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IM GESPRÄCH
IM GESPRÄCH
Am selben Strick ziehen
Seit 20 Jahren engagiert sich Joseph Hofstetter innerhalb der Schweizer ParaplegikerGruppe, die letzten acht davon als Direktor der Schweizer ParaplegikerStiftung. Ein Austausch mit Laurent Prince, dem neuen Direktor der SPV, über gemeinsame und eigene Wege.
Gespräch: Evelyn Schmid und Nadja Venetz, Text von Nadja Venetz
Sowohl von innen als auch von aussen wird die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) oft als mächtiger Dampfer wahrgenommen, während die SPV als kleines Boot unterwegs ist. Wie seht ihr das?
Joseph Hofstetter: Also ich habe eher den Eindruck, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Noch besser gefällt mir das Bild, dass wir als Flotte gemeinsam in dieselbe Richtung steuern, um die Vision von Guido A. Zäch umzusetzen. Ich hoffe nicht, dass wir ein grosses Schiff sind und die SPV nur ein kleines Boot ist. Laurent Prince: Für mich stimmt dieses Bild nicht, übrigens auch ein anderes nicht, das ich immer wieder zu hören bekomme, nämlich, dass wir an der Kantonsstrasse ein kleines gallisches Dorf seien, umgeben vom Römischen Reich, sprich der übrigen SPG. Das erlebe ich gar nicht so. Klar, wir haben unterschiedliche Akteure in dieser Gruppe, aber das Fundament ist das Gemeinsame. Wir sind zusammen unterwegs mit dem gleichen Ziel und daraus entstehen verschiedene Ausprägungen und Ansichten. Das sehe ich aber als Stärke.
Ihr betont das Gemeinsame. Wie wichtig ist dennoch die Unabhängigkeit?
Laurent Prince: Die gemeinsame Haltung lässt es meines Erachtens zu, eine gewisse Eigenständigkeit zu leben. Das ist kein Widerspruch. Ganz klar, dass die Orthotec anders funktioniert als ein Hotel. Joseph Hofstetter: Ja, das sehe ich gleich. Nicht nur die SPV ist anders. Jede Gruppengesellschaft hat ihre Eigenheiten. Die kleinen Gesellschaften haben manchmal ein Problem mit der grossen Schwester SPZ, die am meisten Personal und Geld be
Joseph Hofstetter Direktor der Schweizer Paraplegiker-Stiftung
nötigt, oder mit der Mutter SPS, die das Dach bildet. Das ist wirklich wie in einer Familie. Die «Kleinen» haben vielleicht gelegentlich das Gefühl, sie kommen zu kurz, und dann muss die Mutter nach dem Rechten sehen und dafür sorgen, dass alle auf ihre Kosten kommen. Laurent Prince: Ich bin überzeugt, dass wir unsere Ziele nicht erreichen, wenn wir uns innerhalb der SPG als Aussenseiter positionieren. Das ist für mich die falsche Einstellung. Wir als SPV sind Teil des Ganzen. In dieser ersten Zeit lernte ich so viele Leute kennen und hatte nie den Eindruck, dass die Türen verschlossen sind oder dass man kein Verständnis aufbringt für das, was wir sind und was wir sein wollen. Wir sollten uns nicht selbst unnötig ins Abseits stellen.
Welches sind die Aufgaben der Stiftung und welches diejenigen der SPV?
Joseph Hofstetter: Guido A. Zäch hat 1975 zuerst die Stiftung gegründet, 1978 kam die Gönnervereinigung als Schwestergesellschaft dazu und 1980 die SPV. Später folgten verschiedene Tochtergesellschaften. Alle zusammen bilden ein dichtes Leistungsnetz. Die Aufgabe der Stiftung besteht primär darin, die Strategie zu definieren und die finanzielle Seite sicherzustellen, damit dieses Leistungsnetz betrieben werden kann. Das heisst, wir suchen Mitglieder, Spender und Erblasser, um die Mittel zu gewinnen, damit wir zusammen mit den Gruppengesellschaften unsere Aufgaben wahrnehmen können. Laurent Prince: Dahingegen ist es unsere Aufgabe, unsere Mitglieder in der ganzen Schweiz ein Leben lang zu begleiten. Das ist eine wichtige Rolle, die wir hier innehaben und die uns die Stiftung zugesteht. Es würde keinen Sinn machen, wenn wir auf dem Spendenmarkt mitmischen. Die Rollenverteilung ist klar, aber mir ist wichtig, dass wir offen sind für neue Wege. Was gestern war und heute ist, muss nicht unbedingt für morgen das Richtige sein. Innovationen und Pioniergeist sollen und müssen ihren Platz haben. Wir dürfen auf keinen Fall in die Rolle eines reinen Verwalters reinrutschen. Joseph Hofstetter: Genau. Wenn wir nur darauf achten, dass alles so weiterläuft wie bisher, haben wir versagt.
Laurent Prince leitet seit August die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung

In welche Richtung müssen sich die SPS und die SPV weiterentwickeln?
Joseph Hofstetter: Heute besteht ein erhöhter Bedarf an dezentralen Strukturen. Wir haben bereits Ambulatorien in der Westschweiz und im Tessin. Über eines in der Ostschweiz diskutieren wir aktuell. Wir müssen näher zu den Leuten. Ihr habt diese dezentralen Strukturen bei der SPV bereits und seid in allen Regionen präsent. Das ist eure Stärke. Laurent Prince: Ich glaube, da können wir euch Hand bieten. Aber auch wir müssen uns bewegen. Ich glaube im Jahr 2020 weiterhin an den Sinn der Vereinsstruktur. Allerdings sind wir uns bewusst, dass ein grosser Teil der Bevölkerung ein individualisiertes Leben führt und die Vereinskultur an Bedeutung verloren hat. Das heisst, wir brauchen Ideen für die Zukunft. Zum einen wollen wir die Rollstuhlclubs stärken, weil ganz viele immer noch den Rückhalt und die Angebote eines Clubs suchen. Zum anderen möchten wir konkreter und persönlicher auf das einzelne Mitglied zugehen, damit alle am Prozess beteiligt sind. Da stellt sich die Frage, wie wir kommunizieren müssen, damit wir alle erreichen. Joseph Hofstetter: Genau darüber haben wir schon oft gesprochen. Diejenigen, die bei euch Mitglied sind, sind gut versorgt. Was machen wir aber mit denen, die nicht Mitglied sind? Die Stiftung ist letztlich für alle Querschnittgelähmten in der Schweiz da. Wir müssen aufpassen, dass niemand vergessen geht. Optimal wäre, wenn ihr möglichst alle umfassend in eure Strukturen integriert.
Laurent Prince: Wir haben in diesen Tagen Workshops mit den 27 Rollstuhlclubs. Dort wollen wir hören, wo der Schuh drückt. Ich habe die Erwartung, dass die Mitglieder einen starken Club und einen starken Verband spüren. Zugleich dürfen wir diejenigen nicht ausser Acht lassen, die heute nicht oder nicht mehr in einem Club aktiv sind. Gleichwohl gilt es zu akzeptieren, dass es viele gibt, die auf ihrem Weg unsere Strukturen gar nicht brauchen. Das erachte ich als Erfolg. Meines Erachtens gibt es diese drei Gruppen: die, die sich bewusst vom Vereinsleben entfernen; die, die zu Hause oder in einer Institution in einer Art Isolation leben, weshalb wir sie nicht erreichen; und drittens die, die im Club aktiv sind. Joseph Hofstetter: Ihr seid für uns nicht nur wichtig in der Erbringung von Leistungen, sondern auch für die Rückmeldungen der Betroffenen. Ihr spürt am ehesten, welche Anliegen die Menschen mit einer Querschnittlähmung haben. Und das ist für die Strategie enorm wichtig. Ihr habt in den letzten Jahren die Lebensberatung ausgebaut, weil ihr erkannt habt, dass das ein Bedürfnis ist und man dort mehr Mittel investieren muss. Laurent Prince: Die Lebensberatung ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir mehr Ressourcen brauchen, um der steigenden und sich ändernden Nachfrage unserer Mitglie
der gerecht zu werden. Das ist ein fliessender Prozess. Wer in starren Mustern denkt, ist in 20 Jahren vermutlich nicht mehr da.
Wie stellt ihr sicher, dass ihr die Bedürfnisse der Mitglieder kennt?
Laurent Prince: Wichtig ist, dass wir in unserem Prozess stetiges Feedback aus den Clubs erhalten. Deshalb habe ich in den letzten Monaten viele Clubs besucht. So merkt man rasch, was die Leute beschäftigt. Wir dürfen keine Einwegkommunikation etablieren, sondern müssen durch den Dialog Rückmeldungen aktiv einholen. Joseph Hofstetter: Ich glaube, je näher ihr bei den Leuten seid, um so vollständiger ist das Bild der aktuellen Situation. In der Vergangenheit war es manchmal so, dass sich Unzufriedene direkt bei der Stiftung gemeldet haben. Das ist der falsche Weg. Rückmeldungen von möglichst vielen Betroffenen müssen zu euch gelangen, weil ihr letztlich deren Interessenvertretung und deren Sprachrohr seid.
Wir haben vorhin von grossen Herausforderungen für die Zukunft gesprochen. Welche sind das?
Laurent Prince (mit Blick zu Joseph Hofstetter): Also die grösste Herausforderung wird sein, dass wir genügend Mittel erhalten, um auch in Zukunft unsere Ziele zu erreichen. Joseph Hofstetter: Das ist ja eine klare Ansage (lacht). Nein, die Mittelbeschaffung ist tatsächlich eine grosse Herausforderung. Wir sind heute noch in einer günstigen Lage, aber andere wollen auch ein Stück vom Kuchen. Und die angespannte wirtschaftliche Situation wegen der Pandemie macht mir Sorgen. Ich hoffe, dass die Leute in diesem Herbst trotz Corona ihre Mitgliedschaften erneuern und uns mit Spenden unterstützen. Wir brauchen in der Tendenz eher mehr als weniger Mittel, wenn wir die Leistungen der Schweizer ParaplegikerGruppe ausbauen möchten. Laurent Prince: Das ist eine berechtigte Erwartung. Die SPV hat in den letzten Jahren viel Grossartiges aufgebaut. Und die Erwartungen sind da, dass wir die Leistungen weiterhin erbringen, ausweiten und anpassen. Wir haben viele Ideen und viele Wünsche. Und letztlich gehts auch ums Geld. Das ist die Realität.
Wo seht ihr eure Organisationen in 20 Jahren?
Joseph Hofstetter: Das ist eine gute Frage. Entscheidend könnte sein, was medizinisch möglich ist. Macht man so gewaltige Fortschritte, dass sich die Bedürfnisse der Betroffenen fundamental ändern? Ich bin zudem gespannt, wie sich die Spitallandschaft entwickelt. Die Klinik ist gewachsen. Einerseits, weil der Bedarf da ist und andererseits, weil die Klinik eine gewisse Grösse und Fallzahl braucht, wenn sie in Zukunft bestehen will. Für uns ist das SPZ extrem wichtig, nicht nur für die medizinische Versorgung und Rehabilitation unserer Patientinnen und Patienten, sondern auch als Aushängeschild für unsere Gönnerinnen und Gönner. Laurent Prince: Wenn der Inklusionsgedanke in der Gesellschaft wirklich umgesetzt ist, dann braucht es vermutlich weniger Angebote, was ja schön wäre. Aber heute sind wir noch meilenweit davon entfernt. Ich glaube, in 20 Jahren sind die Querschnittgelähmten in der Schweiz weiterhin auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, sodass es die SPV nach wie vor braucht. Wir sind die Stimme der Betroffenen. Aber wir müssen diese Stimme auch wirklich sein, sonst verlieren wir an Berechtigung. Das ist ganz wichtig. Innerhalb der ParaplegikerGruppe sind wir eine Art Gewerkschaft, die die Anliegen und Bedürfnisse der Querschnittgelähmten ins ganze System zurückfliessen lässt. Wir sind als SPV nur so stark, wie wir auch die Stimme der Mitglieder wiedergeben können.
«Wir sind die Stimme der Betroffenen.»
Joseph Hofstetter: Ich bin überzeugt, dass wir das Angebot immer wieder anpassen müssen. Das habt ihr ja auch schon gemacht. Früher hat die SPV eigene Busse betrieben. Nun habt ihr das Spezialisten übergeben. Und so wird es weitere Anpassungen geben, in der ganzen Gruppe. Ein Beispiel: Heute ist die Hilfsmittelversorgung der älteren Querschnittgelähmten durch die IV schlecht. Die Stiftung finanziert in diesem Bereich viel, sonst fallen diese Personen durch alle Maschen. Sobald es hier eine Verbesserung der staatlichen Hilfe gibt, ziehen wir uns zurück. Es braucht eine permanente Entwicklung. Ob alle Organisationen, die wir heute in der Gruppe haben, in dieser Form zukünftig notwendig sind, lässt sich schwer abschätzen. Es sind in der Vergangenheit immer wieder Organisationen dazugekom men und andere sind verschwunden.
Was wünscht ihr der jeweils anderen Organisation?
Laurent Prince: Das ist jetzt eine Frage, bei der ich froh wäre, wenn sie Joseph zuerst beantwortet (lacht). Joseph Hofstetter: Mein Wunsch an euch ist, dass ihr die Querschnittgelähmten der Schweiz repräsentiert. Und für die Zusammenarbeit wünsche ich mir, dass wir genau in dieser Offenheit zusammenarbeiten können, mit der du Anfang August als Direktor der SPV angefangen hast. Wichtig ist mir die Bereitschaft, die Organisation weiterzuentwickeln und zu verändern. Das ist mein Wunsch, nicht nur an die SPV, sondern an alle Gruppengesellschaften. Und jetzt kannst du deine Forderung nach zusätzlichen Mitteln platzieren (lacht). Laurent Prince: Nein, das mache ich jetzt nicht. Aber du hast alle Punkte erwähnt, die mir wichtig sind: Offenheit, Zusammenarbeit und das Aushandeln einer gemeinsamen Haltung. Für die Offenheit, mit der ich hier empfangen wurde, möchte ich mich herzlich bedanken. Gleichzeitig erwarte ich, dass ihr als unser Geldgeber anerkennt, wie wichtig wir sind, wie wichtig die Stimme unserer Mitglieder ist, damit wir nicht als Bittsteller auftreten müssen. Ich wünsche mir, dass uns die Kraft des grossen Dampfers mitzieht, um das Bild vom Beginn des Gesprächs wieder aufzunehmen, auch wenn mir das Bild nicht wirklich gefällt. Joseph Hofstetter: Und das geht, wie du richtig gesagt hast, nur gemeinsam. Es braucht alle in dieser Gruppe und deshalb ist die Stiftung nicht einfach die Chefin, sondern vielmehr der Motor. Wir müssen zusammen funktionieren und das tun wir meines Erachtens auch.