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Ein bunter Streifzug durch Wien

Für alle Gemütslagen

Wenn Ghost auf Opa Walter trifft – warum der 4. Bezirk ein Anziehungspunkt für Kosmopoliten, Kunstschaffende und Kulinarikbegeisterte ist. Ein Streifzug durch ein herrlich unaufgeregtes Viertel, gewappnet für alle Gemütslagen.

Was haben Franz Kafka, Ludwig Anzengruber und Stefan Zweig gemein? Sie gehören alle der literarischen Zunft an, was in diesem Fall aber noch relevanter ist – sie hielten sich irgendwann einmal im 4. Wiener Gemeindebezirk auf: Kafka nächtigte auf der Durchreise mit seiner Geliebten Milena im Hotel Riva, Zweig wohnte während seiner Studienzeit in der Frankenberggasse 9 und Anzengruber verbrachte u. a. seine Schulzeit bei den Paulanern. An ihn erinnern ein Denkmal, der gleichnamige Hof sowie eine kulinarische Labungsstätte in der Schleifmühlgasse. Das Café Anzengruber (Schleifmühlgasse 19) ist ein typisches Wiener Beisl: Thonet-Sessel, Marmortische, altmodische Wandvertäfelung, große Schank. Die Gebrauchsspuren im Interieur werden hier lässig zelebriert und sorgen für den Bohemian-Charme, der sich vom Ambiente bis zum Publikum zieht: BeislLiebhaber mit einem Hang zur Wohnzimmer-Atmosphäre sowie Künstler und Literaten. Das sogenannte Café öffnet übrigens erst um 16 Uhr seine Pforten und ist somit mehr für den Genuss hopfenhaltiger Getränke, denn für den Verzehr von Kuchen und braunem Bohnen-Wachmacher

Alice. Einzigartige Porzellankreationen finden sich bei feinedinge.

geeignet. In der Küche herrscht Tradition: Fritatten- und Grießnockerlsuppe, Schnitzel und Innereien, Gulasch und köstliche Mehlspeisen wie Palatschinken und Kaiserschmarrn bestimmen die Speisekarte. Für viele gibt es hier das beste Gulasch der Stadt. Hierfür werden die Zwiebeln langsam bei kleiner Hitze stundenlang angeröstet. Aber auch das Schnitzel hat Kultstatus, genauso wie die Fußballabende mit Liveübertragung und kühlem Bier.

Optischer Augenschmaus. Wieden war immer schon ein Anziehungspunkt für Kunstschaffende – Richard Strauß wohnte in der Mozartgasse 4, Franz Schubert starb 1828 in der Kettenbrückengasse, Antonio Vivaldi wurde 1741 am Bürgerspital-Gottesacker unweit der heutigen Technischen Universität beigesetzt – daran hat sich in all den Jahren nicht viel geändert. Noch heute werden Kunst und Kultur in Wieden großgeschrieben: sei es im Schikaneder, einem der ältesten Kinos Wiens (Margaretenstraße 22–24), dem Wien Museum (Karlsplatz) oder der Kunsthalle (Treitlstraße 2/Karlsplatz). Aus dem ehemaligen Kunsthallencafé schuf Andreas Wiesmüller mit dem „Heuer am Karlsplatz“ ein junges Szenelokal. Besonderer Blickfang, neben dem Schanigarten, sind die dekorativen Einmachgläser an der Rückwand des Lokals, die nicht nur einen optischen Augenschmaus bieten, sondern zugleich auch als Warenlager für die eingelegten Früchte und Gemüse dienen, die dann später von Haubenkoch Markus Höller zu ansprechenden Speisen weiterverarbeitet werden. Die kreative Küche ist geprägt von ausgesuchten Produkten und bietet wechselnde Gerichte wie etwa einen rosa gebratenen Wienerwald-Rehbock mit Johannisbeer-Schalotten, grünem Spargel und Pilzvinaigrette. Augenfälligste Neuerung sind der neue CasualFine-Dining-Bereich sowie die Small Plates, also mehrere kleine Speisen à la japanische Zensei-Küche.

Der Karlsplatz ist übrigens ein guter Ausgangspunkt, um den 4. Bezirk zu erkunden. So schrieb vor einigen Jahren die Wiener Zeitung: „Wenn man sich’s aussuchen kann, so betrete man die Wieden am besten zu Fuß, vom Karlsplatz herkommend. Der Blick auf die imperiale Karlskirche entschädigt für den Aufwand. Und wer das Pech hat, per Auto von Süden kommend, über den Matzleinsdorfer Platz in den 4. Wiener Gemeindebezirk einzufahren, sei getröstet: So hässlich wie hier ist die Wieden ansonsten nirgendwo mehr.“

Herzlichkeit.

Generationentreff Vollpension. Herrlich unaufgeregt. Mit einer Fläche von 180 Hektar und etwa 33.000 Einwohnern zählt Wieden zu den kleineren der 23 Wiener Gemeindebezirke. Am Karlsplatz grenzt der Bezirk an den ersten, im Norden bildet die Prinz-Eugen-Straße die Grenze zum dritten Bezirk. Im Süden ist man eng mit Margareten verbunden, da diese Stadtteile ursprünglich eine Einheit bildeten.

Auf der Wieden lebt es sich ruhig, unaufgeregt und beschaulich. Kein Wunder, ist die Nachbarschaft doch sehr kosmopolitisch: Bolivarische Republik Venezuela, demokratisch-sozialistische Republik Sri Lanka, Republik Kosovo – die Liste der Botschaften ist lang und das Publikum dementsprechend international. Gepflegtes Weltbürgertum mit einem Kick Lässigkeit ist vorherrschend: Sei es die Beisl- und Kunstszene im Freihausviertel rund

Heuer. Markus Höller und Andreas Wiesmüller.

Kreativ. Vorarlbergerin Jutta Pregenzer entwirft nachhaltige Kleidung.

um die ewig coole Schleifmühlgasse, seien es Erinnerungen an legendäre Abende im Nachtclub Roxy oder der Bio-Laden mit Soja-Latte. Das Angebot für das weltgewandte Publikum mit gehobeneren Ansprüchen stimmt. Und so reihen sich in der Schleifmühlgasse lässige Shops und Restaurants aneinander wie etwa der Pregenzer Fashion Store in der Nr. 4. Seit vielen Jahren entwirft Jutta Pregenzer ihre eigene, fair produzierte Modekollektion aus Naturmaterialien. Aber auch andere Green Fashion Labels sind im Conceptstore zu finden wie Ecoalf, ein spanisches Unternehmen, das kreative Kleidung aus recyclebaren Materialien wie Plastikflaschen, Kaffeepulver und Fischernetzen herstellt. Klare Schnitte und hochwertige Stoffe sind das Credo der Vorarlbergerin. Die Unternehmerin setzt auf kleine Manufakturen und alte Familienbetriebe – viele davon kennt sie persönlich. „Der Konsument muss sich überlegen, ob das so weitergehen kann. Immer mehr, immer billiger, das wird auf dem Rücken von Mensch oder Tier ausgetragen“, unterstreicht Pregenzer die Philosophie ihres Conceptstores.

Kleiderzimmer.

Erbstücke von Opa Walter.

Wenn man sich’s aussuchen kann, so betrete man die Wieden am besten zu Fuß vom Karlsplatz her.

Um Mode dreht es sich auch im Flo in der Schleifmühlgasse 15a. Seit über 40 Jahren betreibt Ingrid Raab einen der besten Vintage-Shops der Welt. „This shop is heaven“, schwärmt der Louis Vuitton City-Guide. Selbst Marc Jacobs shoppte hier und ließ sich für eine seiner Kollektionen inspirieren. Zu finden sind originale Fashion-Sahnestücke und Accessoires aus der Zeit 1880 bis 1980. Echt Vintage eben und nicht retro.

Apropos generationenübergreifend: Auf der anderen Straßenseite (Nr. 16) ist die Vollpension seit vielen Jahren ein Fixpunkt. Was als Pop-up-Konzept zur Adventzeit in der Schneiderei der Gebrüder Stich zwischen Nähmaschinen und Stoffballen 2012 begonnen hatte, wurde zu einem permanenten Social Business, bei dem ältere Menschen für jüngere backen. Ein Generationentreff mit viel Herzlichkeit und Lebensfreude.

Bamboo oder Opas Erbstücke. Gekreuzt wird die Schleifmühlgasse von der Margartenstraße. Im Haus 35 hat sich die ehemalige Lehrerin Sandra Haischberger als Porzellan-Designerin mit ihrem Shop feinedinge etabliert. Grundstoff all ihrer Produkte ist Limoges-Porzellan. Eine Masse, die für Feinheit und Transparenz bekannt ist und sich gut einfärben lässt. Und so fertigt die gebürtige Amstettnerin kunstvolle Vasen, Windlichter und Speiseservice

Inspiration.

Japanisch-peruanische Küche im DiningRuhm.

mit wohlklingenden Namen wie Alice, Bamboo und Ghost.

Vier Häuser weiter zeigt Barbara Lukas im Kleiderzimmer (Margartenstraße 39) lässige europäische Modelabels. Ihr Shop ist gespickt mit Vintagemöbeln – zauberhafte Erbstücke ihres Großvaters Walter. Der Store ist eine Art gemütliches Wohnzimmer, mit dem sich die Immobilienexpertin, nach einer Phase der persönlichen Neuorientierung, einen Lebenstraum erfüllte. Ein liebevoll eingerichteter Shop, in dem das Bild von Großvater Walter seinen Platz auf dem wunderschönen Sideboard bekommen hat. Absolut stimmig und entschleunigend. Es klappert die Mühle. Ein Konzept, das generell sehr gut zur Gemütslage der Wiedener passt, ein Lebensgefühl, in dem sich Graffitis eher im Rahmen von Kunstprojekten finden, denn in Form von wildem SprayVandalismus und man zu jeder Stimmungslage das passende Beisl findet wie etwa die Gin-Bar Wiener Blut des Szenelokalurgesteins Rudi Buzasi (Faulmanngasse 5). Das Getränkeangebot umfasst 120 verschiedene Ginsorten, Weine, Bier, Schampus und viele internationale Spirituosen.

Das DiningRuhm (Lambrechtgasse 9) verfolgt einen modernen Küchenstil, der sich aus japanisch-peruanischen Rezepten zusammensetzt. Marcel Ruhms einzigartige Interpretationen, darunter Sashimi vom Kingfisch mit Jalapeños und Yuzu Soja Sauce, Meeresfische wie der Gelbflossenthunfisch Tataki Style, Grillgerichte wie das österreichische Rib Eye Steak von der Kalbin mit peruanischer Anticucho-Sauce sowie Tullnerfelder Pork Belly mit Spicy Miso Sauce sind auf der Karte zu finden.

Kein Wunder, dass Wieden ein gefragter Wohnbezirk ist. Infrastrukturtechnisch ist die Lage ebenfalls prädestiniert: Der Weg zur Technischen Universität am Karlsplatz ist ein Katzensprung und auch zum Stephansplatz spaziert man bequem in einer halben Stunde. Der U-Bahn-Knotenpunkt Karlsplatz mit der U1/U2/U4 ist ideal, um schnell ans andere Ende von Wien zu fahren. Im Planquadrat von Botschaften, Universität, elitären Schulen wie dem Theresianum, kulturellen Einrichtungen und ansprechendem gastronomischen Angebot und Shops lässt es sich gut leben.

Sogar die Straßennamen klingen charmant: Grün-, Apfel-, Most-, Heumühlgasse, Bärenmühldurchgang – wie aus einem Gedicht von Eichendorff und gleichzeitig eine Remineszenz an längst vergangene Zeiten, in denen in Wiens ältester Vorstadt noch Mühlen klapperten und Obstbäume blühten. Erst durch den Bau von Adelspalästen im 19./20. Jahrhundert kam es zu einem starken Bevölkerungswachstum, das mit einem rasanten Rückgang der Grünflächen einherging. Wieden ist heute einer der am dichtbesiedeltsten Bezirke der Stadt, nur zehn Prozent der Fläche sind grün, und einer der gefragtesten. Keine kafkaeske Verwandlung also, eher das Gegenteil: Eine Transformation zu einem „Kosmos“, der mit urbanem Flair und unaufgeregter Vielfalt überzeugt.

Wieden ist heute einer der am dichtbesiedeltsten Bezirke der Stadt und einer der gefragtesten. Keine kafkaeske Verwandlung also, eher das Gegenteil: Eine Transformation zu einem „Kosmos“, der mit urbanem Flair und unaufgeregter Vielfalt überzeugt.

Hotspots in Wieden, die ebenfalls einen Besuch wert sind

Grace. Der ehemalige Sous-Chef des Steirerecks, Oliver Lucas, führt mit seiner Frau Petra ein Spitzenlokal im Vierten. Das Credo: Eine kleine Karte mit saisonalen Menüs wie Maibock mit weißem Spargel und Maiwipferl oder Saibling mit Karfiol, Curry und Rosinen – dazu biodynamische Weine. Danhausergasse 3

Fruth. Eduard Fruth liegt das Zuckerbacken quasi im Blut. Schon sein Vater war Konditormeister und arbeitete im Sacher, seine Mutter war Französin und schickte ihn nach Paris. Nach Jahren im Ausland, u. a. in Japan, eröffnete der Meister-Patissiere das Fruth. Seither kommen auch Privatkunden in den Genuss seiner Kreationen, wie täglich frisch produzierte Punschkrapfen, Trüffeln, Eclairs, Törtchen, Kekse oder Mousse au Chocolat. Kettenbrückengasse 20

Stattgarten-Eigenbedarf. Im Conceptstore für Küche, Haushalt und Kulinark von Eva Seisser und Christian Jauernik findet sich alles, was gut aussieht, praktisch ist und schmeckt. „Der Begriff Eigenbedarf bezieht sich auf jene Dinge, die man selber schätzt und verwendet. Um diese Idee

Spitzenlokal. Kulinarik at it’s best im Grace.

herum haben wir das Konzept entwickelt“, erklärt Eva Seisser. „Es geht dabei um die Leidenschaft für bestimmte Produkte, deren Herstellung oder Qualität” – wie Steckdosenbürsten, parfümierte Radiergummis oder Spaghettis aus Napoli. Kettenbrückengasse 20

Unikatessen. Eine kleine, feine Auswahl aufstrebender Jung-Designer, einzigartige Vintage-Kreationen sowie ausgefallene Accessoires und Schmuckstücke finden sich bei Daniela Cismigiu, deren Leidenschaft es ist, besondere Unikate aufzuspüren, um sie dann in ihren Shop zu bringen. Margaretenstraße 45

Siebentage. Cleaner Mix aus italienischen, nordischen und auch deutschen Labels. Abgerundet wird das Modesortiment durch feine skandinavische Wohnaccessoires. Schleifmühlgasse 6

Freihausviertel. Der Name „Freihaus“ beruht auf Wiens erster und größter sozialer Wohnanlage, deren Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Hier wurde 1791 Mozarts „Zauberflöte“ im dazugehörigen Theater uraufgeführt. Heute lockt das Grätzel rund um die Schleifmühlgasse mit zahlreichen Restaurants, Design-Shops und Galerien. Für viele ansässige Künstler und Kreative ist es eine Art verlängertes Wohnzimmer.

Karlsplatz. Die Brücke zum 1. Bezirk – hier wird praktisch das ganze Jahr über etwas geboten: Freiluftkino, Popfestival, Weihnachtsmarkt, Wien Museum, Kunsthalle, Karlskirche inklusive Kirchenkonzerte.

Urbanek. Der Stand Nummer 46 am Naschmarkt, genau auf der Grenze zwischen 4. und 6. Bezirk, ist eine Institution, in dem die Brüder Thomas und Daniel Urbanek sowie Papa Gerhard auf 13 Quadratmetern ihr Spezialitätengeschäft unterhalten. Neben der hohen Qualität von Schinken, Roastbeef, Wurst, Käse und Wein ist vor allem der Schmäh der drei legendär. Naschmarkt Stand 46

Blumenkraft. Die Vorarlbergerin Christine Fink zaubert blühende Kunstwerke und Arrangements in einem spätgründerzeitlichen Gebäude mit üppigem Fassadendekor. Atemberaubend schön inszeniert.

Schleifmühlgasse 4. Christiane Schöhl von Norman

Karlsplatz.

Hier ist das ganze Jahr etwas los.

Gin-Bar.

Lokal-Urgestein Rudi Buzasi.

Kunstwerke mit Selfie-Potenzial

Die große Cousine der Guerillakunst oder zu Gast im größten Freilichtmuseum Wiens – prächtige Gemälde auf Hausfassaden erobern die Hauptstadt.

Sie haben die Fähigkeit, die Fantasie zu beflügeln und tauchen an Orten auf, an denen man es am wenigsten erwartet: Wandgemälde, sogenannte Murals, sind der Designtrend in den letzten Jahren und so etwas wie die Cousine der Guerillakunst á la Banksy. Die Strömung ist allerdings nicht grundlegend neu, denn einprägsame Grafiken, die auf öffentliche Oberflächen gekritzelt oder gemalt wurden, machten sich bereits im 1. und 2. Weltkrieg breit wie die berüchtigten „Kilroy Was Here“-Graffitis, die während des 2. Weltkriegs überall auftauchten und mit amerikanischen GIs in Verbindung standen. Sie zeigen einen grob gezeichneten, glatzköpfigen Mann mit einer langen Nase, der über eine Wand späht, so dass nur seine Augen und die Nase sichtbar sind, während die Hände die Oberkante der Wand umklammern. Diese Graffitis waren eine Tradition unter den GIs, die die Kilroy-Zeichnungen an verschiedenen Orten hinterließen, an denen sie dienten. Die Sache mit „Kilroy“ basierte übrigens auf einem früheren Graffiti der Australier, die im 1. Weltkrieg das Konterfei „Foo Was Here“ hinkritzelten.

Die ersten richtigen Graffitis fanden sich den 60er-Jahren in Philadelphia: „Cornbread“ und „Cool Earl“ hinterließen ihre schwarzen Konterfeis, um sich auf öffentlichen Plätzen zu verewigen. In den folgenden Jahren entwickelte sich ein regelrechter Trend, der im New York der 70/80er-Jahre weltweite Beachtung fand und sich von dort zu einer Designbewegung rund um den Globus auswuchs – für viele ist NYC die Wiege der Straßenkunst. Street Art führte zu großflächigen, trotzigen Arbeiten an Hausfassaden und ganzen U-Bahnwagen – wie etwa die Graffitis von Keith Haring, die in den 80er-Jahren für Furore sorgten. Zur gleichen Zeit experimentierten andere Künstler mit verschiedenen Möglichkeiten, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken: Eine didaktische Denkweise, die sich heute zu prächtigen Gemälden auf Hausfassaden ausgewachsen hat. Diese Murals stellen eine besonders auffällige Form der Street Art dar und erstrecken sich oft über komplette Wände, Gebäude, Dächer oder Straßen. Im Gegensatz zu Graffitis (hier stehen nicht unbedingt ästhetische Gesichtspunkte im Vordergrund, sondern es geht um einen möglichst einzigartigen Style, eine spezielle Form der Selbstdarstellung im öffentlichen Raum mit dem Ziel, ein Höchstmaß an Ruhm zu erlangen) handelt es sich bei Murals meist um beauftragte Arbeiten oder freie Werke, die für einen bestimmten Zeitraum oder langfristig den öffentlichen Raum verschönern sollen. Ein charakteristisches Merkmal dieser Kunstform ist, dass die architektonischen Elemente des gegebenen Raumes harmonisch in das Bild integriert werden.

Outdoor Gallery. Zahlreiche kunstvolle Murals sind auch in Wien über die ganze Stadt verteilt – wie das in der Magdalenenstraße 12 (1060 Wien), das von Evoca1, einem dominikanischen Künstler aus Miami, gestaltet wurde: Ein Mann sitzt auf einem kargen Steinblock und schaut auf das Goldfischglas, das er im Arm hält. So schön, dass man stehen bleibt und die Emotionen auf sich wirken lässt.

Murals sind eine auffällige Form der Street Art. Sie erstrecken sich oft über komplette Gebäude.

Freilichtmuseum. In Wien existiert eine lebendige Street-Art-Szene mit zahlreichen Murals: Geborgenheit und Liebe (Kirchengasse 44, 1070 Wien), Künstler Gustav Klimt (Wiedner Hauptstraße 78, 1040 Wien), Alkohol mit Rosen-Gurken-Flavour (Siebensterngasse 32, 1070 Wien), Umweltaktivistin Zinnia Kumar (Pfeilgasse/Ecke Strozzigasse, 1080 Wien).

Oder die Mutter, die sich schützend neben ihr Baby kuschelt (Kirchengasse 44, 1070 Wien) von Künstler David Leitner. So wird ein Spaziergang durch die Viertel zu einem Gang durch ein Freilichtmuseum. Sogar Blogs widmen sich mittlerweile dem Thema und zeigen, wo sich die Kunstwerke befinden. Besonders in Coronazeiten ist es praktisch, dass die Bilder im Freien zu bestaunen sind.

Klar, dass bei so viel Aufmerksamkeit auch die Industrie den Hype für sich entdeckt hat. So überrascht etwa H&M mit einem 400 m² großen handgemalten Artwork-Gemälde und verwandelt gemeinsam mit der Wiener Graffiti Agentur Concrete das Grätzl rund um die Pfeilgasse im 8. Bezirk in eine Outdoor Gallery. Das Motiv stammt aus der aktuellen Spring-Kollektion und zeigt Model und Umweltaktivistin Zinnia Kumar, die sich erfolgreich für nachhaltige Mode einsetzt. „Ziel des Artwork ist es, ihren Spirit auf der Wand festzuhalten“, erklärt Maira Kerschner, Geschäftsleitung Concrete. „Wir wollen mit unseren Arbeiten den öffentlichen Raum bereichern. Daher ist uns die künstlerische Freiheit bei Aufträgen extrem wichtig.“

Sonnenuntergänge sind out. Die Reaktion der Menschen? Immer wieder bleiben Passanten stehen, um das zu tun, was von ihnen erwartet wird: Sie zücken ihr Smartphones und schießen ein Foto, um es dann über die verschiedenen Social-Media-Kanäle wie Instagram & Co in die Welt hinauszusenden – vielleicht sogar als Selfie.

Willkommen im digitalen Zeitalter, in dem sich die internetaffine Generation permanent auf der Suche nach neuen Motiven und Hintergrundkulissen befindet, die zeigen, wie glücklich man doch mit seinem (retuschierten) Ich ist. Klar, Berggipfel, Wasserfälle, Sonnenuntergänge und Sandstrände sind schön anzusehen, aber in Zeiten des Social-Media-Overflows nichts weltbewegend Neues. Die Suche nach einem besonderen Motiv, mit dem man seinen digitalen Auftritt, sein Image kreiert, ist gerade für jüngere Semester zu einem Hype avanciert. Mit ein Grund, warum sich die großformatigen Wandgemälde in den letzten Jahren zum absoluten Trend im urbanen Großraum entwickelt haben. Aber nicht nur, wie Maira Kerschner betont: „Bei Murals spielt der künstlerische Aspekt die tragende Rolle: Es wird ein einzigartiges Werk geschaffen, das nur einmal in dieser Form existiert und nicht eins zu eins replizierbar ist. Bereits der mehrtägige Schaffensprozess ist ein Happening: Die Passanten bleiben stehen und schauen, was in ihrem Grätzl passiert. Internetaffinität und Interesse für Street Art gehen Hand in Hand.“ Fest steht: Murals sind, wenn sie gut gemacht sind, unangepasst, authentisch, provokativ, inspirierend, einzigartig, knallbunt, gerne auch mal gesellschaftskritisch und voller Emotionen. Die Menschen, die Selfies und Bilder davon posten, identifizieren sich damit und wollen im Grunde doch nur eines sagen: Seht her, ich bin genauso einzigartig, authentisch, glücklich, rockig, bunt – und sie verneigen sich vor einer Form der Street-Art, der keiner mehr ernsthaft den Status eines Kunstwerks abspricht. Christiane Schöhl von Norman

Bereicherung. Mural von David Leitner.

Tiefgründig. Das Mural von Evoca1.

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