KULTUR UND FREIZEIT
DIE PERFEKTE AUSZEIT
«Rüüdig schön» Mit der Tagwache startet jeweils am frühen Morgen des Schmutzigen Donnerstag die berühmte Luzerner Fasnacht. Seit vielen Jahren mit viel Begeisterung dabei ist Harald «Harry» Suter, Paraplegiker und ehemaliger Sozialarbeiter der SPV. Von Gabi Bucher
Harry ist skeptisch. «Über die Fasnacht er zählen, jetzt? Die ist ziemlich weit weg im Moment». Aber bereits nach den ersten Worten gerät er in Fahrt und seine Augen leuchten. Er ist voll in seinem Element und liebt die fünfte Jahreszeit, was nur verste hen kann, wer damit aufgewachsen ist. «Ich bin in der Stadt Luzern gross geworden, da war ich mittendrin», erklärt er. Sein grosser Bruder spielte in der Guggenmusik «Leuechotzeler», er selber wurde mit knapp 18 Jahren deren Fahnenträger. «Vor allem bei unseren Auftritten in der Westschweiz war ich als Fahnenträger eine Art Ehren person», erinnert er sich. «Während die an deren spielten, trank ich ein Gläschen mit den Welschen.» Aber alles im Mass, be ruhigt er, denn als Fahnenträger führte er die Formation an und musste wissen, wo es langgeht. Später spielte er Posaune, eine «rüüdig» schöne Zeit, schwärmt er. Fasnacht trotz allem Mit 27 Jahren verunfallte Harry. An seinem Geburtstag brachte ihm die Guggenmusik ein Ständchen in der Begegnungshalle des SPZ. Das sei ein sehr spezieller Moment gewesen. «Mir lief es kalt den Rücken run ter.» Die Kollegen versicherten ihm, dass immer ein Platz frei sei für ihn, falls er zurückkommen will. Aber für Harry war schnell klar, dass er nicht mehr spielen wird. «Gleichzeitig spielen und rollen, das geht nicht», meint er. Aber dass er weiter hin an die Fasnacht geht, war genauso klar. Im Dezember verliess er die Klinik, Anfang Jahr war er bereits in St. Erhard an einem Maskenball. Viel überlegt habe er nicht dabei, er sei einfach hingegangen. «Es war beissend kalt, im Festzelt hatte es diese un
Viel Spass in den Strassen von Luzern mit alten und neuen Freunden
möglichen Holzschnitzel am Boden und Rollstuhl-WC gabs auch keins.» Aber man finde immer Lösungen, meint er mit einem Augenzwinkern. Enttarnung garantiert Harry geht am liebsten allein an die Fas nacht. «Ich treffe so viele Leute, da ist es einfacher, wenn ich allein unterwegs bin.» Und nein, das Getümmel mache ihm kei ne Angst. «Früher besuchte ich jeweils auch das Altstadtfest in Luzern, aber da passt keiner auf, das ist ziemlich mühsam. An der Fasnacht sind die Leute viel aufmerk samer, man kommt gut durch.» Einzig das mit der Verkleidung funktioniere nicht wirklich. «Da kannst du noch so kreativ sein, du wirst ziemlich schnell enttarnt.»
Kann er nicht an die Fasnacht, fehlt ihm etwas. «Ich mag das Lockere, leicht Ver rückte, die ausgelassene Stimmung. Mal den Alltag vergessen, ein bisschen intrigie
ren, Sprüche klopfen.» Meist sei er bereits am Donnerstagmorgen an der Tagwache dabei. Den Umzug lässt er aus. Das Fas nachtskomitee stelle zwar Podeste auf für die Rollstuhlfahrer, aber er tummelt sich lieber in den Gassen der Altstadt. «Da hats nicht so viele Menschen und man kann in aller Ruhe die Kleinformationen be wundern. Mich fasziniert die unglaubliche Vielfalt der Sujets.» Einziges kleines Pro blem seien die eher knapp vorhandenen Rollstuhl-Toiletten, da müsse man sich eben organisieren. «Und oft hole ich mir auch einen platten Reifen von den Scher ben», aber damit hat er leben gelernt, ein kleines Restrisiko, das er auf sich nimmt. «Erstaunlicherweise treffe ich aber wenig andere Rollstuhlfahrer an», meint er. «Es sind immer etwa dieselben». Unverständ lich für Harry, dass man so etwas «rüüdig» Schönes nicht in vollen Zügen geniesst! Er freut sich schon jetzt auf 2022, wenn es die Fasnacht hoffentlich wieder gibt.
Paracontact I Winter 2020 33