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SCHMERZEN TEIL 1
SCHMERZEN BEI QUERSCHNITTLÄHMUNG TEIL 1
Schmerzdiagnostik
Ein Grossteil der Querschnittgelähmten leidet unter wiederkehrenden Schmerzen. Lesen Sie in diesem Heft mehr über die multimodale Schmerzdiagnostik, während im nächsten Heft die therapeutischen Massnahmen vorgestellt werden.
Von Dr. med. Gunther Landmann
Nach einer aktuellen Untersuchung (SwiSCIStudie) klagen 74% der Querschnittgelähmten in der Schweiz über Schmerzen. Eine weitere Umfrage der SwiSCI Gruppe ergab sogar, dass die Betroffenen Schmerzen als häufigstes medizinisches Problem angeben. Schmerzen infolge Querschnittlähmung können verschiedene Ursachen haben und sich als Nervenschmerzen, Muskel oder Skelettschmerzen, aber auch Schmerzen der inneren Organe manifestieren. Zudem können psychologische und soziale Stressfaktoren das Schmerzempfinden negativ beeinflussen. Vor diesen Hintergrund hat das Zentrum für Schmerzmedizin am Schweizer ParaplegikerZentrum eine multimodale Schmerzsprechstunde für Querschnittgelähmte eingerichtet. Hier untersuchen und behandeln in Schmerztherapie erfahrene Neurologen, Physiotherapeuten, Psychologen und Psychiater, Anästhesisten und Orthopäden gemeinsam die Schmerzsituation eines Patienten.
Schmerzarten
Abbildung 1 zeigt typische Schmerzlokalisationen mit unterschiedlichen Schmerzursachen, wie sie bei einem Para oder Tetraplegiker mit Lähmungsniveau auf zirka Brusthöhe angegeben werden können. Schmerzen infolge Querschnittlähmung werden seit 2012 nach einer Schmerzklassifikation der Internationalen Rückenmark Gesellschaft (ISCOS) eingeteilt. Unterschieden werden Nervenschmerzen, so genannte neuropathische Schmerzen, und nozizeptive Schmerzen, das heisst solchen, die nicht vom Nervengewebe ausgehen. Schmerzen infolge starker Spastik etwa zählen zu den nozizeptiven Schmerzen.
Empfinden
Neuropathische Schmerzen bestehen meist dauerhaft, sind von der Empfindung her oft brennend oder wie eine feste Bandage, treten unabhängig von Bewegungen im Bereich der gestörten Empfindung an der Haut auf und sind in Ruhe spürbar, vor allem abends und nachts. Nozizeptive Schmerzen sind durch Bewegung oder Änderung der Sitzposition beeinflussbar, werden oft als drückend, ziehend, stechend, aber gelegentlich auch als brennend empfunden. Eine weitere Form der nozizeptiven Schmerzen betreffen die inneren Organe (viszeraler Schmerz), wo Schmerzen z.B. bei Verstopfung oder Blasenfüllung auft reten können. Diese werden häufig als krampfartig, dumpf oder spannend empfunden.
Bei den neuropathischen Schmerzen wird zusätzlich unterschieden, ob sich diese auf Höhe der Rückenmarksverletzung befinden oder darunter. Besteht der Schmerz auf Höhe der Verletzung, sind auch Nerven
Abbildung 1
Typische Schmerzlokalisationen bei Lähmung auf Brusthöhe
Nervenschmerzen auf Höhe der Rückenmarkverletzung
Nervenschmerz unabhängig von der Querschnittlähmung, z.B. Karpaltunnelsyndrom schmerzen der abgehenden Nervenwurzeln involviert, die anders auf Schmerztherapien reagieren. Ob komplett oder inkomplett Gelähmte unterschiedlich von Schmerzen betroffen sind, kann nicht nachgewiesen werden.
Fehlerhafte Nervenleitungen
Während nozizeptive Schmerzen eine Störung von Muskeln, Sehnen oder Knochenstrukturen anzeigen, sind neuropathische Schmerzen immer Ausdruck einer Schädigung von Nervengewebe wie Rückenmark, Nervenwurzeln oder einzelner Nerven. In einem solchen Fall versucht der Organismus während der Heilung, die Nervenleitung wiederherzustellen. Geschieht dies fehlerhaft, indem z.B. zu viele Ionenkanäle eingebaut werden, welche zur Erregungsleitung notwendig sind, kann dies zu unkontrollierten Nervenerregungen führen. Diese werden als brennende Dauerschmerzen oder einschiessende Schmerzattacken wahrgenommen. Weiterhin kön nen dadurch Berührungsempfindungen an
Muskelschmerzen der Schulter infolge eines Schulterproblems
Lähmungsniveau sub Th4
Muskulärer Rückenschmerz, auch unterhalb der Rückenmarkverletzung möglich
Schmerzen innerer Organe, sog. viszerale Schmerzen
Nervenschmerzen unterhalb der Rückenmarkverletzung
der Haut verstärkt werden, sodass Berührungen als schmerzhaft empfunden werden. Solche Mechanismen lassen sich mit Medikamenten unterdrücken.
Neuere Konzepte beinhalten, dass Schmerzen ebenfalls entstehen können, wenn beispielsweise bei Patienten mit kompletter Querschnittlähmung dem Gehirn infolge der unterbrochenen Nervenleitung Informationen fehlen, z.B. aus den gelähmten Beinen. Hirnareale, die normalerweise diese Informationen verarbeiten, sind weniger aktiv und die fehlende Information kann als Schmerz empfunden werden. Solche Mechanismen sprechen vermutlich weniger auf Medikamente an und benötigen neue funktionelle Therapiewege.
Untersuchung
Gemäss dem Konzept, dass Schmerzen eine biologische, eine psychologische und auch eine soziale Komponente beinhalten, sollten die diagnostischen Informationen interdisziplinär zusammengetragen und Entscheidungen über die Therapieplanung gemeinsam getroffen werden. Dieser Ansatz wird als multimodale Schmerzdiagnostik und therapie bezeichnet. Ein regelmässiger Austausch im Team ist essenziell, um die Therapie im Verlauf kontinuierlich zu reflektieren und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Abbildung 2 zeigt eine schematische Darstellung der interdisziplinären multimodalen Schmerzdiagnostik bei Querschnittlähmung.
Für die Untersuchung nozizeptiver Schmerzen werden je nach zu vermutender Ursache bildgebende Verfahren eingesetzt, um auf diesem Weg Veränderungen von Muskeln, Knochen, Sehnen oder Gelenken festzustellen. Zusätzlich sollte bei Patienten mit Querschnittlähmung immer auch die Sitzposition im Rollstuhl überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Schmerzen, die die inneren Organe betreffen, bedürfen oft einer neurourologischen oder internistischen Untersuchung.
Bei neuropathischen Schmerzen können Messungen an den Nerven helfen, die Diagnose zu stellen. Hier stehen elektrische Messungen wie Neurographie und sogenannte elektrischevozierte Potenziale zur Verfügung, aber auch spezielle Verfahren zur Messung der schmerzleitenden Nervenfasern. Beispielsweise kann durch Wärmebzw. Hitzereize auf der Haut die Nervenleitung bis zum Gehirn gemessen werden. Wird über eine Verschlechterung vorbekannter neuropathischer Schmerzen berichtet, kann die Kontrolle der Wirbelsäule bzw. des Rückenmarks mit Hilfe eines MRI von Bedeutung sein, um Veränderungen aufzudecken.
Abbildung 2 Interdisziplinäre Schmerzdiagnostik
Akuter/chronischer Schmerz
nozizeptiv
Muskulo-skelettal Viszeral
– Schmerzmedizin – Rehabilitationsmedizin – Orthopädie – Physiotherapie – Ergotherapie – Schmerzmedizin – Rehabilitationsmedizin – Innere Medizin – Urologie
neuropathisch
auf oder unterhalb des Verletzungsniveaus
– Schmerzmedizin – Neurologie – Anästhesie
Inspektion, Palpation, Funktion des muskuloskelettalen Systems wie Muskeln, Gelenke, Bindegewebe Evaluation – Rollstuhl,
Sitzposition – Ergonomie und
Hilfsmittel Bildgebung Untersuchung innere Organe wie Darm, Urogenitalsystem u.a. Bildgebung Neurologischer Befund Neurologische Messungen wie: – Neurographie – Evozierte Potenziale – Quantitative sen sorische Testung Bildgebung
Teamanalyse des Schmerzes
Psychosoziale Begleitfaktoren
– Psychologie – Psychiatrie – Sozialdienst
Psychometrische und schmerzbezogene Fragebogen Psychische Diagnosen, Stressfaktoren und lebensgeschichtliche Faktoren Psychosoziale Ressourcen Die physiotherapeutische Untersuchung komplettiert das Untersuchungsbild der nozizeptiven Schmerzen und hilft, diese gegenüber neuropathischen Schmerzen abzugrenzen. Dies, indem durch die Bewegungsanalyse die beschriebenen Schmerzorte sowie auch die Spastik untersucht und in mögliche Schmerz und Gewebemechanismen eingeteilt wird. Hieraus lassen sich wiederum physiotherapeutische Therapieoptionen ableiten.
Psyche
Die psychologische Diagnostik ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Untersuchung chronischer Schmerzpatienten. Auch wenn eine körperliche Entsprechung zu den Schmerzen vorliegt, ist jedes Schmerzerleben sehr eng mit psychosozialen Faktoren verbunden. Bei Menschen mit Querschnittlähmung hängen zum Beispiel ängstliche Bewertungen der Schmerzen, ungünstige Überzeugungsmuster und Bewältigungsstrategien sowie mangelnde oder überbehütende soziale Unterstützung mit mehr Schmerzen und mehr Beeinträchtigung zusammen. Bei chronischen Schmerzen werden häufig Teufelskreise zwischen der Schmerzsymptomatik und verschiedenen psychosozialen Faktoren beobachtet: So kommt es beispielsweise durch Schmerz oft zu Schonverhalten und Rückzug, was zu einer Abnahme sozialer Kontakte und positiver Erlebnisse führt. Entsprechende negative Emotionen begünstigen wiederum Depressivität und verstärken die Schmerzwahrnehmung. Unter anderem helfen Fragebögen, psychologische Begleitfaktoren aufzudecken.
Über die therapeutischen Möglichkeiten erfahren Sie mehr im nächsten Heft.
Kontakt gunther.landmann@paraplegie.ch
Autoren: Dr. med. Gunther Landmann, MSc, Leitender Arzt Neurologie; Dr. med. Tim Reck, MSc, Leitender Arzt konservative und interventionelle Schmerzmedizin; Karina Ottiger-Böttger, MAS, Leiterin Schmerzphysiotherapie; Julia Kaufmann, Psychologin, Zentrum für Schmerzmedizin, Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil