KULTUR UND FREIZEIT
DRITTE LEBENSPHASE
Zu Hause angekommen Was macht ein Rollstuhlfahrer nach der Pensionierung? Einen Traum verwirklichen für eine selbstständige dritte Lebensphase. Von Gabi Bucher
Peter Gilomen blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Als er vor 57 Jahren durch einen Arbeitsunfall in den Roll stuhl kam, gab es noch kein Paraplegiker-Zentrum. Er ge riet mit 17 Jahren bei der Arbeit unter ein Garagentor. «Ich war eine Weile ohnmächtig, dann legten mich die Kolle gen auf eine Wolldecke und verabreichten mir einen Cognac», erzählt er. Zwei ganze Jahre verbrachte er im Spital Interlaken, dann noch ein paar Monate in der Reha klinik Tobelbad in Österreich. Peter Gilomen gehört zu den Pionieren im Rollstuhl. Er hat nicht nur viel erlebt, er hat auch viel bewegt. Er erinnert sich an die Rennrollstühle und die ersten Langlaufschlitten, die er damals gebaut hat. Viele gute Momente, viele unglaubliche Erinne rungen und ein schönes Leben an der Seite seiner Ehefrau Erika, welche er wäh
rend der zweiten Lehre nach seiner Reha in einem zahn technischen Labor in Thun kennen- und liebenlernte. Schwerer Schlag Und dann, vor fünf Jahren, ver starb Erika. Ihr Tod warf Peter Gilomen aus der Bahn. Er verkaufte das Haus und mietete sich eine Wohnung. «Es ging nicht mehr. Das Haus war zu gross, zu viel Um schwung und überhaupt …», meint er mit einer abwehrenden Handbewegung. Jetzt war niemand mehr da, der ihn unter stützte, moralisch, aber auch ab und zu bei gewissen Handgriffen und Hilfestellun gen, die im Alter schwieriger werden. «Wir waren ein gutes Gespann», sagt er weh mütig.
Es dauerte eine Weile, bis Peter sich wie der fing und sich ein neues Ziel setzte. Er wollte noch einmal etwas bewegen, ein
neues Projekt anfangen. In Innertkirchen im Haslital, dem Dorf, wo er die ersten 17 Jahre seines Lebens verbracht hatte, fand er zentrumsnahe ein Stück Land. Mit sei nem Bauleiter aus Meiringen plante und verwirklichte er ein neues Haus nach sei nen Vorstellungen. «Er ging auf all meine Wünsche und Bedürfnisse ein, das ist nicht selbstverständlich», betont Peter. Absolut rollstuhlgängig sollte es werden, keine Bar rieren, welche ihm das Leben erschweren. Moderne Technologie Ein grosses, helles, geschmackvoll gestalte tes Wohnzimmer folgt auf ein breites En trée. «Ich brauche Platz zum Navigieren», sagt Peter lachend. Die adaptierte Küche ist ausgestattet mit mondernsten Geräten. Als Hobbykoch bereitet er für sich allein auch schon mal einen Dreigänger zu. Der Übergang zur Terrasse ist schwellenfrei mit Schiebefenstern, die er problemlos be dienen kann. Rund ums Haus Steinplat ten, ein Steingarten, ein Hochbeet, eine Blumenwiese, aber kein Rasen. «Ich will so lange wie möglich selbstständig und mit so wenig Aufwand wie möglich hier le ben», erklärt er. Das Haus hat zwar einen oberen Stock, «den habe ich aber nur auf Fotos gesehen. Ich brauche ihn nicht und wollte keinen Lift einbauen müssen. Wer auch immer nach mir hier wohnt, kann diesen nach seinen Vorstellungen ausbau en.» Fotovoltaik und Wärmepumpe fehlen selbstverständlich auch nicht. Zeit für Gemütlichkeit Einleben musste der Luzerner sich nicht in der Gemeinde, er kennt noch den einen oder anderen und den Dialekt beherrscht er, als wäre er nie weg gewesen. «Ennet dem Brünig wechsle ich ins Haslitiitsch», erklärt er. Die Menschen hier seien offen, «und sie haben Zeit. Wenn ich mit dem Swiss-Trac unterwegs bin, kann es vor kommen, dass ein Bauer für einen Schwatz kurz innehält beim Arbeiten.» Alles sei ge mächlicher hier, das komme ihm entgegen. «Ich brauche auch mehr Zeit – jetzt, wo ich älter werde.»
Peter Gilomen hat wieder Fuss gefasst im Leben und freut sich darauf, sein neues Zuhause weiter einzurichten. Das Projekt hat ihm neuen Lebensmut gegeben. Paracontact I Herbst 2021 25