Postdigitales Zeitalter Langsam kann man es kaum mehr hören, die Digitalisierung ist nun wahrlich überall. Aber ist die Zukunft erst erreicht, wenn alles digitalisiert ist? Trend- und Zukunftsforscher Tristan Horx ist überzeugt: Die Menschen suchen wieder nach echten Beziehungen und Kulturtechniken. Es folgt die Rache des Analogen.
Am Höhepunkt. Die nächste große, hoffentlich globale, Frage lautet: Was machen wir mit den großen Monopolen, also Facebook, Google und Co. Dafür muss gesamtgesellschaftlich eine Lösung gefunden werden. Wie Filterblasen funktionieren und wie Zwischenmenschlichkeit verloren gegangen ist, das ist jetzt im Zeitgeist angekommen. Das Thema „digitale Einsamkeit“ sehr stark im Diskurs. Wir sind immer mehr digital vernetzt, fühlen uns aber immer einsamer. Das zeigt deutlich, wie wir Digitalisierung verwenden müssen. Es reicht nicht nur, die Verbindungsfragen zu lösen. Auch die Beziehungsfragen müssen orchestriert werden. Jetzt gilt es, systemisch darauf Antworten zu finden. Die Tatsache, dass wir den Peak digital im Lockdown erlebt haben, nimmt vielen Menschen hoffentlich ein bisschen Sorgen. Das Humane ins Digitale zu bringen oder gar Sachen einfach analog zu machen, ist nun klar. Natürlich wird immer weiter digitalisiert, aber wir sind am gesellschaftlichen Höhepunkt angekommen. Korrekturschleife. Es ist ja bei allen Technologien so. Am Anfang übertreiben wir es total – und dann kommt die Korrekturschleife. Hätten wir im Industriezeitalter die Korrekturschleife nicht gehabt, wären wir alle im Smog erstickt. Insofern könnte es doch auch sein,
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dass Covid-19 uns ins nächste Zeitalter gezwungen hat. Provokativ könnte man es das postdigitale Zeitalter nennen. Das klingt zuerst etwas verkehrt, wo doch so viele Institutionen wie Schule und Wirtschaft jetzt erst wirklich im digitalen 21. Jahrhundert angekommen sind. Aber als Zukunftsforscher muss man immer ein wenig weiter vorausschauen. Postdigital aus dem Grund, dass wir dann endlich nicht mehr über Digitalisierung reden müssen – weil es „eh schon klar“ ist. Wenn wir die Korrekturschleife jetzt hinkriegen, ist es endgültig selbstverständlich, dass wir mit sozialen M edien nicht menschliche Beziehungen ersetzen können. Oder, dass mit Zoom-Meetings echte, kreative Zusammenkünfte auf der Stre cke bleiben. Spätestens bei der digitalen Familienweihnachtsfeier wurde klar, wie wichtig das analoge, menschliche Emphatische bei der zunehmenden Digitalisierung wird. Wenn die Maschinen immer bessere Maschinen werden, dann müssen die Menschen auch immer menschlichere Menschen werden. Nehmen wir zum Beispiel den Bereich Pflege, der schon demographisch betrachtet in Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen wird: Es will in der Realität keiner von einem Roboter gepflegt werden. Die zwischenmenschliche Ebene wird noch lange nicht digitalisiert werden können. Das postdigitale Zeitalter wird dann beginnen, wenn wir genau dieses Konzept endlich verinnerlicht haben. Die Balance zwischen Real und Digital macht die Zukunft so interessant. Tristan Horx
Wir sind immer mehr digital vernetzt, fühlen uns aber immer einsamer.
Foto: Klaus Vylnnalek
W
ir befinden uns gerade in der digitalen Korrekturschleife. Durch Corona haben wir alle eine massive Überdosis erlebt. Schule, Arbeiten, soziales Leben, alles ist nun lange fast exklusiv digital abgelaufen – und es hat auch mal weh getan. Klar war es gut, dass auch die Omi jetzt facetimen kann, und das Bildungssystem mal angefangen hat, sich dem Digitalen zuzuwenden. Aber es hat auch nochmal gezeigt, dass nicht alles online Sinn macht. Vor allem unsere sozialen Beziehungen fast ausschließlich auf Social Media zu führen, ist nicht wirklich geglückt. So gespalten haben wir uns noch nie gefühlt. Freunde und Verwandte verschwinden in Verschwörungsgruppen, konstruktiver politischer Diskurs ist Schnee von gestern.