża-Nationalpark im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus. Grundlage für die Nomenklatur ist dabei der Eingriff des Menschen – in diesem Falle natürlich so gut wie nicht vorhanden. Ein solcher Wald gibt uns Einblicke in seine natürliche Entwicklung. Dabei zeigt sich der ganze Zyklus des Lebens: vom kleinen Keimling, der sich den Weg zum Licht sucht, über die jungen Pflanzen, die um die Ressourcen konkurrieren, bis zu den Baumriesen, die sich seit Jahrzehnten bis Jahrhunderten gegen Unwetter und Trockenperioden 1

behaupten. Und natürlich auch das Sterben der Bäume und damit ein ganz eigenes Biotop im Totholz. Meist spielen diese Prozesse sich in Zyklen und auch gebietsweise, also nicht immer für den ganzen Wald auf einmal ab, und je nach Zyklus dominieren unterschiedliche Baumarten. Gelangt beispielsweise plötzlich viel Licht auf den Boden, weil auf Grund innerer oder äußerer Ursachen (Sturm, Feuer, Schädlingsbefall) große Bäume abgestorben sind, kommen die im Unterstand verharrenden, kleineren Bäume zum Zug, die teilweise lange auf ihre Chance warten mussten. Deren Wachstum explodiert dann regelrecht – so lange, bis die wertvolle Ressource Licht wieder knapp wird. Andere Baumarten können mit weniger Licht Jahrzehnte im „Schatten“ wachsen und auch unterhalb des dichten Blätterdachs eine beachtliche Größe erreichen. Die Lebensdauer eines Baumes im naturbelassenen Wald ist deutlich länger als bei forstwirtschaftlicher Nutzung. Während eine Buche eine durchschnittliche „Produktionszeit“ von ca. 80 bis 120 Jahren hat, wird sie im Naturwald ohne besondere Vorkommnisse gut 250 Jahre alt – eine Tanne sogar 450 Jahre. Da bleibt viel Zeit für das Abwerfen von Samen, die eine sogenannte Naturverjüngung im direkten Umkreis, aber auch über weite Flächen ermöglichen. Es ergibt sich ein für den ungeschulten Betrachter chaotisch anmutendes Durcheinan2

der großer und kleiner sowie dicker und dünner Bäume: mit dem meist „aufgeräumten“ Waldbild in unseren Breiten, wo oft nur Lichtungen und Pfade von Baumriesen gesäumt werden, hat das nichts zu tun. Wer einen naturnahen Wald entdecken möchte, der immerhin schon seit einigen Jahrzehnten im Sinne der natürlichen Waldentwicklung und -verjüngung bewirtschaftet wird, muss gar nicht weit reisen: Mit offenen Augen lassen sich im Forst bei Diedorf unerwartete Sensationen entdecken. Zwischen den eher gewöhnlichen Fichten und Buchen jeder Altersklasse findet sich zum Beispiel eine über 50 m hohe Küstentanne, deren meterdicker Stamm im Vorbeigehen nicht auffällt. Ein Lehrpfad erläutert die Besonderheiten des Forsts, darunter auch, dass hier die Anpassungsfähigkeit von Baumarten beobachtet wird, die man bei uns nicht mehr als „heimisch“ betrachtet, die aber vor der Eiszeit sehr wohl zur heimischen Vegetation gehörten wie u. a. Douglasie, Hemlocktanne, Hickory, Mammutbaum und einige Eichenarten. Diese Baumarten sind durch ihre höhere Klimaplastizität toleranter gegenüber klimatischen Veränderungen. Deren verstärkte Beimischung würde dem heimischen Wald deshalb helfen, die Herausforderungen des Klimawandels abzufedern. Diesem Ansinnen stehen allerdings restriktive Waldgesetze und traditionelles Naturschutzverständnis entgegen.

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Wie kommt die (Natur-)Verjüngung in den Wald? Unter einem geschlossenen Kronendach erreicht fast kein Licht den Boden (Grafik 1). Entnimmt man einige große Bäume, wird es am Boden heller, Naturverjüngung schlägt auf und Kunstverjüngung kann eingebracht werden (Grafik 2). Nach mehreren Jahren bildet sich unter dem weiter aufgelichteten Kronendach eine zweite Bestandsschicht, die umso schneller nach oben wächst, je mehr Licht sie erhält (Grafik 3). Grafik: Prof. Dr. habil. Prof. h.c. Heinz Röhle

alpenblick 2 | 2022

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