marie 54/ November 2020

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Klein gegen groß Der Jahrtausende alte Kampf Mensch gegen Virus geht in die nächste Runde. Die Pocken sind die bisher einzige Seuche, die durch Impfung besiegt werden konnte. Jahrhundertelang hatten sich die Menschen mit dem Killervirus arrangiert: Viele waren infiziert, zehn Prozent starben, die anderen hatten eben Glück. Die letzte Pockenepidemie in Österreich gab es 1923 in Vorarlberg.

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Text: Gerhard Thoma, Fotos: Rudy König, Archiv

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er 19. August 1802 ist ein historisches Datum in der Vorarlberger Medizingeschichte: An diesem Tag führte Dr. Johannes Karl Hollenstein in Lustenau die erste Pockenschutzimpfung durch. „Maria Franziska, die Tochter des Adlerwirts Joseph Jussel, war das erste Kind, das er behandelte“, erklärt der Historiker Wolfgang Scheffknecht. „In den folgenden zwei Jahren impfte Hollenstein noch 125 weitere Kinder, wobei er die Methode der so genannten ‚Vaccination‘ verwendete.“ Diese Impfmethode wurde von dem schottischen Arzt Edward Jenner (1749-1823) entwickelt und seit 1798 praktiziert. Der Begriff „Vaccination“ stammt vom Lateinischen „vacca“, die Kuh. Die Immunisierung erfolgt nämlich durch eine künstliche Infektion mit harmlosen Kuhpocken. Die Pocken oder Blattern forderten im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Vorarlberg vor allem unter Kindern zahlreiche Todesopfer; allein in Bludenz und Umgebung starben zwischen 1796 und 1806 83 Personen an dieser Krankheit. Die über den Variolavirus übertragenen Pocken führen nach einer unauffälligen zweiwöchigen Inkubationszeit zu ersten Beschwerden wie Fieber und Kopfschmerz. Wenige Tage später bilden sich Pusteln, die sich rasch über den gesam-

ten Körper ausbreiten und sich mit Eiter füllen. Im Verlaufe weiterer drei Wochen trocknen diese Pusteln allmählich aus und fallen als Borken vom Körper, zurückbleiben können die gefürchteten Pockennarben. „Zu Beginn des 19. Jahrhunderts“, so Scheffknecht, „gab es keine wirksame Therapie; die Infizierten wurden isoliert, ihnen wurde leichte Kost und frische Luft verordnet; ansonsten musste man auf die Selbstheilkräfte des Körpers hoffen.“ Der Konstanzer Arzt Sauter erinnerte sich 1833 an seine Anfangsjahre als Arzt, wie eine Blatternepidemie, die 1795 „allgemein auf der Insel Reichenau verbreitet“ war, einen harmloseren Erscheinungsverlauf entwickelte und ungefähr sechs von 100 Kindern starben. Ein Jahr darauf zeigten die Blattern „aber einen bösartigen Charakter“ und endeten für jedes zehnte Kind tödlich. 1798 bis 1800 traten die Blattern erneut im gesamten Bodenseeraum auf, diesmal jedoch mit solcher Vehemenz und in Verbindung mit anderen Infektionskrankheiten, dass nach den Notizen von Sauter im Durchschnitt jedes dritte bis vierte Kind daran starb. „Es gibt Ortschaften, wo man fast nur noch Erwachsene sieht. Wem der Himmel Kinder geschenkt hatte, konnte sich nie ohne Bangen ihrer freuen; oft waren die Fälle, dass gesegnete Eltern durch eine Blattern-Epidemie kinderlos

wurden“, resümierte ein Redakteur des „Boten für Tirol und Vorarlberg“. Obwohl sich die Impfaktion in Lustenau bewährte – bei der Blatternepidemie des Jahres 1806 erkrankten lediglich drei der geimpften Kinder –, stand die Mehrheit der Bevölkerung dieser medizinischen Kuhpocken-Neuerung skeptisch gegenüber. Hollenstein selbst berichtete, dass er lange gegen heftiges Misstrauen ankämpfen musste und dass ihn der aufgeklärte Lustenauer Pfarrer Franz Joseph Rosenlächer dabei tatkräftig unterstützte. Auch unter Medizinern gab es aufgrund der Forschungslage Meinungsverschiedenheiten. Nebst der neuen Vaccination war da noch die althergebrachte Variolation. Die Variolation bewirkt eine Infektion mit abgeschwächten menschlichen Pockenviren und birgt Risiken in sich: Die Viren können mutieren und so eine Erkrankung auslösen. Die Todesrate durch solche Impfungen lag bei 0,5 bis 3 Prozent – was immer noch besser sei als die Todesrate der natürlichen Pocken mit zehn bis 30 Prozent, so die Befürworter. 1803 wurde die Variolation verboten, nur noch die Vaccination war erlaubt.

Impfgegner kontra Staat

Die ganze Welt wartet auf Impfstoffe gegen das Coronavirus – bis auf die Impfgegner. Ihre Skepsis hat eine lange Tradition. Im Jahr 1800 etwa fand in Wien


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